1. Vorspruch
1.1. Der Rechtsanwalt in der Gesellschaft
In einer auf die Achtung des Rechtes gegründeten Gesellschaft hat der Rechtsanwalt eine besonders wichtige Funktion. Seine Aufgabe beschränkt sich nicht auf die gewissenhafte Ausführung eines Auftrages im Rahmen des Gesetzes. Der Rechtsanwalt hat dafür Sorge zu tragen, dass sowohl der Rechtsstaat als auch die Interessen des Rechtsuchenden, dessen Rechte und Freiheiten er vertritt, gewahrt werden. Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, nicht nur für die Sache seines Mandanten einzutreten, sondern auch der Berater seines Mandanten zu sein. Die Achtung der mit dem Rechtsanwaltsberuf verbundenen Funktion ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen Rechtsstaat und eine demokratische Gesellschaft.
Bei der Ausführung seines Auftrages unterliegt der Rechtsanwalt daher zahlreichen gesetzlichen und berufsrechtlichen Pflichten, (die zum Teil zueinander in Widerspruch zu stehen scheinen), gegenüber:
- dem Mandanten,
- Gerichten und Behörden, denen gegenüber der Rechtsanwalt seinem Mandanten beisteht und ihn vertritt,
- seinem Berufsstand im Allgemeinen und jedem Kollegen im Besonderen,
- der Gesellschaft, für die ein freier, unabhängiger und durch sich selbst auferlegte Regeln integerer Berufsstand ein wesentliches Mittel zur Verteidigung der Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat und gegenüber Interessengruppen ist.
1.2. Gegenstand des Berufsrechtes
1.2.1.
Die freiwillige Unterwerfung unter die Berufsregeln all jener, auf die diese Anwendung finden, dient dem Zweck, die ordnungsgemäße Wahrnehmung seiner für die Gemeinschaft unerlässlichen Aufgaben durch den Rechtsanwalt sicherzustellen. Beachtet der Rechtsanwalt die Berufsregeln nicht, kann dies schließlich zu Disziplinarmaßnahmen führen.
1.2.2.
Jede Anwaltschaft hat eigene auf ihrer besonderen Tradition beruhende Regeln. Diese entsprechen der Organisation des Berufsstandes und dem anwaltlichen Tätigkeitsbereich, dem Verfahren vor den Gerichten und Behörden sowie den Gesetzen des betreffenden Mitgliedstaates. Es ist weder möglich noch wünschenswert, sie aus diesem Zusammenhang herauszureißen oder Regeln zu verallgemeinern, die dafür nicht geeignet sind. Die einzelnen Berufsregeln jeder Anwaltschaft beruhen jedoch auf den gleichen Grundwerten und sind ganz überwiegend Ausdruck einer gemeinsamen Grundüberzeugung.
1.3. Ziel und Zweck der Europäischen Berufsregeln
1.3.1.
Durch die Entwicklung der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraumes und die im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraumes immer stärker werdende grenzüberschreitende Tätigkeit des Rechtsanwaltes ist es im Interesse der Rechtsuchenden notwendig geworden, für diese grenzüberschreitende Tätigkeit einheitliche, auf jeden Rechtsanwalt des Europäischen Wirtschaftsraumes anwendbare Regeln festzulegen, unabhängig davon, welcher Anwaltschaft der Rechtsanwalt angehört. Die Aufstellung solcher Berufsregeln hat insbesondere zum Ziel, die sich aus der konkurrierenden Anwendung mehrerer Berufsrechte - die insbesondere in den Artikeln 4 und 7.2 der Richtlinie Nr. 77/249/EWG sowie in den Artikeln 6 und 7 der Richtlinie Nr. 98/5/EG vorgesehen ist - ergebenden Schwierigkeiten zu verringern.
1.3.2.
Die im CCBE zusammengeschlossenen, den anwaltlichen Berufsstand repräsentierenden Organisationen sprechen den Wunsch aus, dass die nachstehenden Berufsregeln
- bereits jetzt als Ausdruck der Übereinkunft aller Anwaltschaften der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraumes anerkannt werden,
- in kürzester Zeit durch nationales und/oder EWR - Recht für die grenzüberschreitende Tätigkeit des Rechtsanwaltes in der Europäischen Union und dem Europäischen Wirtschaftsraum verbindlich erklärt werden,
- bei jeder Reform des nationalen Berufsrechtes im Hinblick auf dessen allmähliche Harmonisierung berücksichtigt werden.
Sie verbinden damit weiter den Wunsch, dass die nationalen Berufsregeln soweit wie möglich in einer Weise ausgelegt und angewendet werden, die mit den Europäischen Berufsregeln in Einklang steht.
Wenn die Europäischen Berufsregeln hinsichtlich der grenzüberschreitenden anwaltlichen Tätigkeit verbindlich geworden sind, untersteht der Rechtsanwalt weiter den Berufsregeln der Anwaltschaft, der er angehört, soweit diese zu den Europäischen Berufsregeln nicht in Widerspruch stehen.
1.4. Persönlicher Anwendungsbereich
Die nachstehenden Berufsregeln sind auf alle Rechtsanwälte im Sinne der Richtlinie Nr. 77/249/EWG und der Richtlinie Nr. 98/5/EG sowie auf die Rechtsanwälte in den CCBE-Mitgliedsländern mit Beobachterstatus anwendbar.
1.5. Sachlicher Anwendungsbereich
Unbeschadet des Zieles einer allmählichen Vereinheitlichung des innerstaatlich geltenden Berufsrechtes sind die nachstehenden Berufsregeln auf die grenzüberschreitende Tätigkeit des Rechtsanwaltes innerhalb der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraumes anwendbar. Als grenzüberschreitende Tätigkeit gilt:
a) |
jede Tätigkeit gegenüber Rechtsanwälten anderer Mitgliedstaaten anlässlich anwaltlicher Berufsausübung, |
b) |
die berufliche Tätigkeit eines Rechtsanwaltes in einem anderen Mitgliedstaat, gleichgültig ob er dort anwesend ist oder nicht. |
1.6. Definitionen
Für die nachstehenden Berufsregeln haben folgende Ausdrücke folg...