Leitsatz (amtlich)
1. Beim Stand 1972 der Rechtsangleichung der EWG auf dem Gebiet des Zollrechts entschied sich die Frage, ob der Nachforderung von Zöllen der Grundsatz von Treu und Glauben entgegensteht, nach innerstaatlichem Recht.
2. Treu und Glauben stehen einer Steuernachforderung nur entgegen, wenn der Steuerpflichtige im Vertrauen auf das Verhalten der Verwaltung nicht mehr rückgängig zu machende Vermögensdispositionen getroffen hat.
Normenkette
AO §§ 223, 94 Abs. 1 Nr. 1; Treu und Glauben
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) beantragte am 10. Mai 1971 unter Vorlage der entsprechenden Dokumente beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt – HZA –) die Abfertigung von hundert Sack Rohkaffee zum freien Verkehr. Sie begehrte dabei, den Kaffee als sogenannte AASM-Ware zollfrei zu belassen, weil es sich um Kaffee handle, der aus Guinea stamme. Das HZA fertigte die Ware am selben Tag zum freien Verkehr ab und erhob keine Zölle, weil es glaubte, daß es sich um eine der sogenannten AASM-Ware gleichzustellende Ware handle und deshalb nach einem Erlaß des Bundesministers der Finanzen (BdF) die Voraussetzungen für die Zollfreiheit erfüllt seien.
Bei Inkrafttreten des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag – EWGV –) am 1. Januar 1958 gehörte die seit dem 2. Oktober 1958 unabhängige Republik Guinea zu den Ländern und Gebieten, denen nach Anhang IV des EWG-Vertrages Zollpräferenzen eingeräumt worden waren (vgl. Art. 131, 227 Abs. 3 EWGV). Die meisten der in diesem Anhang genannten Gebiete haben nach ihrer Unabhängigkeitserklärung mit der EWG ein Assoziierungsabkommen geschlossen, nicht jedoch die Republik Guinea (vgl. Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den mit dieser Gemeinschaft assoziierten afrikanischen Staaten und Madagaskar vom 29. Juli 1969 – BGBl II 1970, 522 –). Dennoch wurden Guinea von der Bundesrepublik Deutschland und von Frankreich die nach dem EWG-Vertrag vorgesehenen Vergünstigungen weiter gewährt Grundlage war der BdF-Erlaß vom 28. Dezember 1966 an die Zollstellen, in dem es heißt: „Bei Einfuhren aus der Republik Guinea sind einstweilen die Vergünstigungen des EWG-Vertrages weiter zu gewähren. Voraussetzung ist, daß ein entsprechend den Bestimmungen in den Nummern 27 bis 30 der EWG-Zollbestimmungen 1964 (BZBl 1963 S. 918) ausgestelltes Ursprungszeugnis vorgelegt wird.”
Durch Änderungsbescheid vom 4. Januar 1972 forderte das HZA von der Klägerin für den am 10. Mai 1971 zollfrei gelassenen Kaffee 1 391,30 DM Zoll mit der Begründung nach, es sei festgestellt worden, daß der Kaffee nicht aus Guinea gestammt habe, sondern zwischen dem 6. und dem 9. September 1970 in dem früheren französischen Treuhandgebiet von Kamerun im Hafen von Douala geladen worden sei. Der mit der Begründung eingelegte Einspruch, der Kaffee sei in Guinea erzeugt und verladen worden, blieb ohne Erfolg. Das HZA wies ihn mit der Begründung zurück, aufgrund eingehender Ermittlungen stehe fest, daß die Klägerin in Wahrheit Kamerun-Ware eingeführt habe. Dagegen erhob die Klägerin Klage, mit der sie unter Vortrag eines umfangreichen Beweismaterials an ihren bisherigen Behauptungen festhielt.
