Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, welche Folgerungen sich ergeben, wenn eine Vorschrift, die gemäß § 12 Abs. 1 des Dritten überleitungsgesetzes und Art. 87 Abs. 2 der Berliner Verfassung im sogenannten Mantelgesetzgebungsverfahren vom Land Berlin übernommen worden ist, gegen Grundrechte des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland verstößt.
Drittes überleitungsgesetz vom 4. Januar 1952 (BGBl I S. 1) § 12 Abs. 1; Berliner Verfassung Art. 87
Normenkette
VerfBE 87/2
Tatbestand
...
Entscheidungsgründe
In der Gewerbesteuersache 1955 und in der Sache der einheitlichen Gewinnfeststellung 1955 hat der I. Senat des Bundesfinanzhofs beschlossen:
Der Beschluß des Senats vom 3. April 1962 (BStBl 1962 III S. 359), wonach die Sache gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung darüber vorgelegt worden ist, ob die in Art. 2 Abs. 7 des Gesetzes zur änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes, des Gewerbesteuergesetzes und des Wohnungsbau-Prämiengesetzes (Steueränderungsgesetz 1960) vom 30. Juli 1960 (BGBl 1960 I S. 616; BStBl 1960 I S. 514) angeordnete rückwirkende Anwendung des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 Sätze 3 und 4 EStG in der Fassung des Art. 1 Ziff. 8 des genannten Gesetzes verfassungsmäßig ist, wird aufgehoben.
Gründe Mit Schreiben vom 10. September 1962 1 BvL 13/62 hat der Vorsitzende des I. Senats des Bundesverfassungsgerichts dem erkennenden Senat mitgeteilt, daß das Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung in einer Berliner Sache nicht befugt sei, weil sich die Entscheidung unmittelbar oder mittelbar auf Akte der Berliner Staatsgewalt auswirken müßte (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 7 S. 1 und 192; Bd. 10 S. 229). Der Vorsitzende des I. Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in diesem Schreiben dem erkennenden Senat gleichzeitig anheimgegeben, mit Rücksicht auf diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Vorlagebeschluß vom 3. April 1962 nicht aufrechtzuerhalten. Der Senat hält es unter diesen Umständen für gegeben, seinen Vorlagebeschluß aufzuheben und die Sache vom Bundesverfassungsgericht zurückzuerbitten. Einwendungen hiergegen sind von keinem der Beteiligten, denen das Schreiben des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnisnahme, bzw. - wie im Falle des Senators für Finanzen von Berlin - zur Stellungnahme mitgeteilt worden ist, erhoben worden.
Die Unzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, auf Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland über eine Berliner Sache zu entscheiden, wirft die Frage auf, ob und gegebenenfalls in welcher Weise Berliner Vorschriften zu beurteilen sind, die gegen Grundrechte des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) verstoßen. Der Bundesgerichtshof hat in einem Falle, betreffend die Verfassungsmäßigkeit des Reichsseuchengesetzes vom 30. Juni 1900 und des Berliner Seuchenbekämpfungsergänzungsgesetzes vom 8. November 1951 selbst den Verstoß gegen das GG ausgesprochen, mit der Begründung, das Bundesverfassungsgericht sei aus den oben dargelegten Gründen gehindert, seine Gerichtsbarkeit nach Art. 100 GG in bezug auf Berlin auszuüben (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27. Februar 1956 III ZR 194/54, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bd. 20 S. 112). Vom Bundesverfassungsgericht ist dieses Verfahren in seiner Entscheidung, Bd. 7 S. 16, gebilligt worden. Die Frage kann zu Zweifeln Anlaß geben. Art. 64 Abs. 2 der Berliner Verfassung bestimmt: "Die Gerichte sind nicht befugt, Gesetze und Verordnungen, die das Abgeordnetenhaus beschlossen hat, auch in ihrer Verfassungsmäßigkeit zu prüfen." Der Senator für Finanzen von Berlin, dem der Senat die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben hat, hat sich wie folgt geäußert: "Nach § 12 Abs. 1 des Dritten überleitungsgesetzes vom 4. Januar 1952 (BGBl I S. 1, GVBl S. 893) ist das Land Berlin verpflichtet, Bundesrecht über die in Art. 105 GG bezeichneten Abgaben nach seiner