Leitsatz (amtlich)
Ist die Bedeutung eines Zollantrags ernstlich zweifelhaft, so ist die Zollstelle nach Treu und Glauben verpflichtet, sich mit dem Zollbeteiligten in Verbindung zu setzen, bevor sie dem Antrag stattgibt. Wird diese Pflicht verletzt, so widerspricht unter gewissen Umständen die Inanspruchnahme des Zollbeteiligten für den Zoll ebenfalls Treu und Glauben.
Normenkette
Treu und Glauben; ZG § 12 Abs. 1; AZO § 20 Abs. 1 Nr. 6
Tatbestand
Die Rechtsvorgängerin (Klägerin) der nunmehrigen Klägerinnen und Revisionsbeklagten beantragte am 28. Dezember 1971 beim Zollamt (ZA) die Abfertigung von Seidengewebe aus Indien zum freien Verkehr Unter der Rubrik „Zusätze” des Vordrucks des Zollantrages hatte die Klägerin vermerkt: „Wir beantragen Abfertigung zum Präferenzzollsatz.” Das ZA nahm den Zollantrag am selben Tag um 10 Uhr entgegen, wies die Ware ohne Zollbeschau der Tarifst. 50.09 C II zu und gab sie um 10.15 Uhr frei. Mit Bescheid vom 29. Dezember 1971 erhob die Zollstelle einen Zoll in Höhe von 3 552,03 DM.
Gegen diesen Zollbescheid erhob die Klägerin nach erfolglosem Einspruch Klage. Diese hatte Erfolg.
Mit der Revision rügt das Hauptzollamt – HZA – die Verletzung der §§ 10 Abs. 1, 11 Abs. 1, 12 ZG und §§ 20 Abs. 1 Nr. 6 und 22 Abs. 2 der Allgemeinen Zollordnung (AZO).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Zum 1. Juli 1971 haben die Europäischen Gemeinschaften (EG) entsprechend ihrem bei der Welthandelskonferenz hinterlegten Angebot ein umfassendes Präferenzsystem zugunsten der Entwicklungsländer eingeführt, über dessen Einzelheiten die Verordnungen (EWG) Nr. 1308 bis 1313 – VO (EWG) 1308 bin 1313 – des Rates vom 21. Juni 1971 (ABlEG Nr. L 142 vom 28. Juni 1971) und ihre Begründungen sowie der Erlaß des Bundesministers der Finanzen (BdF) vom 23 Juni 1971 F/III B 5 – Z 1230 – 21/71 (Bundeszollblatt 1971 S. 617 – BZBl 1971, 617 –) Aufschluß geben. Danach gewährten die EG unter bestimmten Voraussetzungen (Ursprungsnachweis) für bestimmte Waren aus bestimmten Entwicklungsländern Präferenzzollsätze. Für sogenannte empfindliche Waren waren Zollkontingente, für sogenannte quasiempfindliche Waren sogenannte Plafonds (Höchstmengen für Einfuhren innerhalb eines Begünstigungszeitraums) vorgesehen Als zusätzliche Sicherung war ein Puffersystem eingeführt worden wonach die Einfuhren aus den einzelnen begünstigten Entwicklungsländern bestimmte Höchstbeträge oder Höchstmengen (Puffer) nicht überschreiten durften; es war vorgesehen, daß bei Erreichen des Puffers die betreffenden Waren für den restlichen Begünstigungszeitraum von der Präferenzgewährung ausgeschlossen werden. Als erster Begünstigungszeitraum war die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1971 festgesetzt worden. Für Seidengewebe aus Indien der Tarifnr. 50.09 des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) sah die VO (EWG) 1313/71 des Rates vom 21. Juni 1971 (ABlEG Nr. L 142 vom 28. Juni 1971, 76) eine Zollpräferenz in Form der Zollfreiheit im Rahmen bestimmter auf den genannten Begünstigungszeitraum bezogener Plafonds und Puffer und ein Verwaltungsverfahren zur Überwachung der Plafonds und Puffer vor. Nachdem für Seidengewebe aus Indien am 7. Dezember 1971 der Puffer erreicht war, wurde der normale Zollsatz des GZT für diese Ware mit Wirkung vom 26. Dezember 1971 durch die VO (EWG) 2749/71 der Kommission vom 22. Dezember 1971 (ABlEG Nr. L 282 vom 23. Dezember 1971, 45) wieder eingeführt. Der BdF unterrichtete davon die Zollstellen fernschriftlich am 23. Dezember 1971 und später durch Erlaß vom 11. Januar 1972 F/III B 5 – Z 1230 – 111/71 (BZBl 1972, 108). Mit Beginn des neuen Begünstigungszeitraums am 1. Januar 1972 wurde der Präferenzzollsatz für die genannte Ware aus Indien wieder eingeführt (VO (EWG) 2799/71 des Rates vom 20. Dezember 1971, ABlEG Nr. L 287 vom 30. Dezember 1971, 153).
