Leitsatz (amtlich)
Der Senat hält Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Art. 1 des Ratifikationsgesetzes vom 27. Juli 1957, soweit er dem Art. 189 des EWG-Vertrages zustimmt, nicht für begründet.
Er sieht sich daher nicht gehindert, gemäß Art. 177 Abs. 1 und 3 des EWG-Vertrages eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Auslegung des EWG-Vertrages sowie zur Gültigkeit und Auslegung der Verordnung des Rates und der Kommission der EWG betreffend Abschöpfungen und zusätzliche Abschöpfungen einzuholen.
Normenkette
EWGVtr Art. 177 Abs. 1, 3; GG Art. 24; EWGVtr Art. 38, 47, 189
Streitjahr(e)
1962
Tatbestand
Gemäß Art. 177 Abs. 1 und 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft werden dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:
- Steht den Organen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf Grund des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft das Recht zu, in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltende Abschöpfungsregelungen zu schaffen, wie dies in der Verordnung Nr. 22 des Rates vom 4. April 1962 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften S. 959) geschehen ist?
- Bei der Bejahung der Frage zu a): Sind die zu erhebenden Abschöpfungsbeträge Abgaben im Sinne von Zöllen oder Steuern oder, wenn nein, was sonst?
- Bei Bejahung der ersten Alternative von b): Ist insoweit die Rechtsetzungsbefugnis als ein Teil der Abgabenhoheit auf Grund des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf die Gemeinschaft übergegangen?
- Bei Bejahung der Frage zu 1 a): Ist aus Art. 6 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 22 des Rates zu entnehmen, daß nur der einzelne Mitgliedstaat, nicht aber die Organe der Gemeinschaft befugt waren, eine zusätzlich Abschöpfung festzusetzen?
- Verstößt die Verordnung Nr. 135/62 der Kommission (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften S. 2621) gegen die Verordnung Nr. 22 des Rates und die Verordnung Nr. 109/62 der Kommission (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften S. 1939), auf die sie sich ausdrücklich stützt, weil beide eine Zusatzabschöpfung dann vorsehen, wenn der Angebotspreis unter den Einschleusungspreis fällt, während die Verordnung Nr. 135/62 - wie die Klägerin behauptet - bei der Festsetzung der Zusatzabschöpfung den Angebotspreis nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt?
- Beeinträchtigt es die Gültigkeit der Verordnung Nr. 135/62 der Kommission, daß der Tag der Verkündung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften als Tag des Inkrafttretens bestimmt ist?
Gründe
Die Klägerin ließ am 19. November 1962 geschlachtete und gefrorene Junghühner, gerupft, ausgenommen, ohne Kopf und Ständer, mit Herz, Leber und Muskelmagen der Tarifnr. 02.02 des Gemeinsamen Zolltarifs aus Polen zum freien Verkehr abfertigen. Das Zollamt (ZA) berechnete die Abschöpfung nach dem ab 5. November 1962 geltenden Abschöpfungssatz von 85,68 DM je 100 kg und die Umsatzausgleichsteuer aus dem Zollwert ohne Hinzurechnung der Abschöpfung. Auf Grund der am 7. November 1962 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften verkündeten und nach Art. 2 am selben Tage in Kraft getretenen Verordnung Nr. 135 der Kommission forderte das ZA mit Bescheid vom 13. Dezember 1962 die nach dem Erlaß des Bundesministers der Finanzen (BdF) vom 15. November 1962 (BZBl 1962 S. 974) ab 19. November zu erhebende Zusatzabschöpfung in Höhe von ... DM nach.
Einspruch und Berufung gegen die Erhebung von Zusatzabschöpfung blieben erfolglos.
