Leitsatz
Einem an einer seltenen und lebensbedrohlichen Erkrankung leidenden Versicherten darf die Krankenkassen neue, noch nicht zugelassenen Behandlungsmethode in bestimmten Fällen nicht verweigern.
Sachverhalt
Der Versicherte leidet an der Duchenne'schen Muskeldystrophie. Die Krankheit beginnt in jungen Jahren und ist in ihrem Verlauf fortschreitend bei zunehmender Ateminsuffizienz. Mit dem Verlust der Gehfähigkeit ist normalerweise zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr zu rechnen. Die Lebenserwartung ist stark eingeschränkt. Üblicherweise wird nur eine symptomorientierte Behandlung durchgeführt. Bislang gibt es keine wissenschaftlich anerkannte Therapie, die eine Heilung oder eine nachhaltige Verzögerung des Krankheitsverlaufs bewirken kann. Der Versicherte wurde durch einen Arzt mit Thymuspeptiden, Zytoplasma, homöopathischen Mitteln und hochfrequenten Schwingungen behandelt, wobei in zwei Jahren Kosten von ca. 5000 EUR anfielen.
Die Krankenkasse lehnte es ab, die Kosten für die Therapie zu tragen, da ein Erfolg wissenschaftlich nicht nachgewiesen sei. Die hiergegen gerichtete Klage blieb auch beim BSG ohne Erfolg. Die Begründung: Die Leistungspflicht der Krankenkassen für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden bestünde nicht, ehe diese vom zuständigen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen als zweckmäßig anerkannt sind (§ 135 Abs. 1 SGB V).
Die Verfassungsbeschwerde dagegen war erfolgreich. Das BVerfG sah in der Weigerung der Kostenübernahme einen Verstoß gegen das Grundgesetz. Verletzt würden das Grundrechtder allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit dem Sozialstaatsprinzip) und die Schutzpflicht des Staates für das Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Personen, die der gesetzliche Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unterworfen sind, haben für ihre Beiträge Anspruch auf die notwendige Krankheitsbehandlung. Es sei nach dem GG nicht zulässig, dem Versicherten eine noch nicht erprobte Behandlung vorzuenthalten, wenn folgende 3 Voraussetzungen gegeben sind: 1. lebensbedrohliche oder sogar regelmäßig tödliche Erkrankung, 2. schulmedizinische Behandlungsmethoden liegen nicht vor, 3. die Behandlungsmethode verspricht konkrete Aussicht auf Heilung oder Besserung.
Die Entscheidung betrifft eine der zentralen Kontroversen im Sozialrecht seit 1997. Das BSG verfolgt eine Linie, nach der nicht die Sozialgerichte in jedem Einzelfall, sondern der "Bundesausschuss" entscheidet, ob eine neue Behandlungsmethode durch die Kassen zu finanzieren ist. Ohne den grundsätzlichen Streit um diese Frage aufzugreifen, hat das BVerfG für Personen mit lebensbedrohlicher Erkrankung entschieden, dass eine Leistungspflicht der Kassen unter den oben genannten Voraussetzungen besteht.
Link zur Entscheidung
BVerfG, Beschluss v. 6.12.2005, 1 BvR 347/98.