Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung, Sozialhilfe, Bescheid, Grundsicherung, Leistungen, Erwerbsminderung, Betreuung, Feststellung, Eingliederungshilfe, Verfahren, Wiedereinsetzung, Auslegung, Gesundheitszustand, Staatsanwaltschaft, gerichtliche Entscheidung, Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Feststellung der Rechtswidrigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Ersucht ein Sozialhilfeträger, der dem Betroffenen eines Betreuungsverfahrens Sozialhilfe gewährt, um Amtshilfe durch Übersendung des Jahresberichts, so bedarf es wegen des Gesetzesvorbehalts für Grundrechtseingriffe einer einfachgesetzlichen Vorschrift sowohl für das Amtshilfeersuchen des Trägers der Sozialhilfe als auch für eine dem Ersuchen ganz oder teilweise entsprechende Übermittlung des Jahresberichts (sog. "Doppeltürmodell" im Anschluss an BVerfG, Beschl. v. 24. Januar 2012 - 1 BvR 1299/05 - Bestandsdatenspeicherung, Zuordnung dynamischer IP-Adressen, BVerfGE 130, 151 [184]).
2. Eine Befugnis der Justizverwaltung zur Übermittlung des Jahresberichts im Rahmen der Amtshilfe besteht - wenn keine spezialgesetzlichen Bestimmungen einschlägig sind - im Rahmen der durch die maßgeblichen datenschutzrechtlichen Vorschriften gezogenen Grenzen.
3. Gemäß Art. 5 Abs. 4 Sätze 1 und 2 des Bayerischen Datenschutzgesetzes (BayDSG) trägt die ersuchende öffentliche Stelle die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung, während der ersuchten Stelle regelmäßig lediglich die Prüfung obliegt, ob das Ersuchen im Rahmen der Aufgaben des Empfängers liegt.
4. Die ersuchte Justizbehörde ist jedoch gemäß Art. 5 Abs. 4 Satz 3 BayDSG verpflichtet, selbst in die Prüfung der materiellen Zulässigkeit der Übersendung des Jahresberichts einzutreten, wenn ein besonderer Prüfungsanlass gegeben ist.
5. Ein besonderer Prüfungsanlass in diesem Sinne besteht mit Blick auf die Sensibilität der im Jahresbericht üblicherweise enthaltenen Angaben, zu denen insbesondere Gesundheitsdaten zählen, regelmäßig bereits wegen des Gewichts eines mit der Übermittlung verbundenen Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten.
Verfahrensgang
AG Aschaffenburg (Beschluss vom 20.02.2020; Aktenzeichen 419 XVII 717/03) |
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die Entscheidung des Amtsgerichts Aschaffenburg zum Aktenzeichen 419 XVII 717/03 vom 20. Februar 2020, soweit diese die Übersendung des Jahresberichts der Betreuerin für das Jahr 2019 betroffen hat, rechtswidrig gewesen ist.
2. Im Übrigen wird der Bescheid des Amtsgerichts Aschaffenburg zum Aktenzeichen 419 XVII 717/03 vom 20. Februar 2020 aufgehoben.
3. Der Antragstellerin sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung angefallenen außergerichtlichen Kosten aus der Staatskasse zu erstatten.
4. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
5. Der Geschäftswert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
A. Für die Antragstellerin wird beim Amtsgericht Aschaffenburg - Betreuungsgericht - ein Betreuungsverfahren geführt.
Am 2. Oktober 2019 hat die Betreuerin der Antragstellerin auf einem doppelseitigen Vordruck einen Bericht über die Führung der Betreuung für das Jahr 2019 erstellt, der am 7. Oktober 2019 beim Amtsgericht eingegangen ist. Der Bericht enthält auf der ersten Seite in einem Teil A Angaben zu den persönlichen Verhältnissen der Betroffenen - darunter in Ziffer 3 Angaben zur gesundheitlichen Entwicklung seit dem letzten Bericht - und auf der zweiten Seite im Teil B Angaben zu deren wirtschaftlichen Verhältnissen. Dem Jahresbericht in Ablichtung beigefügt sind ein an die Betreuerin als gesetzliche Vertreterin der Betroffenen gerichteter Bescheid des Bezirks Unterfranken - des weiteren Beteiligten - vom 16. Mai 2019 über die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gemäß §§ 41 ff. SGB XII sowie ein Auszug über ein Konto der Betroffenen bei einer Genossenschaftsbank vom 2. Oktober 2019.
Mit Schreiben ohne Datum, eingegangen am 17. Dezember 2019, hat der weitere Beteiligte dem Amtsgericht zum dortigen Aktenzeichen in Abdruck einen an die Betreuerin als gesetzliche Vertreterin der Betroffenen gerichteten Bescheid vom 6. Dezember 2019 - in dem darauf hingewiesen wird, dass das zuständige Betreuungsgericht einen Abdruck erhalte - über der Betroffenen für das Jahr 2020 zu gewährende Eingliederungshilfe nach §§ 76, 113 SGB IX mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt; in dem Schreiben an das Amtsgericht heißt es weiter:
"Bitte übersenden Sie jeweils einen Abdruck des vom Betreuer zu erstellenden Jahresberichtes."
Mit Verfügung vom 20. Dezember 2019 hat die zuständige Rechtspflegerin das Verfahren der für das Betreuungsverfahren zuständigen Richterin zur Entscheidung über das Ersuchen des weiteren Beteiligten vorgelegt mit dem Hinweis, dass es sich bei dem weiteren Beteiligten nicht um einen Verfahrensbeteiligten handele.
Mit Verfügung vom 6. Februar 2020 ist der Betroffenen und ihrer Betreuerin von der für das Betreuungsverfahren zuständigen Richterin mit...