- II. - Ihre Revision begründet die Klägerin wie folgt:
- Die gesamte Abschöpfungsregelung verstoße gegen das Prinzip der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Bei den Abschöpfungen handle es sich um eine besondere Abgabenart des Gemeinschaftsrechts, die sowohl die Funktionen der Zölle als auch eine Ausgleichsfunktion erfüllten. Die in der Verordnung Nr. 22 des Rats enthaltene Abschöpfungsregelung falle in den Bereich der steuerlichen Gesetzgebung und damit der Steuerhoheit, die die EWG während der Übergangszeit im Bereich der Zölle und der zollgleichen Abgaben nicht besitze. Die Verordnung sei auf Art. 43 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) gestützt. Dieser regle aber nur das Verfahren für die Verwirklichung der gemeinsamen Agrarpolitik. Es liege nicht im freien Ermessen des Rates, im Rahmen des Art. 43 Abs. 2 EWG- Vertrag zu bestimmen, mit welcher Entscheidungsform das Abschöpfungssystem einzuführen sei. Wegen ihres Eingriffs in die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten habe die Abschöpfungsregelung, wenn überhaupt, nur über eine Richtlinie eingeführt werden können (Frage 1).
- Die Verordnung Nr. 135 der Kommission halte sich nicht in dem Ermächtigungsrahmen des Art. 6 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 22 des Rates. Aus Art. 6 Abs. 3 a. a. O. müsse aber jedenfalls entnommen werden, daß der einzelne Mitgliedstaat befugt sein solle, die zusätzliche Abschöpfung festzusetzen und zu erheben. Während der Einschleusungspreis einheitlich festgesetzt sei (Art. 6 Abs. 1 und 2), sei für die von der Höhe des jeweiligen Angebotspreises abhängige Zusatzabschöpfung ausdrücklich die Zuständigkeit des einzelnen Mitgliedstaates begründet worden. Die Richtigkeit dieser Auslegung werde durch Art. 6 Abs. 4 Unterabsatz 3 bestätigt, wo es heiße, daß die Zusatzbeträge von dem einzelnen Mitgliedstaat festgesetzt und erhoben würden. Aus der Verordnung Nr. 109 der Kommission könne nichts anderes entnommen werden, da auch diese Verordnung ihre Ermächtigungsgrundlage in Art. 6 der Verordnung Nr. 22 habe. Die Präambel gebe ausdrücklich Art. 6 Abs. 4 als Ermächtigungsgrundlage an. Wenn in der Präambel und in den nachfolgenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 109 (insbesondere in Art. 5 und 6) davon die Rede sei, daß der Zusatzbetrag nur bis zum Erlaß gemeinsamer Maßnahmen vom einführenden Mitgliedstaat festgesetzt werde, so halte sich auch diese Maßnahme nicht im Rahmen der Ermächtigung des Art. 6 Abs. 3 und 4. Halte sich die Verordnung Nr. 135 aber nicht im Rahmen der Ermächtigungsnorm, so sei sie unwirksam (Frage 2).
- Das durch die Verordnung Nr. 135 eingeführte Abschöpfungssystem mit einem einheitlichen Abschöpfungsbetrag verstoße auch gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 109, der bestimme, daß der Zusatzbetrag festgesetzt werde, wenn der Angebotspreis unter den Einschleusungspreis falle, daß er neu festgesetzt werde, wenn sich der Angebotspreis ändere, die Festsetzung jedoch aufgehoben werde, wenn festgestellt werde, daß der Angebotspreis den Einschleusungspreis erreiche oder übersteige. Die Klägerin habe die Einfuhren, die mit der zusätzlichen Abschöpfung belastet worden seien, zum Einschleusungspreise abgeschlossen. Ihre Importe hätten daher nicht mit der durch die Verordnung Nr. 135 festgelegten einheitlichen Abschöpfung belastet werden dürfen (Frage 3).
