Leitsatz (amtlich)
Zur Ermittlungspflicht des Finanzgerichts im Verfahren über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2
Tatbestand
Am Stammkapital der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), einer GmbH mit Sitz im Inland, war eine AG mit Sitz in der Schweiz (Muttergesellschaft) im Streitjahr 1969 mit 66,26 v. H. und ab 25. Juni 1970 mit 25 v. H. beteiligt. Etwa 90 v. H. des Umsatzes der Klägerin bestand in Lieferungen an die Muttergesellschaft. Eines ihrer Erzeugnisse verkaufte die Klägerin an die Muttergesellschaft zu einem Preis, der um 24 v. H. unter dem Preis lag, den die Klägerin für ihre Lieferungen an Vertriebsgesellschaften im Inland erzielte.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) sah in den Preisunterschieden verdeckte Gewinnausschüttungen.
Die Klägerin begründete die Preisunterschiede damit, daß der Muttergesellschaft auf ihren Auslandsmärkten erhöhte Vertriebskosten entstünden. Sie erklärte sich bereit, diese Vertriebskosten durch Vorlage eines Gutachtens einer schweizerischen Treuhandstelle nachzuweisen, lehnte es aber ab, die Verkaufspreise der Muttergesellschaft offenzulegen.
Das FA rechnete die verdeckten Gewinnausschüttungen bei der Ermittlung des Einkommens der Klägerin hinzu und erließ berichtigte Körperschaftsteuerbescheide 1969 bis 1971. Das FA forderte außerdem von der Klägerin mit Haftungsbescheid Kapitalertragsteuer und Ergänzungsabgabe auf die verdeckten Gewinnausschüttungen.
Die Einsprüche blieben ohne Erfolg.
Die Klägerin erhob Klagen und beantragte beim FA, die Vollziehung der angefochtenen Bescheide auszusetzen. Das FA lehnte diese Anträge ab, die Beschwerde blieb ohne Erfolg.
Gegen die Beschwerdeentscheidungen der OFD erhob die Klägerin Klagen.
Das FG hat die Klagen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestünden keine ernstlichen Zweifel. Die Klägerin habe keine überzeugenden Gründe dafür vorgetragen, die den Preisunterschied von 24 v. H. als angemessen und marktbedingt erscheinen ließen. Der Beweisantrag der Klägerin, den in der mündlichen Verhandlung anwesenden Geschäftsführer der …-Holding als Zeugen darüber zu vernehmen, daß der Muttergesellschaft neben den üblichen Vertriebskosten besondere Vertriebskosten in Höhe von umgerechnet 338 897 DM entstanden seien, sei abgelehnt worden. Selbst wenn man diese Behauptung als richtig unterstelle, besage dieses Detail nichts über die Gesamtsituation der Muttergesellschaft in bezug auf den Einkauf und Verkauf der Erzeugnisse. Da die Entscheidung im Aussetzungsverfahren keine Bestandskraft habe, bleibe es der Klägerin unbenommen, die Gründe für die besonderen Preiskonditionen durch exakte schriftliche Aufstellungen zu belegen. Unbeachtlich sei der Vortrag der Klägerin, daß sie eine Umsatzrendite von rd. 7,5 v. H. und eine Kapitalrendite von über 100 v. H. erreicht habe. Denn die Rendite sei kein Maßstab dafür, ob die Klägerin zu einem unangemessenen Preis geliefert habe. Die Tatsache, daß die schweizerische Muttergesellschaft bis zu 90 v. H. der Erzeugnisse der Klägerin abgenommen habe, sei durch einen Mengenrabatt berücksichtigt worden, der in dem vom FA berechneten Preisunterschied von 24 v. H. nicht erfaßt sei.
Gegen die Urteile des FG richtet sich die Revision der Klägerin, mit der zunächst beantragt wird, die beiden Verfahren I R 162/76 und I R 163/76 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung zu verbinden.
