Entscheidungsstichwort (Thema)
Bußgeldverfahren. Rotlichtverstoß. Gefährdung. Hauptverhandlung. Beweisaufnahme. Beweisantrag. Urteil. Rechtsbeschwerde. Rechtsbeschwerdegrund. absolut. Verfahrensrüge. Sachrüge. Verteidigung. notwendig. Pflichtverteidigung. Beiordnung. Bestellung. Pflichtverteidigerbestellung. Wahlverteidiger. Abwesenheit. Ausnahmefall. Analphabet. Analphabetismus. Lesen. Schreiben. unkundig. Aktenkenntnis. Selbstverteidigung. Selbstverteidigungsfähigkeit. Zweifel
Leitsatz (amtlich)
Eine Pflichtverteidigerbestellung in Bußgeldverfahren ist nur in Ausnahmefällen geboten. Einem Analphabeten ist aber für die Hauptverhandlung ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine sachgerechte Verteidigung Aktenkenntnis erfordert oder eine umfangreiche Beweisaufnahme dem Betroffenen Anlass gibt, sich Notizen über den Verhandlungsablauf und den Inhalt von Aussagen zu machen, weil er sie als Gedächtnisstütze benötigt. In diesem Fall liegt nach § 140 Abs. 2 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, weil ersichtlich ist, dass sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann.
Normenkette
OWiG § 46 Abs. 1, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1, Abs. 6, § 80a Abs. 1; StPO § 140 Abs. 2, §§ 141, 338 Nr. 5, § 344 Abs. 2 S. 2, § 353
Verfahrensgang
AG Rosenheim (Entscheidung vom 08.08.2022) |
Tenor
I.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Rosenheim vom 08.08.2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
II.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Rosenheim zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen in der Hauptverhandlung vom 08.08.2022 in seiner Anwesenheit und in Abwesenheit seines Wahlverteidigers mit Urteil vom 08.08.2022 wegen fahrlässiger Missachtung des Rotlichts der Lichtzeichenanlage unter Gefährdung anderer, begangen am 08.01.2022, zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt und ein mit einer Anordnung gemäß § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer eines Monats verhängt. Mit Schriftsatz vom 08.08.2022, eingegangen beim Amtsgericht am selben Tag, hatte der Verteidiger des Betroffenen einen Beweisantrag gestellt und beantragt, wenn das Verfahren nicht eingestellt werden sollte, dem Betroffenen als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden, da der Betroffene nicht lesen und schreiben könne. Mit seiner gegen das Urteil vom 08.08.2022 gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts, insbesondere die Ablehnung des Beweisantrags und die Nichtbeiordnung eines Pflichtverteidigers. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Stellungnahme vom 21.10.2022 beantragt, auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Dazu hat sich der Verteidiger mit Gegenerklärung vom 15.11.2022 geäußert.
II.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat - zumindest vorläufig - Erfolg. Mit der noch hinreichend ausgeführten Verfahrensrüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO wird zu Recht geltend gemacht, dass die Hauptverhandlung ohne Verteidiger durchgeführt wurde, obwohl ein Fall notwendiger Verteidigung vorlag. Eines Eingehens auf die weitere Verfahrensrüge und auf die Sachrüge bedarf es damit nicht mehr.
1. Die Rüge wurde zulässig erhoben. Insbesondere sind die Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG noch ausreichend erfüllt. So wurde in der Rechtsbeschwerdebegründung ausgeführt, dass der Wahlverteidiger des Betroffenen in der Hauptverhandlung abwesend war und durch das Gericht keine Entscheidung über den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers erfolgte, desgleichen welche Verfahrenshandlungen an diesem Tag vorgenommen wurden. Den Grund der Abwesenheit des Wahlverteidigers an diesem Tag musste die Rechtsbeschwerde nicht mitteilen, da er für die Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ohne Belang ist. Aus dem Vortrag der Rechtsbeschwerde ergibt sich zudem noch hinreichend, dass der Betroffene nicht lesen und schreiben kann und dies dem Gericht bekannt war. Für die Prüfung der Verfahrensrüge kann der Senat zudem aufgrund der erhobenen Sachrüge ergänzend auf die Gründe des Urteils zurückgreifen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 344 Rn. 20).
2. Die Rüge hat auch in der Sache Erfolg. Der (absolute) Rechtsbeschwerdegrund nach § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO ist gegeben, da die Hauptverhandlung in Abwesenheit eines Verteidigers stattfand, obwohl ein Fall notwendiger Verteidigung vorlag.
a) Aufgrund der Verweisung des § 46 Abs. 1 OWiG gelten die Vorschriften über die notwendige Verteidigung nach §§ 140, 141 StPO auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren (h.M.; vgl. u.a. Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 140 Rn. 42; KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 71 Rn. 17; Göhler/Seitz/Bauer...