- Die Kommission habe beim Erlaß von Verordnungen auch die sogenannten "allgemeinen Rechtsprinzipien, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind" (vgl. Art. 215 Abs. 2 EWG- Vertrag), zu beachten. Dazu gehöre der verfassungsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit, wie der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EGH) im Bosch-Urteil ausgesprochen habe. Das Prinzip der Rechtssicherheit habe seine besondere Ausführung in dem Grundsatz der Vorhersehbarkeit und Vorausberechenbarkeit aller hoheitlichen Maßnahmen gefunden. Gegen diesen Grundsatz verstoße die Verordnung Nr. 135, da sie am Tage ihrer Veröffentlichung in Kraft getreten sei und ohne Gewährung einer Übergangsfrist an Stelle der variablen Abschöpfung durch die Bundesregierung eine einheitliche Abschöpfung von 0,25 DM je kg für jeden Einfuhrvertrag, auch wenn er zum Einschleusungspreis abgeschlossen sei, eingeführt habe (Frage 4).
Die Klägerin beantragt, die Entscheidung des EGH über die Vereinbarkeit der Verordnung Nr. 135 mit den Normen des Europäischen Rechts einzuholen.
- III. - Der BdF, der dem Verfahren beigetreten ist und an Stelle des beklagten Hauptzollamts (HZA) die Auffassung der Verwaltung vertritt, beantragt ebenfalls, eine Vorabentscheidung des EGH einzuholen.
- Die Abschöpfungen seien ein nach Art. 40 EWG-Vertrag zulässiges Instrument. Die Zuständigkeit für die Aufstellung gemeinsamer Marktordnungen sei in Art. 43 EWG-Vertrag festgelegt. In diesem Rahmen sei die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten eingeschränkt. Die Befugnisse der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Agrarpolitik seien insoweit aufgehoben, als der Rat die ihm nach Art. 43 eingeräumte Kompetenz zu Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen ausgeschöpft habe. Insoweit sei die Steuerhoheit der Bundesrepublik gemäß Art. 24 des Grundgesetzes (GG) auf die EWG übertragen worden. Die Art. 38 bis 47 EWG- Vertrag enthielten nichts über Beziehungen zu dritten Ländern. Im Verhältnis zu diesen kämen nur die Art. 18 bis 29 in Betracht. Diese Vorschriften über den gemeinsamen Zolltarif seien jedoch durch die Bestimmungen der Art. 39 bis 46 modifiziert. Eine ausdrückliche Bezugnahme auf Art. 18 ff. sei nicht erforderlich gewesen. Die in Art. 39 im einzelnen aufgeführten Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik sollten nach dem Vertrag durch eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte erreicht werden (Art. 40). Nach Inhalt und Systematik des EWG-Vertrages ständen im Zweiten Teil Titel I "Freier Warenverkehr" (Art. 9 bis 37) und Titel II "Landwirtschaft" (Art. 38 bis 47) gleichrangig nebeneinander. Art. 39 ff. stellten vorrangige Sondervorschriften gegenüber Art. 18 ff. dar. Die Abschöpfungsregelung halte sich auch im Rahmen der Art. 39 ff. Eine Marktordnung mache Eingriffe in den Markt erforderlich. Art. 40 Abs. 3 Unterabsatz 1 nenne "insbesondere Preisregelungen, Beihilfen usw.". Solche Maßnahmen müßten auch gegenüber Nichtmitgliedsländern ergriffen werden, wenn sie ihr Ziel erreichen und die Stützung und Förderung der Landwirtschaft in der EWG (Art. 39) sichern sollten.
- Art. 6 Abs. 3 der Verordnung Nr. 22 des Rates enthalte die Ermächtigung, daß überhaupt eine derartige zusätzliche Abschöpfung bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen erhoben werden könne, und treffe ebenso wie die Absätze 1 und 2 des Art. 6 eine generelle Regelung für die einzelnen Mitgliedstaaten. Während Art. 6 Abs. 3 also die materielle Grundlage darstelle, sei das Verfahren in Abs. 4 geregelt. Gerade die Fassung des hier in Betracht kommenden Unterabsatzes 3 stehe einer gemeinsamen Maßnahme auch in Form der Festsetzung eines einheitlichen Zusatzbetrages nicht entgegen, weil in dessen letztem Satz ausdrücklich gemeinsame Maßnahmen vorgesehen seien. Ebenso wie nach Art. 12 der Verordnung Nr. 22 einzelstaatliche Maßnahmen durch gemeinsame Maßnahmen ersetzt werden könnten, würden in Art. 6 Abs. 4 gerade die gemeinschaftlichen Maßnahmen geregelt, wobei hier vorgesehen sei, daß zunächst die Mitgliedstaaten - und nicht die Gemeinschaft - derartige Zusatzabschöpfungen festsetzen könnten. Zeige sich dann, daß auch insoweit gemeinschaftliche Maßnahmen notwendig würden, würden einzelstaatliche Maßnahmen durch diese ersetzt.
