Leitsatz (amtlich)
Das FA kann gegen das Urteil des FG auch dann Revision einlegen, wenn das Urteil zwar den vom FA beim FG gemachten Ausführungen oder seinen Anträgen entspricht, der Verwaltungsakt des FA aber nicht in vollem Umfang vom FG bestätigt wurde.
Normenkette
FGO § 11 Abs. 4, § 115
Tatbestand
I. Sachverhalt
1. Die Revisionsklägerin (Steuerpflichtige) gewährte in den Jahren 1955 und 1956 einem Teil ihrer Arbeitnehmer Tantieme-Zusagen und behandelte diese in voller Höhe als Verpflichtungen dieser Jahre. Das FA war der Auffassung, daß diese Zusagen allenfalls als Pensionsanwartschaften durch Rückstellungen nach § 6a EStG berücksichtigt werden könnten und sie daher nach versicherungsmathematischen Grundsätzen gleichmäßig auf die Zeit von der Zusage bis zum vorgesehenen Eintritt des Versorgungsfalles zu verteilen seien. Das FG gab der Steuerpflichtigen zum Teil recht; denn es erkannte die Zusagen als echte Verbindlichkeiten an, für die eine Rückstellung in der Bilanz vorgenommen werden könne, allerdings nicht in Höhe des Nennwerts, sondern nur in Höhe des Teilwerts, bei dessen Ermittlung zu berücksichtigen sei, daß die Beträge der Steuerpflichtigen noch für längere Zeit unverzinslich zur Verfügung ständen. Die Auffassung des FA, die Tantieme-Zusagen seien wie echte Pensionszusagen zu behandeln, lehnte das FG ab. Der BFH bestätigte die Entscheidung des FG durch das Urteil VI 262/63 U vom 3. Juli 1964 (BFH 81, 225, BStBl III 1965, 83).
2. Ende 1957 gab die Steuerpflichtige ihren Arbeitnehmern in gleicher Weise Tantieme-Zusagen wie für die Jahre 1955 und 1956. Das FA versagte wiederum jegliche Berücksichtigung und wies auch den Einspruch der Steuerpflichtigen zurück, weil die Tantieme-Zusagen als schwebende Geschäfte zu behandeln seien und diese nach kaufmännischen Grundsätzen in der Bilanz nicht auszuweisen seien. Auf die etwaige Anwendung des § 6a EStG ging das FA nicht ein.
Die Steuerpflichtige begehrte mit ihrer noch vor dem Inkrafttreten der FGO eingelegten Berufung beim FG weiterhin die volle Berücksichtigung der Tantieme-Zusagen. Das FA vertrat nunmehr die Auffassung, die zum 31. Dezember 1957 zugesagten Tantiemen müßten entsprechend dem BFH-Urteil VI 262/63 U (a. a. O.) bewertet also abgezinst werden. In der mündlichen Verhandlung beim FG beantragte es, die Berufung der Steuerpflichtigen "als teilweise unbegründet zurückzuweisen" und hilfsweise, "die Rückstellung nach § 6a EStG nach versicherungsmathematischen Grundsätzen zu berechnen". Das FG hob die Einspruchsentscheidung auf und entschied, daß die Tantieme-Zusagen ebenso zu bewerten seien wie die für 1955 und für 1956, also mit dem Teilwert.
3. Das FA hat gegen diese Entscheidung des FG Revision eingelegt und beantragt, "unter Abänderung des Urteils des FG die beantragten Rückstellungen nach versicherungsmathematischen Grundsätzen im Sinn des § 6a EStG zuzulassen". In der Begründung der Revision hat das FA insbesondere ausgeführt, daß der BFH zwar im Urteil VI 262/63 U (a. a. O.) die Anwendung des § 6a EStG auf die strittigen Tantieme-Zusagen abgelehnt habe, daß aber nach erneuter Prüfung hiergegen Bedenken beständen.
Die Steuerpflichtige hat beantragt, die Revision des FA als unzulässig zu verwerfen, da das FA nicht beschwert sei; denn das FG habe dem Antrag des FA entsprochen. Hilfsweise beantragt die Steuerpflichtige, die Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen.