Auf Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts (FG) entschied der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EGH) mit Urteil vom 11. Dezember 1973 Rs. 147/73 (EGHE 1973, 1543), daß Art. 131 EWGV i. V. m. Anhang IV und dem genannten Assoziierungsabkommen vom 29. Juli 1969 dahin auszulegen sei, daß Einfuhren aus Guinea im Jahre 1971 nicht als Einfuhren zu behandeln gewesen seien, die aus einem mit der EWG assoziierten Staat oder Gebiet stammten, und ihnen daher die Zollfreiheit in den Mitgliedstaaten nicht habe zustatten kommen können. Daraufhin hob der BdF mit Erlaß vom 16. Januar 1974 den zitierten Erlaß vom 28. Dezember 1966 zum 1. April 1974 auf. Frankreich gewährte wegen seiner besonderen Beziehungen zu Guinea für Waren aus diesem Staat weiterhin Zollpräferenzen. Belgien und die Niederlande gewährten schon vor Erlaß der genannten Vorabentscheidung keine entsprechenden Zollfreiheiten.
Das FG Berlin wies die Klage durch Urteil vom 9. September 1977 III 502/73 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1978 S. 29 – EFG 1978, 29 –) ab.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Das HZA hat mit Bescheid vom 10. Mai 1971 die eingeführte Ware zollfrei belassen (§ 36 Abs. 2 des Zollgesetzes – ZG –). Das ist keine begünstigende Verfügung nach § 96 AO (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 13. Oktober 1870 VII R 40/68, BFHE 100, 279, Bundeszollblatt 1971, S. 237 – BZBl 1971, 237 –), sondern ein Freistellungsbescheid im Sinne des § 210 Abs. 3 AO, der einem Steuerbescheid auch hinsichtlich der Berichtigungsmöglichkeit gleichsteht (vgl. BFH-Urteil vom 10. Juni 1953 II 113/53 U, BFHE 57, 558, BStBl III 1953, 214).
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Verwaltung zur Nachforderung von Zöllen, die zu Unrecht zu niedrig festgesetzt oder überhaupt nicht erhoben worden sind, verpflichtet (§ 223 AO i. V. m. § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO). Im vorliegenden Fall sind – auch wenn man davon ausgeht, daß es sich um Waren mit Ursprung in Guinea handelt – zu Unrecht Zölle nach Maßgabe des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) nicht erhoben worden. Denn nach der in diesem Verfahren bindenden Vorabentscheidung des EGH kamen im Jahre 1971 Einfuhren aus Guinea nicht in den Genuß der Zollfreiheit, die für Waren aus mit der EWG assoziierten Staaten galt, da Guinea nicht zu diesen Staaten zählte. Da mit der Freigabe der streitbefangenen Waren die Zollschuld in der gesetzlich (d. h. nach den Zollsätzen des GZT) vorgesehenen Höhe entstanden ist (§ 58 Abs. 1 Satz 1 ZG), ist der Nachforderungsbescheid dann rechtens, wenn nicht der Geltendmachung dieses Abgabenanspruchs der Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstand (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 30. März 1971 VII R 38/68, BFHE 102, 27, BStBl II 1971, 450).
1. Die Frage, ob die Nachforderung mit dem Grundsatz von Treu und Glauben vereinbar ist, richtet sich nach der Ausprägung die dieser Grundsatz im innerstaatlichen Recht nach der Rechtsprechung erfahren hat. Im Gegensatz zur Meinung des FG ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes des Gemeinschaftsrechts (vgl. z. B. EGH-Urteil vom 3. Mai 1978 Rs. 112/77, EGHE 1978, 1019, 1032) hier nicht anwendbar.
Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts wird jede dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehende Bestimmung des innerstaatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar (vgl. z. B. EGH-Urteil vom 9. März 1978 Rs. 106/77, EGHE 1978, 629, 644). Dieser Grundsatz kann aber nur dort Wirkung entfalten wo Gemeinschaftsrecht und innerstaatliches Recht miteinander kollidieren, im Einzelfall also sowohl eine entscheidungserhebliche Rechtsnorm des Gemeinschaftsrechts als auch eine von ihr abweichende grundsätzlich ebenfalls entscheidungserhebliche nationale Rechtsnorm bestehen (vgl. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht – 1972 – S. 259). Fehlt es im Einzelfall an einer anwendbaren Norm des Gemeinschaftsrechts, so stellt sich die Frage nach dessen Vorrang nicht.