- Die Verordnung Nr. 135 sei auch nicht deshalb rechtswidrig, weil sie etwa zu Unrecht einen einheitlichen Abschöpfungsbetrag festsetze und nicht den Angebotspreis der einzelnen Einfuhr in dem betreffenden Einzelfall berücksichtige. Aus Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 109 ergebe sich, daß jeweils ein einheitlicher Zusatzbetrag für Einfuhren aus dritten Ländern festgesetzt werde. Solle ein derartiger einheitlicher Zusatzbetrag erhoben werden, müsse auch ein einheitlicher Angebotspreis errechnet werden, weil dieser zusammen mit dem Einschleusungspreis die Berechnungsgrundlage bilde. Der Hinweis der Klägerin, in Art. 2 der Verordnung Nr. 109 sei nur der tatsächliche Angebotspreis jeder einzelnen Einfuhr als Berechnungsgrundlage vorgesehen und deshalb sei nur die automatische Zusatzabschöpfung je nach Zollwert der Ware zulässig, gehe fehl. Denn der Begriff des Angebotspreises werde gerade gemäß Art. 1 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 109 generell ermittelt.
- Die Verordnung Nr. 135 habe auch nicht in rechtswidriger Weise in laufenden Verträgen eingegriffen. Sie sei am 7. November 1962 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften verkündet worden und damit in jedem Mitgliedstaat unmittelbar in Kraft getreten, während die zollamtliche Abfertigung am 19. November 1962 erfolgt sei. Selbst wenn also eine Steuererhöhung nur dann rechtswirksam wäre, wenn sie vorhersehbar sei, liege doch die Dauer der Frist weit über der als Beispiel von der Klägerin zitierten Wegefrist von drei Tagen des Art. 12 der Verordnung Nr. 22. Insbesondere liege auch keine "unechte Rückwirkung" eines Gesetzes mit einer Verletzung des Vertrauensschutzes der beteiligten Importeure darin, daß bei der Inkraftsetzung der Verordnung für die Einfuhren auf Grund bestehender Verträge, die zum Einschleusungspreis abgeschlossen gewesen seien, keine Übergangsregelung vorgesehen sei.
Entscheidungsgründe
- IV. -
- Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Erhebung von zusätzlicher Abschöpfung und ihrer Höhe hängt im vorliegenden Rechtsstreit von der Beantwortung der im Tenor gestellten Fragen ab.
- Nach Art. 177 Abs. 1 EWG-Vertrag entscheidet der EGH im Wege der Vorabentscheidung u. a. über die Auslegung des Vertrages und über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft. Nach Abs. 3 a. a. O. ist, wenn eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt wird, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet. Wie unter II. dargelegt, sind solche Fragen dem Bundesfinanzhof (BFH) in diesem Verfahren gestellt worden.
