Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage an EuGH: Vorsteuerabzug mit Wirkung für das Kj. der Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts oder das Kj. des Rechnungsbesitzes?
Leitsatz (amtlich)
Dem EuGH wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
"Kann der Steuerpflichtige das Recht auf Vorsteuerabzug nur mit Wirkung für das Kalenderjahr ausüben, in dem er gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG die Rechnung besitzt oder gilt die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug stets für das Kalenderjahr (auch rückwirkend), in dem das Recht auf Vorsteuerabzug gemäß Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG entsteht?"
Normenkette
UStG 1999 § 15 Abs. 1 Nr. 1, § 16 Abs. 1-2; EWGRL 388/77 Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a, Art. 18 Abs. 1-2, Art. 22 Abs. 3; EWGRL 288/67 Art. 11 Abs. 1 Buchst. a; UStR Abschn. 192 Abs. 2 S. 4
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (EFG 2001, 601) |
Nachgehend
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, betreibt einen Handel für Baubedarf. Sie begehrt, die Umsatzsteuerfestsetzung für 1999 (Streitjahr) dahin zu ändern, dass weitere Vorsteuerbeträge in Höhe von 3 248,10 DM als abziehbar anerkannt werden. Die zugrunde liegenden Leistungen bezog die Klägerin im Jahr 1999. Die dazu gehörenden Rechnungen wurden im Dezember 1999 ausgestellt, gingen aber erst im Januar 2000 bei der Klägerin ein.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) erkannte den Vorsteuerabzug aus diesen Rechnungen im Streitjahr nicht an. Er begründete dies mit dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG). Voraussetzung für den Vorsteuerabzug sei danach der Bezug der Lieferung oder sonstigen Leistung und der Erhalt einer entsprechenden Rechnung. Wenn ―wie vorliegend― der Empfang der Leistung und der Empfang der Rechnung in verschiedene Besteuerungszeiträume fielen, sei entsprechend der Anweisung in den Verwaltungsrichtlinien (Abschn. 192 Abs. 2 Satz 4 der Umsatzsteuer-Richtlinien) der Vorsteuerabzug für den Besteuerungszeitraum zulässig, in dem erstmalig beide Voraussetzungen erfüllt seien. Dies sei das Veranlagungsjahr 2000, weil die Klägerin die Rechnung erst im Jahr 2000 erhalten habe.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) folgte der Auffassung des FA. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 601 abgedruckt.
Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision macht die Klägerin im Wesentlichen geltend: Das angefochtene Urteil schränke ihren Anspruch auf Abzug der ihr in Rechnung gestellten Vorsteuerbeträge zu Unrecht zeitlich ein. Es verstoße damit gegen die Sechste Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG).
Die Klägerin beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung und der angefochtenen Bescheide bei der Umsatzsteuerfestsetzung 1999 weitere Vorsteuerbeträge in Höhe von 3 248,10 DM zum Abzug zuzulassen.
Das FA tritt der Revision entgegen.
Entscheidungsgründe
II. Der Senat legt dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) die im Tenor bezeichnete Frage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechtes vor und setzt das Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH aus.
1. Zur Rechtslage nach deutschem Umsatzsteuerrecht:
a) § 15 UStG bestimmt unter der Überschrift "Vorsteuerabzug" in Abs. 1 Nr. 1:
"Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:
1. die in Rechnungen im Sinne des § 14 gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Soweit der gesondert ausgewiesene Steuerbetrag auf eine Zahlung vor Ausführung dieser Umsätze entfällt, ist er bereits abziehbar, wenn die Rechnung vorliegt und die Zahlung geleistet worden ist."
§ 16 UStG mit der Überschrift "Steuerberechnung, Besteuerungszeitraum und Einzelbesteuerung" sieht in Abs. 1 Sätze 2 und 3 vor:
… "Besteuerungszeitraum ist das Kalenderjahr. Bei der Berechnung der Steuer ist von der Summe der Umsätze nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 und 5 auszugehen …"
§ 16 Abs. 2 Satz 1 UStG lautet: "Von der nach Absatz 1 berechneten Steuer sind die in den Besteuerungszeitraum fallenden, nach § 15 abziehbaren Vorsteuerbeträge abzusetzen."
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) entsteht der Anspruch auf Abzug der Vorsteuer in dem Veranlagungszeitraum, in dem die Anspruchsvoraussetzungen i.S. des § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG insgesamt vorliegen (vgl. BFH-Urteil vom 20. Oktober 1994 V R 84/92, BFHE 176, 469, BStBl II 1995, 233, m.w.N.). Zu diesen Voraussetzungen gehört eine Rechnung mit gesondertem Umsatzsteuerausweis (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 26. April 1979 V R 46/72, BFHE 128, 110, BStBl II 1979, 530, unter II. 2. a; vom 16. April 1997 XI R 63/93, BFHE 182, 440, BStBl II 1997, 582).
Demzufolge könnte die Klägerin den streitigen Vorsteuerabzug für das Streitjahr 1999, in dem ihr die dazugehörigen Rechnungen noch nicht vorlagen, nicht (rückwirkend) geltend machen.