Das Gemeinschaftszollrecht besteht aus dem Gemeinsamen Zolltarif und den zu seiner Durchführung erlassenen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (gemeinschaftliches Zolltarifrecht) sowie aus dem außertariflichen Zollrecht der Gemeinschaft, das die Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften umfaßt, die zur Angleichung oder Vereinheitlichung der außertariflichen zollrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten ergangen sind (vgl. Regul, Steuern und Zolle im Gemeinsamen Markt, 47. Lieferung, IV G/1 S. 2). Dieses außertarifliche Gemeinschaftszollrecht enthält bisher nur partielle Zollregelungen, das gilt erst recht für das Jahr 1972, dem Zeitpunkt zu dem der angefochtene Nachforderungsbescheid erlassen wurde (vgl. zur Entwicklung der Zollrechtsangleichung innerhalb der Europäischen Gemeinschaften Regul, a. a. O., S. 9 ff. und das Mehrjahresprogramm der Europäischen Kommission zur Verwirklichung der Zollunion, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1979 S. 184 – ZfZ 1979, 184 –).
Das außertarifliche Gemeinschaftszollrecht weist also offene Lücken aus. Dabei handelt es sich im Regelfall nicht um Gesetzeslücken im Sinne der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre, die durch die gesetzesimmanente Fortbildung des Gemeinschaftsrechts geschlossen werden müßten. Vielmehr besteht, soweit sich nicht im Einzelfall durch Auslegung des Gemeinschaftsrechts etwas anderes ergibt, für die vom Gemeinschaftsrecht nicht geregelte Materie keine Regelungslücke, sondern es wird oder bleibt das entsprechende einzelstaatliche Recht anwendbar. Beim gegenwärtigen (und damaligen – 1972 –) Stand des außertariflichen Gemeinschaftszollrechts erhob und erhebt dieses nicht den Anspruch, allumfassend zu sein. Es konnte und kann dies schon deswegen nicht tun, weil ohne ergänzende Anwendung der Bestimmungen der einzelstaatlichen Zollrechte das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes ernstlich gefährdet wäre. Soweit das eine unterschiedliche Behandlung der Marktbürger zur Folge hat, ist dies eine zwangsläufige Folge der noch nicht vollendeten Rechtsangleichung.
Daß das Gemeinschaftszollrecht von dieser „Arbeitsteilung” zwischen Gemeinschafts- und nationalem Gesetzgeber ausgeht, belegt z. B. Art. 36 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 542/69 (VO Nr. 542/69) des Rates vom 18. März. 1969 über das gemeinschaftliche Versandverfahren (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften – ABLEG – L77/1 vom 29. März. 1969), wonach bei Zuwiderhandlungen im gemeinschaftlichen Versandverfahren fällig gewordene Zölle von dem betreffenden Mitgliedstaat „nach dessen Rechts- und Verwaltungsvorschriften” erhoben werden (vgl. auch die gleichlautende Bestimmung des Art. 36 Abs. 1 der diese Verordnung ablösenden VO Nr. 222/77 des Rates vom 13. Dezember 1976, ABLEG L 38/1 vom 9. Februar 1977). Gleiches ergeben auch die EGH-Urteile vom 11. Februar 1971 Rs. 39/70 (EGHE 1971, 49, 58), vom 16. Dezember 1976 Rs. 33/76 (EGHE 1976, 1989, 1998) und vom 5. Mai 1977 Rs. 110/76 (EGHE 1977, 851, 856).
Das Gemeinschaftszollrecht enthielt 1972 keine Vorschriften über die Nachforderung von Zöllen, die bei, ihrer Entstehung zu Unrecht unerhoben geblieben sind. Solche Vorschriften sind erst mit der VO Nr. 1697/79 des Rates vom 24. Juli 1979 (ABLEG Nr. 197/1 vom 3. August 1979) erlassen worden. Daraus ergibt sich, daß sich das Ob und das Wie der Nachforderungen von zunächst zu Unrecht unerhoben gebliebenen Zöllen damals nach nationalem Recht richtete.
