Leitsatz (amtlich)
Der Tarif des Einkommensteuergesetzes 1965 ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Normenkette
EStG 1965 § 32a Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hat gewerbliche Einkünfte als Mitgesellschafter einer KG und Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus einer Grundstücksgemeinschaft. Im Streitjahre 1965 betrugen die Einkünfte aus Gewerbebetrieb 143 164 DM, die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung 1 503 DM und der zu versteuernde Einkommensbetrag 126 922 DM. Die Einkommensteuer wurde nach der Splittingtabelle auf 46 818 DM festgesetzt.
Mit der Klage rügte der Kläger nach erfolglosem Einspruch die Verfassungwidrigkeit der angewandten Einkommensteuertabelle. Er ist der Auffassung, der Steuertarif verstoße durch die Ausgestaltung seiner Progression gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG.
Das FG hat den Standpunkt vertreten, der Einkommensteuertarif nach der Einkommensteuertabelle zu § 32a Abs. 1 EStG 1965, der dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid zugrunde liegt, sei mit dem Grundgesetz vereinbar; es hat demgemäß die Einholung einer Entscheidung des BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG abgelehnt und die Klage abgewiesen. Es hat dargelegt, daß die Ausgestaltung des streitigen Tarifsystems den zu Art. 3 Abs. 1 GG vom BVerfG entwickelten Grundsätzen nicht widerspreche. Auch eine Verletzung des Art. 14 GG sei nicht festzustellen.
Mit der Revision beantragt der Kläger,
1. den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1965 vom 15. Juni 1967 ersatzlos aufzuheben;
2. die Einkommensteuer für das Jahr 1965 auf höchstens 30 % des zu versteuernden Einkommens festzusetzen;
Er verweist darauf, das BVerfG habe ausgesprochen, die Ausgestaltung der Einkommensteuer sei nur dann verfassungsgemäß, wenn der wirtschaftlich Leistungsfähigere einen höheren Prozentsatz seines Einkommens bzw. Gewinns als Steuer zahlen müsse als der wirtschaftlich Schwächere (Urteile des BVerfG vom 24. Juni 1958 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51 [68-69], BStBl I 1958, 403 und vom 24. Januar 1962 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 [346] BStBl 1 1962, 500). Er meint aber, die pauschale Bezugnahme auf diese Urteile des BVerfG durch das erstinstanzliche Gericht begegne Bedenken.
Der Kläger führt u. a. aus, der geltende Einkommensteuertarif halte für Einkommen bis zu ca. 8 000 DM am Grundsatz der proportionalen Besteuerung fest. Schon hier stellten sich Zweifel ein, ob eine solche Art der Besteuerung mit den vom BVerfG herausgearbeiteten Leitsätzen zu Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren sei, wonach der wirtschaftlich Leistungsfähigere einen höheren Prozentsatz seines Einkommens zu zahlen habe als der wirtschaftlich Schwächere. Es lasse sich nicht bestreiten, daß derjenige, der ein Einkommen von 8 000 DM zu versteuern habe, wirschaftlich leistungsfähiger sei als der Steuerpflichtige, der nur 4 000 DM zu versteuern habe. Dennoch finde diese Zunahme der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in der Tabelle keinen oder nur einen unzureichenden Niederschlag.
Das Mißverhältnis zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und tatsächlich aufzubringender Steuer werde noch deutlicher, wenn man sich den Teil der Tabelle näher ansehe, der die Einkommen zwischen 8 000 DM und 110 000 DM bzw. - bei Zusammenveranlagung der Ehegatten zwischen 16 000 DM und 220 000 DM - betreffe. Ausgehend von dem bereits mehrfach zitierten Grundsatz, den das BVerfG herausgearbeitet habe, müßte man annehmen, daß mit wachsendem Einkommen auch die direkte Progression entsprechend zunehme. Dies sei jedoch nicht der Fall. Es zeige sich, daß die Progressionskurve mit steigendem Einkommen zunehmend flacher werde, bis sie bei 110 000 DM bzw. bei 220 000 DM in einen proportionalen Endtarif übergehe.