In der Sache selbst rügt die Klägerin falsche Anwendung der Vorschriften über die verdeckte Gewinnausschüttung (§ 6 Abs. 1 Satz 2 des KStG), über die Erforschung des Sachverhalts (§ 76 FGO) und über die Nachweispflicht (§ 171 AO). Die Klägerin rügt ferner Verkennung des Charakters des Urteilsverfahrens nach § 69 Abs. 2 FGO im Gegensatz zum Beschlußverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO, Verkennung der Vorschriften über das rechtliche Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO i. V. m. § 162 Abs. 1 ZPO und § 94 FGO) sowie innere Widersprüche der Urteilsgründe.
Im einzelnen macht die Klägerin geltend, der inländische Preis für das Erzeugnis sei von einem ausländischen fremden Dritten nicht zu erzielen gewesen. Jeder Dritte hätte darauf bestehen müssen, daß er nicht schlechter gestellt werde als der deutsche Abnehmer. Er wäre aber schlechter gestellt worden, wenn er zum Inlandspreis hätte kaufen müssen, weil er im Gegensatz zum deutschen Abnehmer außer dem Einkaufspreis noch die besonderen Vertriebskosten zu tragen hätte. Die Klägerin hätte sich auch gegenüber einem Dritten vor die Alternative gestellt gesehen, einen Abnehmer von 90 v. H. ihrer Erzeugnisse zu verlieren, wenn sie auf dessen Sonderbelastung mit Vertriebskosten keine Rücksicht genommen hätte, oder aber - wenn auch unter Zugeständnissen - diesen Abnehmer zu erhalten und damit eine gewinnträchtige Produktion fortsetzen zu können.
Die Klägerin beantragt, die Vollziehung der streitigen Steuern bis zum Eintritt der Bestandskraft von Entscheidungen in den anhängigen Hauptverfahren auszusetzen, hilfsweise, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Sachen zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Verfahren I R 162/76 (Körperschaftsteuer 1969 bis 1971) und I R 163/76 (Kapitalertragsteuerhaftung 1969 bis 1971) werden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden (§ 73 FGO).
Die Revision ist begründet. Das FG hat den Sachverhalt nicht so weit erforscht, daß entschieden werden kann, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen (§§ 76, 69 Abs. 2 FGO).
1. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts bestehen, wenn bei der überschlägigen Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (Beschluß des BFH vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182). Die Tat- und Rechtsfragen brauchen nicht abschließend geprüft zu werden. Andererseits muß die Prüfung soweit reichen, bis feststeht, ob gewichtige Gründe gegen die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts sprechen (BFH-Beschluß III B 9/66).
Da es sich dabei nicht um eine Ermessensentscheidung, sondern um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs handelt, hat das FG, bei dem Klage gegen eine die Aussetzung der Vollziehung ablehnende Entscheidung der OFD erhoben ist, ohne die Beschränkungen des § 102 FGO nach dem Stand im Zeitpunkt seiner Entscheidung zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer Aussetzung der Vollziehung vorliegen (BFH-Beschluß vom 4. Dezember 1967 GrS 4/67, BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199). Das bedeutet, daß auch die Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 76 FGO) so weit gehen muß, daß entschieden werden kann, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Die Beweisaufnahme ist allerdings auf präsente Beweismittel beschränkt (BFH-Beschluß vom 23. Juli 1968 II B 17/68, BFHE 92, 440, BStBl II 1968, 589).