Aus dieser Rechtslage ergab sich für Wirtschaft und Verwaltung, daß grundsätzlich Präferenzen für die genannten Waren aus Entwicklungsländern langfristig gewährt werden sollten, daß diese aber bei Erreichen von Plafonds oder Puffer kurzfristig für den Rest des jeweiligen Begünstigungszeitraumes ausgesetzt werden konnten (mit Wiedergewährung bei Beginn des neuen Begünstigungszeitraumes) und daß die recht komplizierte Überwachung von Plafonds und Puffer bei der Verwaltung (in erster Linie bei der Kommission der EG unter Mitwirkung der Zollverwaltungen der Mitgliedsstaaten) lag. Vor diesem Hintergrund ist die Antragstellung der Klägerin zu sehen.
Die Klägerin hatte durch Ankreuzen in der Zeile 4 des amtlichen Formulars den Antrag auf Abfertigung zum freien Verkehr gestellt, in der wenige Zeilen darunter befindlichen Rubrik „Zusätze” jedoch zusätzlich vermerkt: „Wir beantragen Abfertigung zum Präferenzzollsatz”. Die Vorinstanz hat in dieser Art und Weise der Antragstellung keine „Anmeldung” der Präferenzberechtigung im Sinne des Abschn. II Nr. 9 der EG-Präferenzbestimmungen (BZBl 1971, 1326) gesehen. Diese Regelung – eine Verwaltungsanweisung – beruht auf § 12 Abs. 1 ZG und § 20 Abs. 1 Nr. 6 AZO. Nach diesen Bestimmungen ist der Zollanmelder nicht verpflichtet, eine allgemeine Willenserklärung des Inhalts abzugeben, daß er die Anwendung des Präferenzzollsatzes wünsche. Er ist vielmehr nur gehalten, „die Umstände” anzumelden, von denen die Präferenzberechtigung abhängt (§ 20 Abs. 1 Nr. 6 AZO), also tatsächliche Angaben entsprechenden Inhalts zu machen. Das hat die Klägerin im vorliegenden Fall u. a. dadurch getan, daß sie das für Präferenzwaren vorgeschriebene Ursprungszeugnis vorlegte (das gleichzeitig der vorgeschriebene Nachweis im Sinne des § 22 Abs. 2 AZO war). Das alles schließt freilich nicht aus, daß ein Hinweis in Form des genannten Zusatzes je nach den Umständen des Falles in der Tat nichts anderes bedeutet als den sachlichen Hinweis auf die von der Zollstelle anzuwendenden Rechtsvorschriften ohne weitere Auswirkung auf den Zollantrag selbst. Das gilt aber – wie die Vorinstanz im Ergebnis zu Recht entschieden hat – wegen der besonderen oben geschilderten Umstände nicht für den vorliegenden Fall.