Besonders offenkundig werde das Mißverständnis zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und tatsächlich aufzubringender Steuer bei den Einkommen, die in den Spitzensteuersatz von 53 % fielen. Hier finde nämlich die Zunahme der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in der Tabelle keinen Niederschlag mehr.
Der Gesetzgeber sei innerhalb der vom Grundgesetz gezogenen Grenzen weitgehend frei, wie er die Besteuerung der Einkommen vornehme. Obwohl gegen den Grundsatz der Leistungsfähigkeit wissenschaftlich erhebliche Bedenken anzumelden seien, werde man dem Gesetzgeber prinzipiell nicht verwehren können, diesen Grundsatz zum Ausgangspunkt und tragenden Pfeiler des Einkommensteuersystems zu machen. Wenn er sich dafür entscheide, dann sei er jedoch gehalten, alle Steuerzahler gleichzubesteuern.
Von dem gewählten Ausgangspunkt her bedeute dies nichts anderes, als eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit des jeweiligen Steuerzahlers. Nur wenn er so vorgehe, sei nach Art. 3 Abs. 1 GG dem Prinzip der Systemgerechtigkeit Genüge getan.
Hiervon ausgehend seien folgende Systemwidrigkeiten und damit Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG festzustellen:
1. Systemwidrig sei zunächst allgemein, daß der Gesetzgeber das Prinzip der Leistungsfähigkeit nicht konsequent durchführe, sondern nur bei der Besteuerung der Einkommen anwende, die zwischen 8 000 DM und 110 000 DM liegen.
2. Systemwidrig sei die einkommensteuerliche Behandlung der Einkommen zwischen 1 710 DM und 8 000 DM.
3. Systemwidrig sei die einkommensteuerliche Behandlung der Einkommen zwischen 8 000 DM und 110 000 DM, weil sich Progression und Zunahme der Leistungsfähigkeit nicht entsprächen. Es ließen sich keine hinreichenden sachlichen Gründe für die Annahme finden, daß von einem bestimmten Einkommen an die Leistungsfähigkeit nicht mehr in dem Maße zunehme, wie die Einkommen stiegen, sondern sogar noch abnehme.
4. Systemwidrig sei die einkommensteuerliche Behandlung der Einkommen über 110 000 DM, weil hier infolge des gleichbleibenden Steuersatzes von 53 % das Prinzip der Leistungsfähigkeit gänzlich unberücksichtigt bleibe.
Wenn der Gesetzgeber davon ausgehe, daß der zur Zeit vertretbare Höchstsatz der Einkommensteuer 53 % betrage - offenbar weil er annehme, daß ein noch höherer Steuersatz die Schwelle der Enteignung gemäß Art. 14 GG überschreiten würde -, dann könne der Höchstsatz aber konsequenterweise nur auf die sog. Spitzeneinkommen Anwendung finden. Setze man das Einkommen des Klägers in Bezug zu den in Rede stehenden Spitzeneinkommen, die erheblich über der Millionengrenze liegen dürften, erscheine für das Einkommen des Klägers ein Steuersatz von 30 % angemessen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
1. Der Antrag in der vorliegenden Form ist mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht vereinbar. Danach sind die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Es besteht zwischen den Beteiligten Übereinstimmung dahin, daß die Einkommensteuer des Klägers nach den gesetzlichen Vorschriften richtig festgesetzt ist. Dann hat die Bindung an das Gesetz aber zur Folge, daß auch das FG nicht befugt ist, an die Stelle des festgesetzten Steuerbetrages einen anderen Betrag zu setzen, der vom Kläger selbst in seinem Antrag nur vage umschrieben wird ("höchstens 30 v. H. des zu versteuernden Einkommens"). Für den BFH gilt das gleiche. Der Antrag, den Einkommensteuerbescheid ersatzlos aufzuheben und durch einen Bescheid mit einem anderen Steuerbetrag zu ersetzen, ist also von vornherein unbegründet.