- Damit aber die Verpflichtung zur Vorlage besteht, ist erforderlich, daß das deutsche Gesetz zu den Verträgen vom 25. März 1957 zur Gründung der EWG und der Euratom vom 27. Juli 1957 (BGBl 1957 II S. 753) rechtsgültig und der EWG-Vertrag damit für die deutschen Gerichte verbindliches Recht ist. Durch den Vorlagebeschluß des Finanzgerichts (FG) Rheinland-Pfalz vom 14. November 1963 III 77/63 (Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG - 1964 S. 22) ist gemäß Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter anderem die Frage unterbreitet worden, ob Art. 1 des vorgenannten Ratifikationsgesetzes insoweit mit dem GG vereinbar ist, als er sich auch auf den Art. 189 EWG-Vertrag bezieht. Damit ist zunächst nur die Frage aufgeworfen, ob das Gesetz die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf Rat und Kommission rechtswirksam billigen konnte. Es ergibt sich aber die weitere Frage, ob es möglich wäre, das Ratifikationsgesetz nur zum Teil als nichtig, im übrigen aber als gültig anzusehen, oder ob nicht vielmehr bei der zentralen Bedeutung, die dem Art. 189 EWG- Vertrag für die Verwirklichung der Vertragsziele zukommt, eine Nichtigkeit der Zustimmung zu diesem Artikel die Nichtigkeit des ganzen Zustimmungsgesetzes zur Folge haben müßte, so daß die rechtliche Verbindlichkeit des EWG-Vertrages überhaupt und damit auch seines Art. 177 entfiele.
Wegen der Möglichkeit solcher weitreichenden Folgen hat der Senat, nachdem das BVerfG u. a. mit der Frage der Teilnichtigkeit des Ratifikationsgesetzes befaßt war, es für tunlich gehalten, sich zunächst einer Entscheidung über Fälle, in denen es entscheidend auf Gemeinschaftsrecht ankam, zu enthalten. Nachdem aber die Zahl der gerichtlichen Verfahren in derartigen Fällen in einem außerordentlichen Umfange zugenommen hat und ihre Entscheidung nunmehr vordringlich geworden ist, eine Entscheidung des BVerfG aber nicht vorliegt, glaubt der Senat nicht länger warten zu können. Er hält vielmehr eine Entscheidung für notwendig, ob er die angeführten verfassungsrechtlichen Bedenken teilt und damit verpflichtet ist, nach Art. 100 Abs. 1 GG das Verfahren auszusetzen und seinerseits eine Entscheidung des BVerfG einzuholen oder ob er die Zweifel für nicht berechtigt hält und daher im Streitfall und in ähnlichen Fällen eine Vorabentscheidung des EGH nach Art. 177 Abs. 1, 3 EWG-Vertrag einholt, woran er durch den genannten Vorlagebeschluß des FG rechtlich nicht gehindert ist.
Der Senat ist der Überzeugung, daß die im Vorlagebeschluß hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des deutschen Ratifikationsgesetzes geäußerten Zweifel nicht begründet sind.
- Der Vorlagebeschluß hält Art. 1 des Ratifikationsgesetzes deshalb für nichtig, weil diese Vorschrift in Verbindung mit Art. 189 EWG-Vertrag Rat und Kommission, also Exekutivbehörden, zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtige, die in Art. 189 EWG- Vertrag erteilte Ermächtigung jedenfalls in Bezug auf ihr Ausmaß nicht abgegrenzt und daher Art. 80 GG verletzt sei.
Selbst wenn man der Auffassung des Vorlagebeschlusses folgen wollte, daß es sich in Art. 189 EWG-Vertrag um die Ermächtigung von Exekutivbehörden zum Erlaß von Rechtsverordnungen handelt, läßt sich sehr wohl die Auffassung vertreten, daß die Ermächtigung auch den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG genügt. Art. 80 Abs. 1 GG besagt nicht, daß Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Text der Ermächtigungsbestimmung selbst ausdrücklich bestimmt sein müssen (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - Bd. 8 S. 274 (307)). Vielmehr genügt, daß diese Begrenzungen der Ermächtigung sich aus dem Zusammenhang der Norm mit anderen Vorschriften und aus dem Ziel, das die gesetzliche Regelung insgesamt verfolgt, ergeben (BVerfGE Bd. 10 S. 20 (51)).
Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung in Art. 189 EWG- Vertrag werden bestimmt durch die Worte "zur Erfüllung ihrer Aufgaben und nach Maßgabe dieses Vertrages". Zur Abgrenzung der Ermächtigung muß demnach der gesamte Vertrag herangezogen werden. Aus Art. 2 EWG-Vertrag ergeben sich die Aufgaben und Ziele der Gemeinschaft im ganzen, Art. 3 zählt die konkreten Aufgaben auf, die zur Verwirklichung des in Art. 2 aufgestellten größeren Zieles bewältigt werden sollen. In Art. 4 ist bestimmt, daß die der Gemeinschaft zugewiesenen Aufgaben durch die folgenden Organe, nämlich Versammlung, Rat, Kommission und Gerichtshof wahrgenommen werden, wobei jedes Organ "nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse" handelt.
Der Vorlagebeschluß des FG hat zum Gegenstand die Regelung auf dem Gebiet der Agrarmarktordnung. Diese ist enthalten in den Art. 38 ff. EWG-Vertrag. Dabei sind in Art. 39 die Ziele, in Art. 40 und 41 die Mittel zur Verwirklichung der gemeinsamen Agrarpolitik angesprochen. In Art. 43 sind die Befugnisse der einzelnen Organe festgelegt.
Betrachtet man die Ermächtigung des Art. 189 EWG-Vertrag im Zusammenhang mit den im Vertrag in den Art. 38 ff. jeweils einzeln festgelegten Aufgaben und Befugnissen der Organe, so erscheint die Ermächtigung nach der Auslegung, die Art. 80 GG erfahren hat, hinreichend bestimmt.
- Aber auch wenn man Art. 1 des Ratifikationsgesetzes in Verbindung mit Art. 189 EWG-Vertrag unter dem Gesichtspunkt der Übertragung von Hoheitsrechten betrachtet - was der Senat für richtig hält - kommt man zu einem anderen Ergebnis als der Vorlagebeschluß.
Gemäß Art. 24 GG kann der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Nach den Ausführungen des Vorlagebeschlusses dürfen, soweit in Verträgen Hoheitsrechte übertragen werden, Verfassungsgrundsätze höchsten Ranges - wie ihn der Grundsatz der Gewaltenteilung darstellt - nicht verletzt werden. Zu dieser Auffassung des Vorlagebeschlusses ist jedoch folgendes zu bemerken: Will man einen völkerrechtlichen Vertrag, der die politischen Beziehungen des Bundes regelt, am GG messen, so darf man die politische Ausgangslage, aus der der Vertrag erwachsen ist, die politischen Realitäten, die zu gestalten oder zu ändern er unternimmt, nicht aus dem Blick verlieren (BVerfGE Bd. 4 S. 157 (168)). Die politischen Ausgangslage bei Abschluß des EWG-Vertrags bildete eine Vielzahl von selbständigen europäischen Staaten mit im einzelnen unterschiedlichen Verfassungen, Wirtschaftsstrukturen und Wirtschaftsinteressen. Die politische Einigung Europas, zu der sich das GG bekennt, kann unter diesen Umständen nur schrittweise erreicht werden. Einen bedeutsamen Schritt auf dieses Ziel hin stellt die EWG dar. Die EWG aber läßt sich nicht verwirklichen, wenn ihren Organen nicht die im Vertrag genannten Befugnisse zuerkannt werden. Von dieser Ausgangslage aus muß die Erteilung der Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen an Rat und Kommission der EWG gesehen werden. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Präambel des GG läßt sich deshalb Art. 24 GG nach Auffassung des Senats so auslegen, daß an die Übertragung von Hoheitsrechten (Gesetzgebungsbefugnissen) durch das Vertragsgesetz an die EWG die eine Vorstufe zu der vom GG proklamierten Einigung Europas darstellt, im Interesse der Erreichung dieses Zieles nicht die strengen Maßstäbe angelegt werden können, die für die Ausübung dieser Hoheitsrechte für die im GG vorgesehenen Organe innerhalb des eigenen Hoheitsbereichs selbst gelten (vgl. dazu Maunz-Dürig, GG, Randnr. 16 zu Art. 24; Ophüls, Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters 1964 S. 66; Nicolaysen, Neue Juristische Wochenschrift 1964 S. 965).