4. Der BdF ist dem Verfahren beigetreten. Er ist der Auffassung, daß das FA ohne Rücksicht auf die von ihm beim FG gestellten Anträge beschwert sei, wenn das FG eine Entscheidung treffe, die es benachteilige. Jede Entscheidung, durch die der Verwaltungsakt des FA aufgehoben oder geändert werde, stelle eine Benachteiligung des FA dar. Auf die Anträge des FA komme es nicht an, weil das FG nach § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO nur an das Begehren des Klägers gebunden sei und nur über dieses entscheide. Das FA könne ein FG-Urteil deshalb auch dann mit der Revision anfechten, wenn es beim FG überhaupt keinen Antrag gestellt habe. Diese Auffassung entspreche der Rechtsprechung des BGH, insbesondere dessen Urteil IV ZR 238/54 vom 5. Januar 1955 (NJW 1955, 545). Aber selbst wenn es auf eine Beschwer des FA ankomme, sei dieses im Streitfall beschwert; denn die vom FA beim FG gestellten Anträge bedürften der Auslegung, da nicht über die einzelnen Besteuerungsgrundlagen, sondern über die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts zu entscheiden sei. Die Ausführungen des FA seien nur als Anregung an das FG zu werten. Das Begehren des FA sei darauf gerichtet gewesen, seinen Verwaltungsakt im höchstmöglichen Umfang aufrechtzuerhalten und alle seine Ausführungen seien als auf dieses Ziel gerichtet zu sehen.
II. Vorlagebeschluß des VI. Senats
Der VI. Senat ist der Auffassung, daß das FA im finanzgerichtlichen Verfahren einen Hauptantrag und einen Hilfsantrag gestellt habe. Der Hauptantrag sei dahin zu verstehen gewesen, daß es begehrt habe, dem Steuerpflichtigen eine dem BFH-Urteil VI 262/63 U (a. a. O.) entsprechende Berücksichtigung der Tantieme-Zusagen mit dem abgezinsten Betrag zuzugestehen. Der Hilfsantrag sei darauf gerichtet gewesen, die auf Grund der Tantieme-Zusagen in Betracht kommende Rückstellung nach § 6a EStG zu berechnen. Das FG sei dem vom FA in seinem Hauptantrag bekundeten Willen gefolgt, der Steuerpflichtigen eine dem Urteil VI 262/63 U entsprechende Berücksichtigung der Tantieme-Zusagen zuzubilligen. Für eine Entscheidung über den ausdrücklich hilfsweise gestellten Antrag sei bei dieser Sachlage kein Raum mehr gewesen.
Eine gerichtliche Entscheidung könne nach einhelliger Ansicht in Rechtsprechung und Rechtslehre nur dann angefochten werden, wenn der Rechtsmittelführer durch sie beschwert sei. Die Frage nach der Beschwer könne allerdings formell oder materiell aufgefaßt werden. Formell beschwert sei ein Rechtsmittelführer, wenn die Entscheidung nicht dem entspreche, was er durch seine Anträge oder sonstige Willensbekundungen in der Vorinstanz begehrt habe. Eine materielle Beschwer liege vor, wenn die Entscheidung dem Rechtsmittelführer nachteilig sei. Zur Frage der Beschwer bei der Einlegung eines Rechtsmittels durch das beklagte FA liege noch keine Entscheidung vor. Der vorliegende Fall gebe Veranlassung zur Prüfung, ob im finanzgerichtlichen Verfahren die Zulässigkeit der vom FA eingelegten Revision von einer formellen oder einer materiellen Beschwer des FA abhänge.