Was der BFH allein tun könnte und was der Kläger offenbar auch allein erreichen will, wie seinem Antrag beim FG zu entnehmen ist, ist die Vorlage an das BVerfG mit dem Ziel, den geltenden Einkommensteuertarif, der zur Festsetzung des streitigen Steuerbetrags geführt hat, für verfassungswidrig zu erklären.
Der hiernach zu beanstandende Revisionsantrag entbindet den Senat aber nicht von der Pflicht zu prüfen, ob der angefochtene Einkommensteuerbescheid etwa deshalb zu Bedenken Anlaß gibt, weil der ihm zugrunde liegende Einkommensteuertarif dem Grundgesetz nicht entspricht, so daß die Entscheidung des BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG hierüber einzuholen wäre. Hierzu besteht aber nach Auffassung des Senats kein Anlaß.
2. Steuern sind nach § 1 Abs. 1 AO einmalige oder laufende Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einkünften allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Die Einkommensteuer ist eine Steuer in diesem Sinne.
Es entspricht aber der allgemeinen Auffassung, daß die Erzielung von Einkünften nicht der einzige Zweck der Einkommensteuer zu sein braucht. Es können daneben mit ihrer Erhebung - wie mit der Erhebung jeder anderen Steuer - auch noch andere Ziele verfolgt werden. Insbesondere seit dem Ende des zweiten Weltkriegs, vor allem aber seit der Währungsumstellung im Jahre 1948 hat sich immer stärker die Tendenz gezeigt, die Lenkungsfunktion der Steuern in den Vordergrund zu rükken. Steuergesetze werden mehr und mehr als Mittel zur Erreichung wirtschafts-, gesellschafts- und staatspolitischer Ziele eingesetzt. Vor allem die Einkommensteuer ist immer mehr zu einem staatlichen Instrument der Lenkung der Volkswirtschaft ausgebaut worden. Das ist vom BFH (vgl. u. a. die Urteile vom 14. Juli 1959 I 100/58 U, BFHE 69, 230, BStBl III 1959, 349, und vom 12. Februar 1960 VI 176/59 U, BFHE 70, 464, BStBl III 1960, 174) und auch vom BVerfG als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt worden. Nach der von ihm in dem Beschluß vom 24. September 1965 1 BvR 228/65 (BVerfGE 19, 119) getroffenen Entscheidung (das Kuponsteuergesetz betreffend) dürfen diese anderen Zwecke sogar u. U. den Zweck der Einnahmenerzielung überwiegen (ebenso BFH-Beschluß vom 12. Februar 1970 V B 33, 34 u. a. /69, BFHE 97, 456, BStBl II 1970, 246).
Zu den Zielen, die bei der Ausgestaltung der Einkommensteuer berücksichtigt werden dürfen, u. U. müssen, gehört die Vermeidung einer Beeinträchtigung der Bereitschaft zur Arbeit und einer Einengung des unternehmerischen Bewegungsspielraums und Gewinnstrebens (vgl. Gutachten der Steuerreformkommission 1971, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 17, Bonn 1971, S. 211). Die Kommission sieht wohl nicht zu Unrecht die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft nur dann als gesichert an, wenn diese Gesichtspunkte angemessen berücksichtigt werden. Ein weiterer Gesichtspunkt, der insbesondere beim Tarifaufbau und speziell bei der Wahl des Spitzensteuersatzes berücksichtigt werden muß, ist eine Angleichung der Belastung der verschiedenen Unternehmensformen durch Vergleich der ertragsteuerlichen Belastung von großen Personengesellschaften einerseits und Kapitalgesellschaften andererseits. Vor allem ist aber bei Steuern, die, wie die Einkommensteuer, an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen ausgerichtet sind, die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte zulässig und geboten (Beschluß des BVerfG vom 9. Februar 1972 1 BvL 16/69, BStBl II 1972, 408).