Etwas anderes ist auch nicht aus den Urteilen des EGH zur Frage des Erlasses von Währungsausgleichsbeträgen und Abschöpfungen im Billigkeitswege zu entnehmen (Urteile vom 30. November 1972 R. 18/72, EGHE 1972, 1163, 1172, und vom 28. Juni 1977 Rs. 118/76, EGHE 1977, 1177, 1188). Dort hatte der EGH entschieden (vgl. Rs. 118/76, Absatz 5 der Gründe), daß die Berücksichtigung einer nationalen Billigkeitsvorschrift ausgeschlossen ist, „soweit sie eine Änderung der Tragweite der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Besteuerungsgrundlage, die Voraussetzungen der Veranlagung oder die Höhe der gemeinschaftsrechtlichen Abgabe bewirken würde”, und hat daraus den Schluß gezogen, daß danach eine innerstaatliche Behörde keinen Billigkeitserlaß gewähren darf, „der auf Erwägungen gestützt ist, die der wirtschaftlichen Rechtfertigung der betreffenden Abgabe entnommen sind”. Davon ist jedoch die Frage zu unterscheiden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Zolle nachgefordert werden können, die zunächst aufgrund vom Beteiligten nicht angefochtener Bescheide zu Unrecht unerhoben geblieben waren. Diese entspricht eher dem Problem, das der EGH in seinem Urteil in EGHE 1976, 1989, 1998, zu entscheiden hatte. Dort hatte der EGH erkannt, daß nationales Recht nicht mit Gemeinschaftsrecht kollidiert, das vorsieht, daß ein materiell gemeinschaftsrechtswidriger Zollbescheid deswegen bestehenbleibt, weil er wegen Versäumung der Rechtsbehelfsfristen nicht mehr angefochten werden kann. Hatte der EGH also dann offensichtlich keine Regelungen gesehen, die die Tragweite der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Besteuerungsgrundlage, die Veranlagungsvoraussetzungen und die Höhe der Abgabe verändert, so kann eine solche Regelung auch nicht darin liegen, daß ein einzelstaatlicher Gesetzgeber die Nachforderung von Zöllen, die aufgrund eines unanfechtbaren Erstbescheids gemeinschaftsrechtswidrig unerhoben blieben, nicht oder wenigstens unter bestimmten Umständen nicht vorsieht.
Auch das Urteil des EGH vom 15. Juli 1970 Rs. 41/69 (EGHE 1970, 661, 687) besagt nichts anderes. Dort hatte der EGH entschieden, daß die Vorschriften, aus denen sich die Befugnis der Kommission zur Verhängung von Geldbußen bei Zuwiderhandlungen gegen Wettbewerbsvorschriften ergibt (Art. 85 ff. EWGV), keine Verjährungsvorschriften enthalten und daher auch keine solchen anwendbar sind (Sätze 18 bis 20 der Gründe). Diese Rechtsfrage ist mit der vorliegenden nicht zu vergleichen. Die Wettbewerbsregeln des EWG-Vertrages enthalten nach dem Willen dieses Vertrages eine vollständige Regelung, so daß aus ihrem Schweigen hinsichtlich der Frage der Verjährung gefolgert werden mußte, daß eine Verjährung grundsätzlich nicht eintreten sollte. In der Frage der Nachforderung von Zöllen ist eine solche Auslegung nicht möglich. Der Gemeinschaftsgesetzgeber wollte durch sein Schweigen nicht die Anwendung der nationalen Vorschriften über die Zollnachforderung ausschließen. Ein solcher Wille scheidet schon deswegen aus, weil sonst eine Nachforderung – mangels entsprechender Gemeinschaftsvorschriften – grundsätzlich nicht möglich wäre. Eine solche, die materielle Durchsetzung des GZT beeinträchtigende Auffassung kann dem Gemeinschaftsgesetzgeber nicht unterstellt werden. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat vielmehr lediglich dadurch, daß er die Recht der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet noch nicht angeglichen oder vereinheitlicht hat, in Kauf genommen, daß die Rechte des einen oder anderen Mitgliedstaats eine solche Nachforderungsmöglichkeit nicht vorsehen und daher grundsätzlich mögliche Nachforderungen unterbleiben.
