Christoph Weling, Gido Schür
1. Das gesetzliche Erbrecht der Verwandten
a) Einführung
Rz. 36
Im belgischen Erbrecht kann man Verwandte des Erblassers als gesetzliche Erben in vier Klassen einteilen, Art. 4.10 ZGB: Gesetzliche Erben der ersten Klasse sind die Abkömmlinge des Erblassers, die zweite Klasse wird von den Eltern und Geschwistern des Erblassers gebildet (privilegierte Aszendenten und Seitenverwandte), gefolgt von der dritten Klasse, den Verwandten in aufsteigender Linie (nicht privilegierte Aszendenten) und der vierten Klasse, den Verwandten in der Seitenlinie bis zum vierten Grad (nicht privilegierte Seitenverwandte).
Rz. 37
Der Verwandtschaftsgrad ergibt sich aus der Zahl der die Beteiligten vermittelnden Geburten, Art. 4.11 §§ 3–5 ZGB. Personen, die in gerader auf- oder absteigender Linie miteinander verwandt sind, bilden eine Linie. Im Übrigen sind Personen, die einen gemeinsamen Vorfahren haben, in der Seitenlinie miteinander verwandt, Art. 4.11 §§ 1–2 ZGB.
b) Grundsätze zum Verwandtenerbrecht
Rz. 38
Das gesetzliche Erbrecht der Verwandten wird im belgischen Recht nach Maßgabe der folgenden Grundsätze ermittelt:
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Verwandte nachfolgender Klassen sind durch solche einer vorhergehenden Klasse von der Erbfolge ausgeschlossen, Art. 4.16 ff. ZGB. |
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Soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, sind gradmäßig entferntere Verwandte durch gradmäßig nähere Verwandte ausgeschlossen (règle de la proximité), Art. 4.28 ff. ZGB. Sind Verwandte gleichen Grades zur Erbfolge berufen, so erben sie untereinander zu gleichen Teilen. |
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Wenn Aszendenten oder Seitenverwandte (der dritten und vierten Klasse) zur Erbschaft berufen werden, erben Personen aus mehreren Verwandtschaftslinien. In diesen Fällen kommt es für die Aufteilung des Nachlasses auf die verschiedenen Linien nicht auf den Grad der Verwandtschaft an; jede Linie erbt zu gleichen Teilen, Art. 4.28 ff. ZGB. |
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Abkömmlinge eines weggefallenen Erben treten bei gesetzlicher, nicht aber bei gewillkürter Erbfolge (vgl. Rdn 52) an seine Stelle (die sogenannte Erbvertretung oder Substitution), Art. 4.13 ff. ZGB, selbst wenn sie nach der vorstehend dargestellten "règle de la proximité" nicht zur Erbfolge berufen wären. Voraussetzung hierfür war nach dem bis zum 20.1.2013 geltenden belgischen Erbrecht jedoch, dass der Wegfall des ursprünglichen Erben nicht auf einer Ausschlagung beruhte, Art. 787 ZGB, und sowohl der weggefallene Erbe als auch die an seine Stelle tretenden Abkömmlinge erbwürdig und erbfähig waren. Art. 787 fr. ZGB wurde durch Gesetz vom 10.12.2012 aufgehoben und Art. 4.45 bestimmt nunmehr ausdrücklich, dass die Erbvertretung auch im Falle einer Erbausschlagung stattfindet. Auch im Falle der Erbenwürdigkeit des zunächst berufenen Erben ist nach Art. 4.13 in der seit dem 21.1.2013 geltenden Fassung nunmehr die Erbvertretung möglich. Dieser Grundsatz der Erbvertretung gilt uneingeschränkt nur bei Abkömmlingen, Art. 4.14 ZGB, nicht jedoch bei Verwandten in der aufsteigenden Linie, Art. 4.14 ZGB, und in der Seitenlinie nur bei Abkömmlingen von Geschwistern, Onkeln und Tanten des Erblassers, Art. 4.14 ZGB. Ebenso findet Erbvertretung nicht statt zugunsten von Abkömmlingen des Ehepartners. |
c) Ordnung innerhalb der Erbklassen
Rz. 39
Unter Beachtung der vorstehenden Grundsätze gilt für das Erbrecht der Verwandten des Erblassers innerhalb einer Erbklasse Folgendes:
Erste Klasse: Abkömmlinge
Abkömmlinge ersten Grades erben zu gleichen Teilen und nach Köpfen, Art. 4.16 ZGB. Dies gilt für eheliche und – infolge der Reform des belgischen Erbrechts vom 31.3.1987 bzw. 6.6.1987 – auch für nichteheliche Kinder und für Adoptivkinder uneingeschränkt bei der Volladoption. In den Fällen der Einfachadoption hat das adoptierte Kind gem. Art. 4.12 ZGB nur nach dem Adoptierenden (und nicht dessen Aszendenten) ein gesetzliches Erbrecht, wobei es sein gesetzliches Erbrecht zu seinen Blutsverwandten in vollem Umfange behält.
Zweite Klasse: Privilegierte Aszendenten und Seitenverwandte
Ein ohne Abkömmlinge verstorbener Erblasser wird von beiden Elternteilen zur einen Hälfte und zur anderen Hälfte von seinen Geschwistern beerbt. Letztere erben untereinander jeweils zu gleichen Teilen. Leben zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers beide Eltern, hinterlässt er jedoch weder Kinder noch Geschwister oder Abkömmlinge von diesen, so erben beide Elternteile zu gleichen Teilen. Gelangt nur ein Elternteil zur Erbfolge, so erbt dieser zu ¼ und die Geschwister zu ¾ Anteil, untereinander wiederum zu gleichen Teilen. Leben beide Elternteile zum Zeitpunkt des Erbfalls nicht mehr, so erben die Geschwister zu gleichen Teilen, vgl. Art. 4.26 ff. ZGB.
Dritte Klasse: Nicht privilegierte Aszendenten
Verstirbt der Erblasser ohne Hinterlassung von Abkömmlingen, Geschwistern oder Abkö...