3. Es ist allgemein anerkannt und wird auch vom Kläger trotz gewisser Bedenken nicht bestritten, daß es zum Wesen der Einkommensteuer gehört, den einzelnen Steuerpflichtigen nach seiner Leistungsfähigkeit zu erfassen. Der Kläger weist mit Recht auf die Schwierigkeiten hin, den Begriff der "Leistungsfähigkeit" exakt zu umgrenzen (vgl. hierzu auch Schmölders in Handwörterbuch des Steuerrechts und der Steuerwissenschaften, Stichwort "Leistungsfähigkeit"). Die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte (vgl. BVerfG-Beschluß 1 BvL 16/69) ist nur eine von vielen Komponenten.
Die Leistungsfähigkeit richtet sich nicht nur nach der Höhe des Einkommens, sondern kann auch durch andere Momente beeinträchtigt werden, so durch den Familienstand und durch anerkennenswerte andere Belastungen. Der Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit dienen deshalb nicht nur der Tarifaufbau, sondern auch andere Vergünstigungen, so das Splitting bei Ehegatten, die Kinderfreibeträge, bestimmte Sonderausgaben sowie die außergewöhnlichen Belastungen.
4. Der Einkommensteuertarif ist von der Steuerreformkommission 1971 mit Recht als das Kernstück des Einkommensteuerrechts bezeichnet worden (Gutachten S. 209). Die Gestaltung des Einkommensteuertarifs muß sich in erster Linie danach richten, welche Einnahmen die öffentliche Hand durch seine Anwendung glaubt erzielen zu können und müssen. Dies ist eine rein politische Entscheidung, die allein dem Gesetzgeber zusteht. Das gleiche muß aber grundsätzlich auch für die Frage gelten, ob, wie weit und in welcher Weise andere Ziele als die Einnahmenerzielung mit der Einkommensteuer erreicht werden sollen. Alle diese Entscheidungen des Gesetzgebers müssen sich im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung halten. Die Entscheidung darüber, welche Aufgaben, insbesondere welche Reformmaßnahmen, in Angriff genommen werden und wie sie finanziert werden sollen, gehört zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die sich grundsätzlich auch der Nachprüfung des BVerfG entzieht (Beschluß des BVerfG 1 BvL 16/69).
Es besteht allgemeine Übereinstimmung, die auch vom BVerfG (vgl. insbesondere die Entscheidungen 2 BvF 1/57 und 1 BvR 845/58) geteilt wird, daß nur ein progressiv gestalteter Einkommensteuertarif der Forderung nach einer Ausrichtung der Einkommensteuer am Prinzip der Leistungsfähigkeit gerecht wird. In seinem progressiven Verlauf kann man nicht mit Unrecht das klassische Beispiel für die Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit im Steuerrecht sehen (so Gutachten der Steuerreformkommission 1971 S. 209).
5. Der dem Streitfall zugrunde liegende Einkommensteuertarif des Einkommensteuergesetzes 1965 ist wie folgt gestaltet: An den allgemeinen Freibetrag von 1 680 DM schließt sich eine proportionale Eingangsstufe für zu versteuernde Einkommensbeträge bis zu rd. 8 000 DM an. An die proportionale Eingangsstufe schließen sich drei Progressionsstufen an. Die erste reicht von rd. 8 000 DM bis rd. 30 000 DM. Der Spitzensteuersatz beginnt mit 19 % und steigt nicht geradlinig, sondern parabelförmig bis auf 40,674 % an, d. h. sein Anstieg verzögert sich mit wachsendem Einkommen. Es folgt eine zweite Progressionsstufe für Beträge von 30 000 DM bis rd. 78 000 DM; der Spitzensteuersatz beginnt bei 40,7 % und steigt, ebenfalls parabelförmig, also mit wachsendem Einkommen verzögernd, bis auf 49,78 %. Die dritte Progressionsstufe erstreckt sich auf den Bereich zu versteuernder Einkommensbeträge von 78 000 DM bis rd. 110 000 DM. Der Spitzensteuersatz beginnt bei 49,93 v. H. und steigt bis auf 51,92 %. Hieran schließt sich die proportionale Endstufe mit einem Spitzensteue satz von 53 % für zu versteuernde Einkommensbeträge von rd. 110 000 DM an. (Bei Anwendung des Splittings verdoppeln sich alle vorstehend genannten zu versteuernden Einkommensbeträge.) Wegen weiterer Einzelheiten vgl. Blümich-Falk, Einkommensteuergesetz, 10. Aufl., § 32a Anm. 1 d. Entsprechend den vorstehenden Ausführungen liegen dem Einkommensteuertarif nicht eine, sondern fünf Formeln zugrunde (vgl. Anlage zu § 32a EStG, BStBl I 1964, 562).
