Sarah Kocks, Diana Rjabynina
Rz. 1
Das belgische Gesellschaftsrecht wurde im Jahr 2019 einer grundlegenden Überarbeitung unterzogen. Mit der Gesetzesnovellierung beabsichtigte der Gesetzgeber, Belgien zu einem attraktiven und wettbewerbsfähigen Land für die Niederlassung von inländischen und ausländischen Unternehmen zu machen. Die grundlegenden Ziele des neuen Gesetzbuches sind daher auch die Flexibilisierung, die Modernisierung und die Vereinfachung der gesetzlichen Vorgaben. Die Erreichung dieser Ziele beruht dabei im Wesentlichen auf den folgenden drei Säulen: (1) Abschaffung der Unterscheidung zwischen Handelsgesellschaften und zivilrechtlichen Gesellschaften, (2) Zusammenführung des Gesellschaftsrechts und des Vereins- und Stiftungsrechts in ein einziges Gesetzbuch sowie (3) Reduzierung der belgischen Gesellschaftsformen von 17 auf vier wesentliche Formen (zuzüglich der weiterhin existierenden europäischen Gesellschaftsformen, (internationalen) Vereine und Stiftungen). Am 4.4.2019 wurde das neue Gesetzbuch für Gesellschaften, (internationale) Vereinigungen und Stiftungen (im Folgenden "GGV" genannt) im Belgischen Staatsblatt veröffentlicht; zum 1.5.2019 traten die neuen Regelungen in Kraft. Das GGV ersetzte (1) das Gesellschaftsgesetzbuch, (2) das Gesetz vom 27.6.1921 über die Vereinigungen ohne Gewinnerzielungsabsicht, die Stiftungen und die europäischen politischen Parteien und Stiftungen, (3) das Gesetz vom 31.3.1898 über die Berufsvereine sowie (4) das Gesetz vom 12.7.1989 zur Festlegung verschiedener Maßnahmen zur Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25.7.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung.
Gesellschaften, die nach dem 1.5.2019 nach belgischem Recht gegründet werden, unterliegen automatisch den neuen Bestimmungen des GGV. Auf zu diesem Zeitpunkt bereits bestehende Gesellschaften, (internationale) Vereine und Stiftungen, gelangen die zwingenden Bestimmungen des neuen Gesetzbuches seit dem 1.1.2020 ebenfalls automatisch zur Anwendung.
In Bezug auf die übrigen novellierten Bestimmungen des GGV wird den bestehenden Gesellschaften, (internationalen) Vereinen und Stiftungen, eine Frist bis zum 1.1.2024 eingeräumt, um ihre Satzungen mit den neuen gesetzlichen Vorgaben in Einklang zu bringen. Zudem sind bestehende Gesellschaften, die nach dem 1.5.2019 eine teilweise Satzungsänderung vornehmen möchten (bspw. Verlegung des Gesellschaftssitzes), verpflichtet, die gesamte Satzung an die neuen gesetzlichen Regelungen anzupassen.
Rz. 2
Das neue GGV besteht aus fünf Teilen, die wiederum in sog. Bücher unterteilt sind. Der erste Teil (Bücher 1 bis 3) enthält allgemeine Bestimmungen, die für sämtliche Gesellschaften und juristischen Personen gelten, sofern nicht im zweiten und dritten Teil des Gesetzes, der für bestimmte Gesellschaftsformen gilt (Bücher 4 bis 11), hiervon abgewichen wird. In Teil vier (Bücher 12 bis 14) wird die Umstrukturierung und Umwandlung von Gesellschaften, Vereinen und Stiftungen geregelt. Teil fünf (Bücher 15 bis 18) enthält schließlich Regelungen für die europäischen Rechtsformen, namentlich die Europäische Gesellschaft (SE), die Europäische Genossenschaft (SCE) und die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV).
Abgesehen von einer übersichtlicheren Strukturierung brachte die rezente Gesellschaftsrechtsreform vor allem umfassende inhaltliche Neuerungen mit sich. Zu den wesentlichsten Veränderungen gehört zweifellos die Umbenennung eines Teils der Gesellschaftsformen sowie die ersatzlose Streichung eines anderen Teils der Gesellschaftsformen. So wird nunmehr noch zwischen den folgenden vier Gesellschaftsformen unterschieden:
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Gesellschaft des allgemeinen Rechts ("GaR"; "SDC" auf Französisch; "mts" auf Niederländisch); |
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Gesellschaft mit beschränkter Haftung ("GmbH"; "SRL" auf Französisch; "BV" auf Niederländisch); |
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Genossenschaft ("Gen"; "SC" auf Französisch; "CV" auf Niederländisch); |
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Aktiengesellschaft ("AG"; "SA" auf Französisch; "NV" auf Niederländisch). |
Neben diesen Gesellschaftsformen werden auch einige weniger bekannte Formen beibehalten: die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV), die Europäische Gesellschaft (SE) und die Europäische Genossenschaft (SCE). Da diese Gesellschaftsformen auf europäischen Vorgaben beruhen, waren sie von der belgischen Gesellschaftsrechtsreform ausgenommen.
Weitere wesentliche Neuerungen der Gesetznovellierung betreffen die Umstellung auf die sog. Sitztheorie, die Reduzierung der Anzahl der Strafbestimmungen, die Aufhebung des strikten Zusammenhangs zwischen dem Wert der Einlagen und dem zugehörigen Recht, die Möglichkeit, eigenständig die Übertragbarkeit von Anteilen zu regeln, sowie die Schaffung von mehr Flexibilität bei der Gründung und Organisation der Gesellschaft. Seit der Reform werden Freiberufler als Unternehmer und (internationale) Vereine und Stiftungen als Unternehmen angesehen, wodurch diese (u.a.) den Bestimmungen des belgischen Insolvenzrechts unterliegen. Zu beachten ...