2. Nach diesen Verfahrensgrundsätzen hätte das FG den Antrag der Klägerin, den in der mündlichen Verhandlung anwesenden Geschäftsführer der …-Holding als Zeugen darüber zu vernehmen, daß der Muttergesellschaft neben den üblichen Vertriebskosten besondere Vertriebskosten in Höhe von umgerechnet 338 897 DM entstanden seien, nicht ablehnen dürfen. Denn wenn diese Behauptung der Klägerin richtig ist, bestehen ernstliche Zweifel daran, ob eine verdeckte Gewinnausschüttung der Klägerin an die Muttergesellschaft vorliegt (§ 6 Abs. 1 Satz 2 KStG). Eine verdeckte Gewinnausschüttung setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, daß eine Kapitalgesellschaft ihrem Gesellschafter Vermögensvorteile zuwendet, die sie unter sonst gleichen Umständen bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einem Nichtgesellschafter nicht gewährt hätte. Im Streitfall ist daher zu prüfen, ob ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter - für dessen Handeln ein gewisser Ermessensspielraum besteht (BFH-Urteil vom 10. Januar 1973 I R 119/70, BFHE 108, 183, BStBl II 1973, 322) - einem Unternehmen in der Schweiz, das nicht Gesellschafter der Klägerin ist, das aber 90 v. H. der Erzeugnisse der Klägerin abnimmt, einen Kaufpreis zugestanden hätte, der unter dem Kaufpreis der inländischen Abnehmer lag. Grundsätzlich kommt es für die Prüfung, ob und in welcher Höhe eine verdeckte Gewinnausschüttung vorliegt, auf den am Markt erzielbaren Erlös an (BFH-Urteil vom 27. November 1974 I R 250/72, BFHE 114, 236, BStBl II 1975, 306). Liegt dieser unter den Selbstkosten der Kapitalgesellschaft, ist es keine verdeckte Gewinnausschüttung, wenn ihn die Kapitalgesellschaft mit ihrem Gesellschafter vereinbart. Denn sie braucht ihren Gesellschafter nicht schlechter zu behandeln als einen fremden Dritten (BFH-Urteil vom 10. Mai 1967 I 187/64, BFHE 88, 518, BStBl III 1967, 498). Andererseits wird ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter den Marktpreis auch dann fordern, wenn dieser über den Selbstkosten liegt. Denn sein Ziel muß es sein, Gewinn zu erzielen und diesen Gewinn nach Möglichkeit zu steigern.
Grenzen für die Preisgestaltung nach oben können sich ergeben aus dem Bestreben, neue Käufer zu gewinnen oder einen Kunden, insbesondere einen Großabnehmer, zu halten. Unter diesen Umständen wird der Verkäufer auch auf die Kostenstruktur des Käufers Rücksicht nehmen.
Sind im Streitfall der Muttergesellschaft der Klägerin besondere Vertriebskosten entstanden, die ihre Gewinnspanne ungewöhnlich geschmälert hätten, wenn nicht die Klägerin durch Vereinbarung eines niedrigeren Preises Rücksicht darauf genommen hätte, so liegt die Vereinbarung dieses Preises jedenfalls dann im Rahmen des Handelns eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters, wenn die eigene Gewinnspanne der Klägerin nicht übermäßig beeinträchtigt wurde. Insofern hat das FG recht, wenn es auf die Gesamtsituation der Muttergesellschaft der Klägerin abstellt. Im Aussetzungsverfahren braucht jedoch diese Gesamtsituation der Muttergesellschaft nicht untersucht zu werden. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen bereits dann, wenn die Klägerin den Nachweis der besonderen Vertriebskosten der Muttergesellschaft erbringt. Denn dadurch wird unsicher, ob in dem Preisunterschied eine verdeckte Gewinnausschüttung liegt.
Die Prüfung der Gesamtsituation der Muttergesellschaft, vor allem, ob die besonderen Vertriebskosten ihre Gewinne ungewöhnlich schmälern würden, bleibt dem Hauptverfahren vorbehalten. Dabei ist zu beachten, daß ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter bei der Preisgestaltung auf die Kostenstruktur des Käufers im allgemeinen nur dann Rücksicht nehmen wird, wenn dieser bereit ist, diese Kostenstruktur nachzuweisen.
Da die Sache bereits aus diesen Gründen an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wird, braucht der Senat auf die anderen Rügen der Klägerin nicht einzugehen.
Fundstellen
Haufe-Index 72443 |
BStBl II 1977, 765 |