6. Die Ausführungen unter 5 zeigen, daß die Bemerkungen des Klägers über den Tarifaufbau zutreffen. Es ist kein Progressionstarif mit einer völlig gleichmäßigen Progression vom allgemeinen Freibetrag bis zu den höchsten Einkommen: In der unteren Progressionszone wie in der oberen Progressionszone ab 110 000 DM enthält er keine direkte, sondern nur eine indirekte Progression. Aber auch die echte Progressionszone weist keinen geradlinigen Progressionsverlauf auf, sondern beruht auf dem Prinzip einer sich mit wachsendem Einkommen verzögernden Progression.
Dieser Tarifaufbau verstößt aber entgegen der Auffassung des Klägers nicht gegen die vom FG zutreffend wiedergegebenen, vom BVerfG entwickelten Grundsätze zur Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG. Er hält sich innerhalb der Grenzen des Ermessens des Gesetzgebers und läßt insbesondere keine Willkür erkennen. Wie bereits ausgeführt und vom Kläger selbst dargelegt, ist der Begriff der "Leistungsfähigkeit" nicht exakt zu umgrenzen, sondern als allgemeiner Leitsatz aufzufassen. Wie Wöhe (DStR 1971, 199 [201]) zutreffend hervorhebt, gibt es für den Verlauf der Progressionskurve wie überhaupt zur Feststellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Steuerpflichtigen keine objektiven Maßstäbe (ebenso Bericht der Steuerreformkommission S. 30 Ziff. 41). Jeder Progressionstarif entspricht grundsätzlich der Forderung nach Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit im Sinne einer relativ stärkeren Heranziehung höherer Einkommen und ist verfassungsgemäß, sofern der Progressionsverlauf nicht willkürlich ist oder im oberen Bereich zu nicht vertretbaren Belastungen führt. Der Senat teilt nicht die Ansicht des Klägers, nur ein Progressionstarif, der von einer durchgehend gleichmäßigen Steigerung der Leistungsfähigkeit und einer demgemäß völlig gleichmäßigen Progression ausgehe, entspreche dem Art. 3 Abs. 1 GG. Danach dürfte der Progressionstarif nicht in einer Kurve, sondern müßte geradlinig verlaufen. Mit einer solchen Forderung würde man aber den Ermessensspielraum, der dem Gesetzgeber bei der Tarifgestaltung einzuräumen ist, in unzulässiger Weise einengen. Der Einkommensteuertarif muß unstreitig auf dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit aufbauen; diese ist aber nicht die einzige Komponente, die bei der Tarifgestaltung eine Rolle spielt. Es können bzw. müssen vielmehr mehrere Komponenten berücksichtigt werden, die, wie in Blümich-Falk (Einkommensteuergesetz, 10. Aufl., § 32a Anm. 1 a) zutreffend hervorgehoben wird, ständig in Fluß sind. Die wichtigste Komponente ist das durch den Tarif erwartete Aufkommen; ihn müssen nicht nur die Höhe der Steuersätze, sondern auch der Verlauf der Progressionskurve und der Spitzensteuersatz angepaßt werden. Wie der Kläger selbst hervorhebt, tragen die hohen und höchsten Einkommen zum Gesamtaufkommen der Einkommensteuer wegen der geringeren Zahl der in Betracht kommenden Einkommen nur in verhältnismäßig geringem Umfang bei. Daraus kann sich für den Gesetzgeber die Notwendigkeit ergeben, die Progression zunächst steiler ansteigen zu lassen und dann abzuflachen. Diese Notwendigkeit hängt zugleich mit zwei anderen Gesichtspunkten zusammen. Einmal könnte eine unvermindert gleich (gleich steil) ansteigende Progression zu Steuersätzen führen, die die Arbeitsfreudigkeit und die Unternehmerinitiative in ungebührlicher Weise einengen und deshalb, wie bereits dargelegt, bedenklich wären. Ferner könnte eine unvermindert in gleicher Stärke fortgesetzte Progression ohne Spitzensteuersatz mit einer Proportionalzone dazu führen, daß die großen Personengesellschaften einer unerwünscht stärkeren Einkommensbelastung ausgesetzt werden als Kapitalgesellschaften. Die Vermeidung beider Folgen ist aber in einer sozialen Marktwirtschaft ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers. Eine von solchen Überlegungen beeinflußte Tarifgestaltung kann nicht als willkürlich und deshalb dem Art. 3 Abs. 1 GG widersprechend angesehen werden.