Nach allem ergibt sich, daß gemeinschaftsrechtliche Vorschriften der Anwendung der nationalen Vorschriften über die Nachforderung von Zöllen nicht entgegenstehen. Das bedeutet aber nicht nur, daß die Bestimmungen der §§ 223, 94 Abs. 1 Nr. 1 AO im vorliegenden Fall anwendbar sind. Es ergibt sich daraus auch, daß die Frage, ob der Nachforderung der Grundsatz von Treu und Glauben entgegensteht, nach innerstaatlichem Recht zu beantworten ist. Denn dieser Grundsatz wird dabei nicht abstrakt angewendet, sondern in einer ganz bestimmten, auf die Nachforderung bezogenen Ausprägung. Er wird als gewissermaßen den Nachforderungsvorschriften der Reichsabgabenordnung immanenter Rechtsgrundsatz betrachtet. Daher kann gegen seine Anwendung im vorliegenden Fall auch nicht vorgebracht werden zumindest insoweit liege doch eine Kollision mit Gemeinschaftsrecht vor, als dieses den gleichen Grundsatz des Vertrauensschutzes kenne. Auch der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz gewinnt seinen konkreten Inhalt nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen Sachverhalt und dem jeweils anwendbaren geschriebenen Recht (vgl. auch Art. 5 der VO Nr. 1697/79). Seine Existenz kann daher nicht bedeuten, daß die Anwendung des innerstaatlichen Grundsatzes von Treu und Glauben auch dort ausgeschlossen ist, wo dieser in einem unauflöslichen Zusammenhang mit – mangels entsprechenden Gemeinschaftsrechts anwendbaren – nationalen Vorschriften steht.
Da sich für den erkennenden Senat keine Zweifel bei der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen ergeben – insbesondere im Hinblick auf die zitierten einschlägigen Urteile des EGH –, ist er nicht verpflichtet, den EGH nach Art. 177 Abs. 3 EWGV anzurufen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 22. Oktober 1975 VII R 105/73, BFHE 117, 313).
2. Das FG hat zu Recht entschieden, daß sich die Klägerin nicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen kann.
Die Anwendung dieses Grundsatzes setzt im Regelfall voraus, daß sich der Steuerpflichtige und die Verwaltungsbehörde als Partner eines konkreten Rechtsverhältnisses gegenüberstehen (BFH-Urteil vom 10. Juni 1975 VIII R 50/72, BFHE 116, 103, 105, BStBl II 1975, 789, und vom 4. November 1975 VII R 28/72, BFHE 117, 317, 322). Es kann hier dahingestellt bleiben, ob diese Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt ist, in dem sich die Klägerin auf ihr Vertrauen in den Bestand eines Runderlasses des BdF beruft (vgl. dazu insbesondere das entsprechende BFH-Urteil sowie das Urteil vom 5. März 1964 IV 133/63 S, BFHE 79, 218, BStBl III 1964, 311). Denn jedenfalls scheidet die Anwendung des Grundsatzes aus den folgenden Gründen aus:
Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats verstößt die Inanspruchnahme eines Steuerpflichtigen durch einen Nachforderungsbescheid gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn sie im Widerspruch steht zu einem vorangegangenen nachhaltigen Verhalten oder einer nachdrücklichen Willensäußerung der Verwaltung, der Steuerpflichtige wegen dieses bisherigen Verhaltens der Verwaltung auf ein entsprechendes künftiges Verhalten vertraut hat und vertrauen durfte und daher die Nachforderung mit dem allgemeinen Rechtsempfinden unvereinbar ist (vgl. Urteil vom 25. Oktober 1977 VII R 5/74, BFHE 124, 105, 107, BStBl II 1978, 274, mit weiteren Nachweisen). Dieses Vertrauen des Steuerpflichtigen ist allerdings nur dann schutzwürdig, wenn es für ihn Grundlage von nicht mehr rückgängig zu machenden Vermögensdispositionen geworden ist (vgl. BFH-Urteil vom 11. August 1972 VI R 262/69, BFHE 107, 127, 132, BStBl II 1973, 35). Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen.
Die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben führt dazu, daß im Einzelfall gesetztes Recht weichen muß. Sie kann daher nur in Frage kommen, wenn es sich um einen besonders gelagerten Fall handelt, in dem das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach allgemeinem Rechtsgefühl in einem so hohen Maße schutzwürdig ist, daß demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten müssen (BFHE 124, 105, 108, BStBl II 1978, 274, 276). Mit dem allgemeinen Rechtsgefühl erscheint es nun nicht vereinbar, im Falle der Nachforderung von Zöllen das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein bestimmtes Verhalten der Verwaltung auch dann zu honorieren, wenn dieser in sein Vertrauen nichts „investiert” hat, sich also lediglich so verhalten hat, wie er sich auch verhalten hätte, wenn es nicht zu dem Vertrauen schaffenden Verhalten der Verwaltung gekommen wäre. In einem solchen Fall erscheint es nicht gerechtfertigt, ihn im Genuß dem Gesetz widersprechender Steuervorteile zu belassen. Soweit der erkennende Senat im Urteil vom 19. Januar 1965 VII 22/62 S (BFHE 81, 572, 584 BStBl III 1965, 206, 210) anders entschieden haben sollte, hält er daran nicht mehr fest.