Der VI. Senat des BFH hat deshalb den Großen Senat durch Beschluß vom 24. April 1970 gemäß § 11 Abs. 4 FGO zur Entscheidung darüber angerufen, ob das FA durch eine Entscheidung des FG beschwert ist, wenn es diese Entscheidung selbst durch seinen Antrag oder durch eine sonstige Willensbekundung begehrt hat.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
1. Zulässigkeit der Anrufung des Großen Senats.
Das FA hat im Verfahren beim FG in erster Linie die Berücksichtigung der streitigen Pensionszusagen gemäß dem BFH-Urteil VI 262/63 U (a. a. O.) beantragt und hilfsweise eine Berechnung der Rückstellung nach § 6a EStG. Ob diese Antragstellung sinnvoll war, ob der sogenannte Hilfsantrag nicht etwa weiterging als der Hauptantrag und deshalb über ihn in erster Linie zu entscheiden gewesen wäre oder ob angesichts der beiden Anträge vom FG eine Klarstellung veranlaßt gewesen wäre, hat der Große Senat bei der vorliegenden Anrufung nicht zu beurteilen. Das ist Aufgabe des zur Sachentscheidung berufenen Senats. Für die Entscheidung des Großen Senats kommt es allein darauf an, ob der anrufende Senat die Entscheidung einer Rechtsfrage zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsauffassung für erforderlich hält und ob die Klärung dieser Frage für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits erheblich ist (Beschluß des Großen Senats des BFH Gr. S. 3/66 vom 17. Juli 1967, BFH 91, 213, BStBl II 1968, 285).
Der VI. Senat hat in der Begründung des Anrufungsbeschlusses ausgeführt, daß die Zulässigkeit der Revision des FA im Streitfall davon abhängt, ob eine formelle oder eine materielle Beschwer Zulässigkeitsvoraussetzung für die Revision des FA ist. Gegen diese Auffassung bestehen nach der vom FG getroffenen Entscheidung keine Bedenken. In dem Anrufungsbeschluß wurde außerdem dargetan, daß die den Gegenstand der Anrufung bildende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist und daß ihre Entscheidung der Fortbildung des Rechts und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dient; denn die Frage, ob die Zulässigkeit der Revision des beklagten FA in einem Steuerprozeß von einer formellen oder einer materiellen Beschwer abhängt, wurde bisher noch nicht entschieden.
Nach der durch die Errichtung des VIII. Senats bedingten Änderung der Geschäftsverteilung des BFH ist nunmehr der I. Senat zur Sachentscheidung des Rechtsstreits zuständig geworden. Er hat den Anrufungsbeschluß des VI. Senats nicht zurückgenommen und durch die Entsendung eines zusätzlichen Richters in den Großen Senat gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 FGO sich den Inhalt des Anrufungsbeschlusses des VI. Senats zu eigen gemacht. Gegen die Zulässigkeit der Anrufung des Großen Senats bestehen bei dieser Sachlage keine Bedenken.
2. Zur Frage der Beschwer bei einer Revision des beklagten FA.
a) Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Revision ist u. a. , daß der Rechtsmittelführer durch die von ihm angefochtene Entscheidung beschwert ist. Das ist für das ganze Prozeßrecht unstreitig. Denn wenn ein Prozeßbeteiligter in vollem Umfang obgesiegt hat, kann er kein berechtigtes Interesse an einer nochmaligen Entscheidung des Rechtsstreits durch ein Rechtsmittelgericht haben. Es fehlt dann an einem Rechtsschutzbedürfnis und das Rechtsmittel ist unzulässig. Keine Einigkeit besteht dagegen darüber, was unter einer Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung zu verstehen ist, ob nämlich eine materielle oder eine formelle Beschwer erforderlich ist. Als materielle Beschwer ist es - wie im Anrufungsbeschluß zutreffend ausgeführt wurde - anzusehen, wenn die angefochtene Entscheidung für den Rechtsmittelführer nachteilig ist und wenn er durch sein Rechtsmittel eine für ihn günstigere Entscheidung herbeiführen möchte. Formell beschwert ist ein Rechtsmittelführer dann, wenn seinem Begehren in der angefochtenen Entscheidung nicht voll entsprochen wurde.