Verkündung im BGBl gemäß Art. 87 Abs. 2 der Verfassung von Berlin in Kraft zu setzen. Dies geschieht regelmäßig im sogenannten Mantelgesetzgebungsverfahren (Berliner Gesetz zur Anwendung des jeweiligen Bundesgesetzes). Durch diesen Berliner übernahmeakt wird jedoch kein neues selbständiges Recht geschaffen, sondern lediglich die Anwendung des Bundesrechts in Berlin ermöglicht. Mit dem ganzen oder teilweisen Wegfall von Bestimmungen des betreffenden Bundesgesetzes durch eine Nichtigkeitserklärung seitens des Bundesverfassungsgerichts entfällt auch die Voraussetzung über die Anwendung des Bundesrechts in Berlin, denn die betreffende Rechtsnorm ist nicht erst durch die Feststellung ihrer Nichtigkeit durch das Bundesverfassungsgericht beseitigt. Sie ist vielmehr von Anfang an nichtig, nur kann ihre Nichtigkeit erst auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geltend gemacht werden (vgl. Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht 1952 Anm. 4 zu § 78). Dies bedeutet, daß das Land Berlin mit dem betreffenden Mantelgesetz eine von vornherein ungültige Norm, ein Nullum, übernommen hat. Insoweit hatte daher das Berliner übernahmegesetz überhaupt keine rechtliche Wirkung, wie sich durch die Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht herausgestellt hat (vgl. Draht in Archiv des öffentlichen Rechts 1957 S. 27, 70). Dem Berliner übernahmegesetz ist insoweit also das Substrat entzogen worden; eine besondere Beseitigung der für nichtig erklärten Norm mit Wirkung auch für das Land Berlin ist nicht erforderlich, weil nichts mehr vorhanden ist, was noch in Fortfall gebracht werden könnte. Sie ist auch nicht möglich, weil dem Land Berlin die Gesetzgebungskompetenz hierzu fehlen würde (vgl. Art. 105 Abs. 2 GG). Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen Bestimmungen von Steuergesetzen, die in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergangen sind, für nichtig erklärt worden sind, hatten zwar regelmäßig Bundesgesetze zur änderung der entsprechenden Steuergesetze zur Folge, die wiederum gemäß § 12 Abs. 1 des Dritten überleitungsgesetzes ebenfalls in Berlin in Kraft gesetzt werden. Auf Grund der vorstehend dargestellten überlegungen werden jedoch die für nichtig erklärten Teile der Bundesgesetze in Berlin unabhängig von dem Ergehen eines änderungsgesetzes bereits seit der Bekanntmachung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr angewandt."
Der erkennende Senat schließt sich der Stellungnahme des Senators für Finanzen an. Soweit über § 12 Abs. 1 des Dritten überleitungsgesetzes vom 4. Januar 1952 in Verbindung mit Art. 87 Abs. 2 der Berliner Verfassung Bundesrecht in das Recht des Landes Berlin hineinwirkt, ist der alliierte Vorbehalt vom 29. August 1950 (Verordnungsblatt für Groß-Berlin S. 440) nicht verletzt. Der Senat tritt der Ansicht des Senators für Finanzen darin bei, daß in den Fällen der vorliegenden Art der Gesetzgeber für Berlin das Gesetz nur in der Fassung übernehmen will, wie es in der Bundesrepublik rechtlich wirksam ist. Wollte man die rechtliche Auswirkung der Nichtigerklärung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht erst von dem Zeitpunkt an anerkennen, in dem durch formales Gesetz auch in Berlin dem neuen Rechtszustand Rechnung getragen würde, so würde dies zu einer vom Gesetzgeber für Berlin nicht gewollten Abweichung in der Rechtsanwendung mindestens für eine übergangszeit führen. Es ist für den Senat auch von Bedeutung, daß die Regierung von Berlin auf Grund einer ständigen, von den Alliierten Behörden nicht beanstandeten übung in diesem Sinne verfährt. Der Senat hält es deshalb mit Rücksicht auf das bereits beim Bundesverfassungsgerichts schwebende Verfahren 1 BvL 28/62 (Vorlagebeschluß des IV. Senats beim Bundesfinanzhof vom 2. August 1962 IV 255/58 U (BStBl 1962 III S. 420) für zweckmäßig, das hier anhängige Verfahren bis zum Ergehen der Entscheidung in der genannten Sache auszusetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 410734 |
BStBl III 1963, 189 |
BFHE 1963, 517 |
BFHE 76, 517 |