Es muß sich um Vermögensdispositionen im Zusammenhang mit dem Verwaltungsverhalten handeln, in dessen Bestand der Steuerpflichtige vertraute und das Gegenstand des Schutzes durch den Grundsatz von Treu und Glauben ist. Das ist im vorliegenden Fall, wie auch die Klägerin betont, der genannte BdF-Erlaß. Nicht in Betracht kommt dagegen das etwaige Vertrauen in die Unveränderlichkeit des Freistellungsbescheids. Denn dieses Vertrauen als solches ist nicht schutzwürdig, wie sich aus der gesetzlichen Regelung der §§ 223, 94 Abs. 1 Nr. 1 AO ergibt, die die Abänderbarkeit des Bescheids grundsätzlich vorsehen.
Von dieser Rechtslage ist auch die Vorentscheidung ausgegangen. Nach ihr hat die Klägerin nicht einmal behauptet, daß sie den Kaffee, der Gegenstand des Nachforderungsbescheids ist, nicht gekauft hatte, wenn sie mit der Zollbelastung gerechnet hätte. Daraus ergibt sich die Feststellung des FG, daß die Klägerin besondere Vermögensdispositionen im Hinblick auf das Verhalten der Verwaltung nicht getroffen hat. An diese Feststellung, die von der Klägerin mit Revisionsrügen nicht angegriffen worden ist, ist der erkennende Senat gebunden (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Demgegenüber fällt nicht ins Gewicht, daß die Zollnachforderung im Streitfall auf den Endverbraucher nicht mehr abgewälzt werden konnte. Darin allein liegt keine Vermögensdisposition der Klägerin im oben genannten Sinn, sondern lediglich eine Gewinnschmälerung. Überdies hat das FG hierzu festgestellt – und die Revision hat diese Feststellungen nicht mit Rügen angegriffen –, daß der Endverbraucherpreis von Kaffee im wesentlichen durch den Weltmarktpreis für Rohkaffee bestimmt wird. Daraus ergibt sich, daß ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Verzollung oder Nichtverzollung im Einzelfall einerseits und Verkaufspreis andererseits auf dem Kaffeemarkt nicht besteht. Dann aber ist der Freistellungsbescheid nicht ursächlich für eine etwaige Vermögensdisposition geworden, die zur Nichtabwälzung der Zölle führte. Daß schließlich Vermögensdispositionen, die in der Investition der aufgrund der Einsparung der Zollbeträge erwirtschafteten Gewinne liegen, nicht solche Dispositionen sind, die die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben rechtfertigen, ist unschwer aus den obigen Ausführungen zu entnehmen.
Der von der Klägerin hervorgehobene Umstand, daß sich das HZA zunächst nicht auf das Fehlen einer Rechtsgrundlage für die Zollfreiheit von Guinea-Kaffee berufen hat, ist ohne Belang. Ein nachhaltiges Verhalten der Verwaltung liegt darin schon deswegen nicht, weil es erst in der Begründung des angefochtenen Bescheids zum Ausdruck gekommen ist. Soweit die Klägerin mit ihrem Vorbringen zum Ausdruck bringen will, dem Gericht sei die Prüfung dieser Frage verwehrt, ist ihr nicht zu folgen. Das Gericht hat die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids unabhängig vom Vorbringen der Beteiligten unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen.
Da der angefochtene Nachforderungsbescheid schon aus den genannten Gründen den Grundsatz von Treu und Glauben nicht verletzt hat, bedarf es keines Eingehens auf die Frage, ob seine Anwendung nicht auch deswegen ausscheidet, weil die Klägerin wußte oder wissen mußte daß der BdF-Erlaß dem Recht nicht entsprach (vgl. Urteil des erkennenden Senats in BFHE 124, 105, 108, BStBl II 1978, 274).
Fundstellen
Haufe-Index 510434 |
BFHE 1980, 90 |