b) Im Zivilprozeßrecht hängt die Zulässigkeit eines Rechtsmittels des Klägers nach der herrschenden Meinung davon ab, ob er formell beschwert ist (z. B. Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Auflage, II. Bd., Anm. II zu § 511; Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 10. Auflage, S. 708; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 30. Auflage, Grundzüge 3 A vor § 511). Umstritten ist dagegen, ob eine formelle Beschwer auch Voraussetzung für die Zulässigkeit des Rechtsmittels des Beklagten ist. Von den Vertretern der Auffassung, daß auch der Beklagte formell beschwert sein müsse, wird im Zivilprozeßrecht insbesondere angeführt, daß eine unterschiedliche Behandlung des Klägers und des Beklagten gegen den Grundsatz verstoße, daß in kontradiktorischen Verfahren beide Parteien gleichbehandelt werden müßten. Außerdem wird für diese Auffassung angeführt, daß notwendigerweise in jeder Entscheidung auch über den Antrag des Beklagten mitentschieden werde (z. B. Rosenberg-Schwab, a. a. O.; Lent, Juristenzeitung 1953 S. 276 - JZ 1953, 276 -; Baur, Festschrift für Lent 1957 S. 1; Brox, Zeitschrift für Zivilprozeß 1968 S. 379).
Der BGH vertritt demgegenüber in den Urteilen IV ZR 112/52 vom 13. November 1952 (JZ 1953, 276) und IV ZR 238/54 (a. a. O.) die Auffassung, daß eine Beschwer des Beklagten dann vorliege, wenn die Entscheidung für ihn nachteilig sei und er mit seinem Rechtsmittel eine für sich günstigere Entscheidung zu erreichen versuche. Danach genügt es für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels des Beklagten, wenn dieser materiell beschwert ist, und zwar gleichgültig, ob die angefochtene Entscheidung gegen seinen Antrag oder sogar nach demselben ausgefallen ist (ebenso z. B. Stein-Jonas-Schönke, a. a. O.; Baumbach-Lauterbach, a. a. O.; Ascher, Monatsschrift für Deutsches Recht 1953 S. 584; Nicolini, NJW 1955, 615; Habscheid, NJW 1964, 234). Rosenberg-Schwab (a. a. O.) wollen eine materielle Beschwer beim Beklagten nur dann als ausreichend für die Zulässigkeit des Rechtsmittels ansehen, wenn der Beklagte in dem Verfahren, in dem das von ihm angefochtene Urteil ergangen ist, keine Anträge gestellt hat.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Frage, ob die Zulässigkeit eines Rechtsmittels des Beklagten im Zivilprozeß von einer formellen oder einer materiellen Beschwer abhängt, nicht einheitlich beantwortet wird.
c) Aus den im Zivilprozeßrecht entwickelten Gesichtspunkten zur Frage der formellen oder materiellen Beschwer können keine entscheidenden Folgerungen für die Beurteilung der den Gegenstand der Anrufung bildenden Frage gezogen werden; denn die rechtliche Situation ist im Steuerprozeß grundlegend verschieden von der im Zivilprozeß. Während im Zivilprozeßrecht der Ausgangspunkt für beide Prozeßparteien gleich ist, hat das FA durch die Festsetzung und Anforderung der Steuer im Steuerbescheid von vornherein einen Vollstreckungstitel, gegen den der Steuerpflichtige mit seiner Klage angehen muß. Er befindet sich also im Angriff gegen das im Vorverfahren überlegene FA. Die im Zivilprozeß völlig gleiche Stellung der Prozeßparteien wird auch durch die Verhandlungsmaxime betont, nach der das Gericht allein das Parteivorbringen beider Parteien zur Grundlage seiner Entscheidung machen darf. Dem Vorbringen des Beklagten und seinen Anträgen kommt dabei die gleiche Bedeutung zu wie denen des Klägers. Im Steuerprozeß haben dagegen die Steuergerichte den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 76 FGO).