Für die vom Senat vertretene Auffassung spricht auch der Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 GG, wonach die Übertragung von Hoheitsrechten ohne weiteres durch einfaches Gesetz möglich ist. Daß eine solche Übertragung nur unter den Beschränkungen des Art. 79 Abs. 3 GG möglich wäre, läßt sich dem Wortlaut des mit ihm gleichzeitig erlassenen Artikel 24 Abs. 1 GG jedenfalls nicht entnehmen.
- Im übrigen geht der Vorlagebeschluß von Vorstellungen über die Gewaltenteilung aus, die in der vom Verfassungsgesetzgeber gestalteten Ordnung nicht in dieser Strenge verwirklicht worden sind (vgl. das Urteil des Senats VII 141/57 S vom 23. September 1959, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 70 S. 27 - BFH 70, 27 -, BStBl III 1960, 11). Es gilt dies insbesondere hinsichtlich der Beteiligung von Funktionsträgern der Exekutive an den Aufgaben der Legislative.
Abgesehen davon ist jedenfalls der Rat der EWG nicht lediglich als Exekutivorgan zu betrachten, sondern vielmehr als eine Art föderatives Organ (vgl. Klein, Die Öffentliche Verwaltung 1964 S. 310; Ophüls, Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters 1964 S. 67, 68). Ferner ist auch nicht außer acht zu lassen, daß der EWG legislativ überhaupt nur begrenzte Zuständigkeiten übertragen sind.
Schließlich enthält der EWG-Vertrag eine volle Gewaltenteilung zwischen der rechtsprechenden Gewalt (Gerichtshof) und den übrigen Gewalten; aber auch bei deren Organen (Versammlung, Rat und Kommission) ist eine gewisse Gewaltenteilung in dem Sinn vorhanden, daß die Gewalten sich wechselseitig hemmen und kontrollieren (vgl. dazu v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 20 V 5 b S. 598, ferner Arndt, Verhandlungen des Vierzigsten Deutschen Juristentages 1953 C 53). Gerade die Verordnung Nr. 19 um die es in dem erwähnten Vorlagebeschluß des FG Rheinland-Pfalz geht, weist in der Präambel auf das Zusammenwirken der Organe (Erlaß der Verordnung durch den Rat auf Vorschlag der Kommission, nach Anhörung des europäischen Parlaments) deutlich hin; das gleiche gilt für die hier streitige Verordnung Nr. 22 des Rates.
Selbst wenn man also von der oben abgelehnten Auffassung ausgeht, daß die Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 GG im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG nur unter Wahrung des Grundsatzes der Gewaltenteilung zulässig sei, ist eine Verletzung des GG durch die Zustimmung zu Art. 189 EWG-Vertrag nicht festzustellen.
Der Senat sieht sich daher nicht gehindert, durch eine Vorlage nach Art. 177 Abs. 1 und 3 EWG-Vertrag eine Vorabentscheidung des EGH einzuholen, wie es durch diesen Beschluß geschieht.
Im Streitfalle ist u. a. auch geltend gemacht worden, daß die umstrittenen Normen des Rates und der Kommission ihrem Inhalt nach mit verschiedenen Normen des GG nicht vereinbar seien. Ob das der Fall ist und welche rechtlichen Folgen sich aus der Kollision von Gemeinschaftsrecht mit Verfassungsrecht von Mitgliedstaaten ergeben können, braucht in diesem Vorlagebeschluß nicht erörtert zu werden, da diese Fragen erst entschieden werden können, wenn eine Entscheidung über Gültigkeit und Auslegung der Normen durch das hierzu berufene Organ, nämlich den EGH, ergangen ist, so daß die Frage der Tragweite der Normen geklärt ist.
Fundstellen
Haufe-Index 425840 |
BFHE 1967, 266 |
BFHE 88, 266 |