Entscheidungsstichwort (Thema)
Revision. Sachrüge. Berufung. Anklage. Anklageerhebung. Anklageschrift. Anklagevorwurf. Verfahrensvoraussetzung. Verfahrenshindernis. Einstellung. Teileinstellung. Höchstzahl. Mindestzahl. Tatopfer. Rahmen. Tat. Tatserie. Tatgeschehen. Tatzeit. Tatort. Bezeichnung. Identität. Individualisierung. Konkretisierung. Vielzahl. Einzelakt. Gesamtgeschehen. Grundzüge. Misshandlung. Schutzbefohlene. Kinder. Kinderbetreuung. Hochrechnung. Gesamtstrafe. Konkurrenzen
Leitsatz (amtlich)
Eine Anklageschrift muss nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO die zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs feststeht. 2. Ist bei einer Vielzahl von Straftaten im Rahmen einer Tatserie eine Individualisierung nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf nicht möglich, werden die Taten als Verfahrensgegenstand in diesen Fällen durch die Festlegung des zeitlichen Rahmens der Tatserie, die Nennung der Höchstzahl der nach dem Anklagevorwurf innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, die Person des Tatopfers und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bestimmt.
Normenkette
StPO § 200 Abs. 1 S. 1, § 349 Abs. 2, §§ 353, 354 Abs. 2; StGB § 225 Abs. 1 Nr. 3
Tenor
I.
Auf die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts vom 11.12.2020 wird
- das Verfahren eingestellt, soweit die Angeklagte in den Fällen II. 1. bis 26. jeweils wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten der Staatskasse zur Last,
- das vorgenannte Urteil im Schuldspruch dahin geändert, dass die Angeklagte der Misshandlung von Schutzbefohlenen in 3 Fällen schuldig ist,
- im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben; die zugehörigen Feststellungen bleiben aufrechterhalten.
II.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
III.
Die weitergehende Revision der Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht - hat die Angeklagte am 06.12.2019 wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in 5 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die hiergegen von der Angeklagten eingelegte Berufung hat das Landgericht - Jugendkammer als Jugendschutzkammer - mit Urteil vom 11.12.2020 als unbegründet verworfen. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat es die Angeklagte wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in 29 Fällen schuldig gesprochen und gegen sie deswegen eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Gleichzeitig wurde angeordnet, dass 3 Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe wegen "unangemessen langer Verfahrensdauer" als vollstreckt gelten. Gegen das Berufungsurteil wendet sich die Angeklagte mit dem Rechtsmittel der Revision, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt.
II.
Die zulässige Revision der Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet ( § 349 Abs. 2 StPO ).
1. Soweit die Angeklagte in den Fällen II. 1. bis 26. des Berufungsurteils jeweils wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen gemäß § 225 Abs. 1 Nr. 3 StGB verurteilt wurde, fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung einer wirksamen Anklageerhebung, weil diese Fälle von der Anklageschrift vom 14.11.2018 nicht erfasst sind.
a) Eine Anklageschrift muss nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO die zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs dargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen (vgl. nur BGH, Beschl. v. 27.02.2018 - 2 StR 390/17 bei juris m.w.N.). Bei einer Vielzahl von Straftaten im Rahmen einer Tatserie, die häufig erst nach längerer Zeit angezeigt werden, ist eine Individualisierung nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf oftmals nicht möglich. Die Taten als Verfahrensgegenstand werden in diesen Fällen durch die Festlegung des zeitlichen Rahmens der Tatserie, die Nennung der Höchstzahl der nach dem Anklagevorwurf innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, die Person des Tatopfers und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bestimmt (st.Rspr., vgl. nur BGH a.a.O.; Beschl. v. 04.03.2021 - 2 StR 423/20 ; 09.09.2020 - 2 StR 291/20 jew. bei juris; Urt. vom 11.01.1994 - 5 StR 682/93 = BGHSt 40, 44 = MDR 1994, 399 = StV 1994, 226 = BGHR StPO § 200 Abs 1 S 1 Tat 6 = NStZ 1994, 350 = NJW 1994, 2556 = NStZ 1994, 591 und 29.07.1998 - 1 StR 94/98 = BGHSt 44, 153 = StV 1998, 580 = NJW 1998, 3788 = wistra 1998, 357 = StraFo 1999, 16 = BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 15 ).
b) Diesen Anforder...