Das Gericht ist im Zivilprozeß nach § 308 ZPO an die Anträge der Parteien gebunden. Es braucht hier nicht entschieden zu werden, ob der Antrag des Beklagten im Zivilprozeß die gleiche Bedeutung hat wie der des Klägers. Im Steuerprozeß ist dagegen nur das Klagebegehren des Klägers für den Prozeß bestimmend. Wenn es in § 96 FGO auch heißt, daß das FG an "die Anträge" nicht gebunden ist, so kann das nur auf den Kläger bezogen sein, der ja mehrere Anträge oder Hilfsanträge stellen kann. Das, was das FA vom Steuerpflichtigen begehrt, ergibt sich aus dem angefochtenen Verwaltungsakt, den es - wenn es ihn nicht mehr für gerechtfertigt hält - durch einen anderen ersetzen kann, der dann auf Antrag des Klägers nach § 68 FGO Gegenstand des steuergerichtlichen Verfahrens wird. Außer dieser Möglichkeit enthält die FGO keine Vorschriften über die Stellung und das Verhalten des FA im steuergerichtlichen Verfahren. Das FA kann also im Verfahren vor dem FG völlig untätig bleiben und ist nicht verpflichtet, Anträge zu stellen. Der BdF geht daher in seiner Stellungnahme zutreffend davon aus, daß unter "Anträgen" im Sinn des § 96 FGO nur solche des Klägers zu verstehen sind.
Angesichts dieser unterschiedlichen rechtlichen Situation kann den im Zivilprozeß entwickelten Auffassungen über die formelle oder materielle Beschwer des Beklagten für die Beurteilung dieser Frage im Steuerprozeß keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden (vgl. v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, vor §§ 115 bis 127 FGO, Bem. 7).
d) Im Schrifttum zur VwGO wird die Frage, ob eine materielle oder eine formelle Beschwer Zulässigkeitsvoraussetzung für ein Rechtsmittel des Beklagten ist, entweder überhaupt nicht oder nur kurz und ohne nähere Begründung unter Hinweis auf das Zivilprozeßrecht behandelt (vgl. Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 5. Aufl. 1971, § 124 Bem. 4; Redeckervon Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. 1971, § 124 Bem. 4; Schunck-de Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 2. Aufl. 1967, § 146 Bem. 4; Klinger, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. 1964, Einführung vor § 124 A V., S. 570). Ule (Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 1962, zu § 124 I 1) führt jedoch aus, daß der Vertreter des öffentlichen Interesses auch beschwert ist, wenn das von ihm angeführte Urteil seiner eigenen bisherigen Stellungnahme entspricht, weil seine Bindung an das öffentliche Interesse über dieser Stellungnahme stehen müsse. Er verweist zur Begründung auf das Urteil des BVerwG II C 167.57 vom 11. September 1958 BVerwGE 7, 226), in dem diese Auffassung ebenfalls vertreten wird.
e) Ob die Revision des beklagten FA im Steuerprozeß davon abhängt, daß das FA durch das Urteil des FG formell oder materiell beschwert ist, kann allein nach den Grundsätzen beurteilt werden, die das steuergerichtliche Verfahren nach der FGO bestimmen. Ausgangspunkt für die Entscheidung dieser Rechtsfrage muß die Feststellung sein, welche Bedeutung dem Vorbringen und vor allem den Anträgen der Prozeßparteien in diesem Verfahren zukommt. Mit dieser Frage hat sich der Große Senat bereits in dem Beschluß Gr. S. 1/66 vom 17. Juli 1967 (BFH 91, 393, BStBl II 1968, 344) bei seiner Entscheidung über den Begriff des Streitgegenstandes befaßt. Danach ist für das steuergerichtliche Verfahren Streitgegenstand die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts des FA. Das bedeutet, daß der Steuerpflichtige mit seiner Klage den Streitgegenstand bestimmt und durch den Klageantrag abgrenzt (§ 96 Abs. 1 FGO). Das beklagte FA hat im Vorverfahren den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen und dieses Verfahren eindeutig beherrscht. Im steuergerichtlichen Verfahren hat es jedoch keinen Einfluß mehr auf die Bestimmung des Streitgegenstandes. Es kann lediglich die Angriffe des Klägers gegen den Verwaltungsakt abwehren. In welcher Weise es dies tut, ist ihm überlassen. Prozessual ist es nicht wesentlich, ob es umfangreiche Sach- und Rechtsausführungen macht und welche Anträge es stellt oder ob es sich überhaupt nicht gegen die Ausführungen des Klägers wendet. Selbst ein völliges Schweigen des FA ist nicht als Anerkenntnis mit der Folge zu werten, daß der Klage vom FG stattzugeben ist. Das FG wird zwar unter Umständen aus dem Schweigen oder der Einlassung des FA Folgerungen ziehen. Aber die Ausführungen und ein etwaiges Schweigen des FA entbinden das FG nicht von der Verpflichtung zur Prüfung der Sach- und Rechtslage von Amts wegen. Ebenso wie die Ausführungen des FA zur Sache haben auch seine Anträge, selbst wenn sie auf Klageabweisung gerichtet sind, lediglich die Bedeutung einer Anregung an das FG, bei der Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts auf diesen oder jenen Gesichtspunkt besonderen Wert zu legen.