Das FG ist davon ausgegangen, daß der Zollantrag unter einer Bedingung gestellt worden und daher unwirksam ist. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob dem gefolgt werden kann. Es kann ferner unentschieden bleiben, ob die Tatsache der Bedingung oder des Nichteintritts der Bedingung den Antrag unwirksam macht und ob die Unwirksamkeit des Antrags die Unwirksamkeit der Abfertigungshandlung – der vorzeitigen Freigabe – nach sich zieht, weil diese ein mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt ist und daher ohne diese Mitwirkung (ohne wirksamen Zollantrag) selbst unwirksam ist und somit ein Tatbestandsmerkmal für die Entstehung der Zollschuld nicht erfüllt ist. Denn jedenfalls kann sich die Klägerin – wie das FG im Ergebnis zu Recht entschieden hat – gegenüber dem angefochtenen Zollbescheid auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen.
Aus der Art und Weise der Antragstellung (mit Zusatz) vor dem Hintergrund der für Präferenzen zum damaligen Zeitpunkt geltenden Rechtslage mußten sich für die Zollstelle zumindest ernstliche Zweifel darüber ergeben, ob damit die Klägerin nicht die Abfertigung zum freien Verkehr vom Bestehen eines Präferenzzollsatzes abhängig machen wollte. Die Zollstelle konnte sich also nicht damit begnügen, den Antrag kommentarlos zum Anlaß einer Abfertigung zum freien Verkehr ohne Rücksicht auf die Frage zu nehmen, ob die Präferenz im maßgebenden Zeitpunkt noch zu gewähren war. Sie mußte sich vielmehr sagen, daß sie durch ein solches Handeln die Klägerin vor vollendete Tatsachen stellen würde, falls in der Tat ein Antrag gestellt war und die Präferenz im Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr galt.
Die Grundsätze von Treu und Glauben gebieten, daß im Rechtsverkehr jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren Verhalten, auf das der andere vertraut hat, nicht in Widerspruch setzt (vgl. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 2 AO Anm. 40). Diesem Grundsatz ist zwar im Regelfall keine Pflicht zur Beratung des Steuerpflichtigen zu entnehmen (BFH-Urteil vom 21. Juni 1961 VII 19/60, ZfZ 1961, 370). Auch muß davon ausgegangen werden, daß es im Regelfall dem Steuerpflichtigen aufgegeben ist, sich in angemessener Weise zu informieren. Im vorliegenden Fall aber erforderten es die besonderen Umstände und insbesondere die Art und Weise der Antragstellung, daß die Zollstelle, bevor sie die Abfertigung mit ihrer grundsätzlich nicht mehr rückgängig zu machenden Wirkung vornahm, mit der Klägerin Rücksprache nahm und ihr Gelegenheit gab, entweder den Antrag auf Abfertigung zum freien Verkehr zurückzunehmen oder ihre Wünsche zu präzisieren (vgl. auch BFH-Urteil vom 26. Januar 1965 VII 150/62, HFR 1965, 428). Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob die Zollstelle im Augenblick der Abfertigung (Freigabe) konkret wußte, daß die Präferenz bereits aufgehoben war. Zu Recht ist die Vorinstanz davon ausgegangen, daß eine etwaige Unkenntnis der Zollstelle darüber nicht zu Lasten der Klägerin gehen dürfe. Denn nach der Gestaltung der Verhältnisse hätte die Zollstelle zumindest wissen müssen, daß die Präferenz nicht mehr galt, und zwar eher als die Klägerin, da die Überwachung der Präferenz sich im Schoße der Verwaltung vollzog und nicht erwartet werden konnte, daß der Klägerin die kurzfristig vorher angeordnete Aufhebung der Präferenz am 28. Dezember 1971 schon bekannt war. Hätte aber die Zollstelle entsprechend ihrer sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergebenden Pflicht mit der Klägerin Rücksprache genommen, so hätte diese – wie aus den Feststellungen des FG mittelbar zu entnehmen ist – den Antrag zurückgezogen und wenige Tage später erneuert, so daß sie in den Genuß der Präferenz gelangt wäre. Es widersprach daher auch dem genannten Grundsatz, daß die Zollstelle mit Berufung auf die unter Verletzung dieses Grundsatzes zustande gekommene Abfertigung der Waren zum freien Verkehr die Klägerin für den Zoll in Anspruch nahm.
Fundstellen
Haufe-Index 510506 |
BFHE 1978, 197 |