2. Zur Anrufung des EuGH
Der Senat hat Zweifel, ob diese nationale Rechtslage im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht und dem Recht des Vorsteuerabzugs in den übrigen Mitgliedstaaten steht.
a) Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG mit der Überschrift "Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug" bestimmt in Abs. 1: "Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht." Nach Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG treten der Steuertatbestand und der Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird.
Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG lautet: "Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der vom ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen: die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden."
Art. 18 der Richtlinie 77/388/EWG mit der Überschrift "Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug" sieht vor:
"(1) Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige
a) über die nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a abziehbare Steuer eine nach Art. 22 Abs. 3 ausgestellte Rechnung besitzen;
…
(2) Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, in dem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Erklärungszeitraum schuldet, den Betrag der Steuer absetzt, für die das Abzugsrecht entstanden ist, und wird nach Abs. 1 während des gleichen Zeitraums ausgeübt."
b) Diese Unterscheidung zwischen Entstehung und Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug ist gemeinschaftsrechtlich erst durch die Richtlinie 77/388/EWG eingeführt worden.
Sie war zuvor in der Zweiten Richtlinie des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems 67/228/EWG ―Richtlinie 67/228/EWG― (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― 1967, Nr. 71, 1303/67) nicht enthalten. Deren Art. 11 Abs. 1, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug eingeführt worden ist, bestimmte: "Soweit Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke des Unternehmens verwendet werden, wird der Steuerpflichtige befugt, von der vom ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die Mehrwertsteuer, die ihm für an ihn gelieferte Gegenstände und an ihn erbrachte Dienstleistungen in Rechnung gestellt wird."
§ 15 Abs. 1 UStG geht noch auf diese Bestimmung zurück. Die Vorschrift ist nicht an Art. 17 und 18 der Richtlinie 77/388/EWG angepasst worden.
c) Der EuGH hat einerseits entschieden, der Steuerpflichtige habe nach den Art. 17 ff. der Richtlinie 77/388/EWG das "Recht auf sofortigen Abzug" der für Investitionsausgaben, die für Zwecke seiner beabsichtigten, das Abzugsrecht eröffnenden Umsätze getätigt wurden, geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer (vgl. EuGH-Urteile vom 15. Januar 1998, Rs. C-37/95, Ghent Coal Terminal NV, Slg. 1998, I-1, RandNr. 17; vom 21. März 2000 Rs. C-110/98 bis C-147/98, Gabalfrisa u.a., Slg. 2000, I-1577, RandNr. 47; vom 8. Juni 2000 Rs. C-400/98, Breitsohl, Slg. I 2000, 4321, RandNr. 34 ff., Umsatzsteuer-Rundschau ―UR― 2000, 329, Umsatzsteuer- und Verkehrsteuerrecht ―UVR― 2000, 302).
Andererseits betrifft Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG nach der Rechtsprechung des EuGH nur das Bestehen des Rechts auf Vorsteuerabzug als solches, während die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts in Art. 18 der Richtlinie 77/388/EWG geregelt sind (vgl. EuGH-Urteil vom 8. November 2001 Rs. C-338/98, Kommission/Niederlande, ABlEG 2002, Nr. C 3, RandNr. 71, UR 2001, 544). Aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. a und Art. 22 Abs. 3 Buchst. a und c der Richtlinie 77/388/EWG ergibt sich, dass der Steuerpflichtige, um den Abzug gemäß Art. 17 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie vornehmen zu können, grundsätzlich eine Rechnung oder ein an deren Stelle tretendes Dokument, das ihm von einem anderen Steuerpflichtigen ausgestellt worden ist, besitzen muss (vgl. EuGH-Urteile vom 14. Juli 1988 Rs. 123/87, Jeunehomme, Slg. 1988, 4517, RandNr. 14, UR 1989, 381; vom 5. Dezember 1996 Rs. C-85/95, Reisdorf, Slg. I 1996, 6254, RandNr. 22, UR 1997, 144, UVR 1997, 46; in ABlEG 2002, Nr. C 3, RandNr. 74, UR 2001, 544).
d) Danach hat der Senat keine Zweifel, dass im Streitfall das Recht der Klägerin auf Vorsteuerabzug gemäß Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG im Jahr 1999 entstanden ist und es gemäß Art. 18 der Richtlinie 77/388/EWG erst im Jahr 2000 nach Rechnungserhalt ausgeübt werden durfte.
Zweifelhaft ist aber, ob dieses Recht auf Vorsteuerabzug bereits mit Wirkung für den Besteuerungszeitraum 1999 geltend gemacht werden darf bzw. muss. Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG könnte so auszulegen sein, dass diese Bestimmung nur die Voraussetzungen der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug regelt, aber nichts darüber besagt, für welchen Besteuerungszeitraum der Vorsteuerabzug geltend zu machen ist bzw. geltend gemacht werden darf.
Daraus ergibt sich die Vorlagefrage.
3. Rechtsgrundlage für die Anrufung des EuGH ist Art. 234 Abs. 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Die Aussetzung des Verfahrens beruht auf § 121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung.
Fundstellen
Haufe-Index 728773 |
BFH/NV 2002, 886 |
BFHE 198, 226 |
BFHE 2003, 226 |
BB 2002, 1035 |
BB 2002, 1304 |
BB 2002, 1738 |
DB 2002, 1197 |
DStR 2002, 803 |
DStRE 2002, 708 |
HFR 2002, 645 |
UR 2002, 336 |