Die Aufgabe des FA im finanzgerichtlichen Verfahren ist, die durch den angefochtenen Verwaltungsakt im öffentlichen Interesse festgelegte Position zu verteidigen. Wenn es - wie oben dargelegt - auf die Abgrenzung des Streitgegenstands im gerichtlichen Verfahren keinen bestimmenden Einfluß nehmen kann, so bedeutet die ihm obliegende Aufgabe der Verteidigung, daß ihm alle vertretbaren Möglichkeiten dazu eröffnet werden. Diesem Ziel dient z. B. auch die Möglichkeit des Beitritts des BdF zum Verfahren nach § 122 Abs. 2 FGO.
Bei der Aufgabe der Verteidigung des erlassenen Verwaltungsakts kann es für die Zulässigkeit der Revision des FA gegen ein Urteil des FG nicht darauf ankommen, ob und mit welchen Ausführungen und Anträgen es seinen Verwaltungsakt im Verfahren beim FG verteidigt hat. Es hat die Interessen der Allgemeinheit wahrzunehmen und muß jede Möglichkeit ausnutzen können, hinsichtlich des umstrittenen Verwaltungsakts eine dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung entsprechende Entscheidung herbeiführen zu helfen. Dazu muß das FA die Möglichkeit haben, gegen ein Urteil des FG auch dann Revision einzulegen, wenn es auf Grund besserer Erkenntnis seine Einlassung beim FG nicht mehr für richtig hält und deshalb durch die Einlegung der Revision eine durch das Urteil des FG eingetretene Verschlechterung der materiellen Rechtslage hinsichtlich des angefochtenen Verwaltungsakts wieder rückgängig machen möchte. Letzten Endes muß also die Wahrnehmung der öffentlichen Interessen durch das FA dazu führen, daß jede durch ein FG-Urteil eingetretene materielle Verschlechterung der Rechtslage hinsichtlich des Verwaltungsakts das FA zur Einlegung der Revision gegen das FG-Urteil berechtigt (so auch Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 115 Bem. 6 b).
Diese Beurteilung steht in Einklang mit den beiden BGH-Urteilen IV ZR 112/52 und IV ZR 238/54 (a. a. O.), die beide Ehescheidungsklagen zum Gegenstand hatten und bei denen als Statusklagen das öffentliche Interesse von größerer Bedeutung war als bei anderen Zivilprozessen, wie der BGH in beiden Urteilen ausdrücklich betont hat. Für diese Auffassung spricht ebenso das BVerwG-Urteil II C 167.57 (a. a. O.), das die Revision des Vertreters des öffentlichen Interesses ohne Rücksicht auf die frühere Stellungnahme der beklagten Behörde in der Vorinstanz bei materieller Beschwer für zulässig erklärt hat.
Die im Anrufungsbeschluß gestellte Frage ist daher dahin zu beantworten, daß das FA im Streitfall Revision einlegen konnte, weil das FG den vom Steuerpflichtigen angefochtenen Verwaltungsakt nicht in vollem Umfang bestätigt hatte und das FA dadurch materiell beschwert war.
Fundstellen
Haufe-Index 413041 |
BStBl II 1972, 120 |
BFHE 103, 456 |