Es ist dem Gesetzgeber nicht verwehrt, bei der Gestaltung des Einkommensteuertarifs noch andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. So kommen insbesondere soziale Gesichtspunkte in Betracht, deren Berücksichtigung nach der BVerfG-Entscheidung 1 BvL 16/69 sogar zwingend ist. Auch die Berücksichtigung des Gesichtspunkts der Vereinfachung ist nicht unzulässig; ihr dient die untere Proportionalzone. Darüber hinaus wäre aber auch etwa eine besondere Bevorzugung mittelständischer Einkommen nicht unzulässig und verfassungswidrig. Schließlich ist es legitim, trotz Berücksichtigung verschiedener auf den Tarifaufbau einwirkender Komponenten einem möglichst harmonischen Tarifaufbau anzustreben.
Hiernach ist zusammenfassend festzustellen, daß es nicht zwingend geboten ist, einen völlig geradlinig verlaufenden Tarifaufbau vorzuschreiben. Daß auch das BVerfG einen völlig gleichmäßigen Verlauf der Progression eines Einkommensteuertarifs nicht für zwingend geboten hält, ergibt sich aus seinem die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer behandelnden Beschluß 1 BvL 16/69. Das BVerfG führt hier u. a. aus, im Verhältnis zum Steuerzahler wäre es - anstelle der Erhebung einer Ergänzungsabgabe unter Befreiung einer unteren Einkommensgruppe - ohne weiteres zulässig gewesen, die Einkommensteuer zu erhöhen und dabei die unteren Einkommensstufen von der Erhöhung auszunehmen. Selbst wenn aber bei einem Einkommensteuertarif, der den Vorstellungen des Klägers entsprechen würde, eine Erhöhung vorgenommen, hiervon aber die unteren Einkommensgruppen ausgenommen würden, würde die bisherige Gleichmäßigkeit des Progressionsverlaufs verlorengehen. Das BVerfG hält dies, wie ausgeführt, ohne weiteres für zulässig.
7. Das FG hat auch einen Verstoß des geltenden Einkommensteuertarifs gegen Art. 14 GG (Eigentumsgarantie) mit Recht abgelehnt, weil er sich weder konfiskatorisch noch erdrosselnd auswirkt. Das wäre aber erforderlich, wenn die Erhebung einer Steuer gegen Art. 14 GG verstoßen würde (vgl. BFH-Urteil vom 19. April 1968 III R 78/67, BFHE 92, 495, BStBl III 1968, 620, und die dort zitierten Literaturstellen und BVerfG-Entscheidungen). Bei einem Einkommensteuertarif mit einem Spitzensteuersatz von 53 % tritt eine dieser Wirkungen aber fraglos nicht ein.
Fundstellen
Haufe-Index 70557 |
BStBl II 1973, 754 |
BFHE 1974, 119 |