Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksamkeit der Klagerücknahme bei fehlerhaftem Hinweis durch den Vorsitzenden Richter
Leitsatz (amtlich)
1. Die Zurücknahme einer Klage ist unwirksam, wenn sie durch den nicht zutreffenden Hinweis des Vorsitzenden Richters des FG veranlasst worden ist, dass die Klage unzulässig sei. Dies gilt auch, wenn die Klagerücknahme von einem rechtskundigen Prozessbevollmächtigten erklärt worden ist.
2. Macht der Kläger mit der Beschwerde gegen den zwischenzeitlich ergangenen Einstellungsbeschluss des FG die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend, ist darin ein Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens zu sehen.
Normenkette
FGO § 72 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erhob persönlich Klage beim Finanzgericht (FG) gegen die Feststellungsbescheide über den verbleibenden Verlustabzug zur Einkommensteuer zum 31. Dezember 1995, zum 31. Dezember 1996, zum 31. Dezember 1997 und zum 31. Dezember 1998. Im gleichen Schriftsatz hatte er u.a. Klage gegen die Einkommensteuerbescheide 1996 bis 1998 eingelegt, die das FG unter einem anderen Aktenzeichen (1 K 314/02) erfasste.
Am 17. Juli 2002 richtete der Vorsitzende Richter des FG ein Schreiben an den Kläger mit folgendem Inhalt: "Normalerweise sind die Verlustfeststellungsbescheide Folgebescheide zu den Einkommensteuerbescheiden. Deshalb besteht gegen die Zulässigkeit ihrer gesonderten Anfechtung Bedenken … Ich bitte deshalb um Sachvortrag, inwieweit in diesem Verfahren spezielle, die Verlustfeststellung betreffende Aspekte zu berücksichtigen sind …"
Am 23. August 2002 erinnerte der Vorsitzende an die Beantwortung dieses Schreibens, wies auf die Möglichkeit der gerichtsgebührenfreien Klagerücknahme hin und fügte an: "Soweit ich bis zum 20. September 2002 keine Nachricht von Ihnen erhalte, werde ich die Klage durch Gerichtsbescheid als unzulässig verwerfen."
Am 27. August 2002 bestellte sich Rechtsanwalt D. als Prozessbevollmächtigter für den Kläger sowohl in diesem Verfahren als auch im Verfahren 1 K 314/02. Mit Schreiben vom 20. September 2002 nahm Rechtsanwalt D. die Klage "wegen Verlustfeststellung 1995 bis 1998" zurück. Der Vorsitzende des FG stellte daraufhin mit Beschluss vom 25. September 2002 das Verfahren ein.
Mit Schreiben vom 8. Oktober 2002 teilte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) dem FG mit, dass der Kläger die Einkommensteuererklärungen 1996 bis 1998 eingereicht habe. Die Einkommensteuerbescheide 1996 und 1997 könnten nicht mehr geändert werden, weil die Klage mangels Beschwer unzulässig sei. Eine Änderung der Verlustfeststellungsbescheide 1996 und 1997 scheitere daran, dass die Klage zurückgenommen worden sei.
Daraufhin regte der Vorsitzende Richter des FG mit Schreiben vom 14. Oktober 2002 an den Prozessbevollmächtigten des Klägers "zur Bereinigung der verfahrensrechtlichen Situation" an, gegen den Einstellungsbeschluss vom 25. September 2002 außerordentliche Beschwerde einzulegen, "soweit er die Verfahren der Feststellungsbescheide 1996 und 1997 betrifft (wegen offenbaren Rechtsirrtums)". Am 5. Dezember 2002 legte der Kläger außerordentliche Beschwerde ein. Gleichzeitig nahm er im Verfahren 1 K 314/02 die Klage gegen die Einkommensteuerbescheide 1996 und 1997 zurück.
Am 16. Dezember 2002 beschloss das FG durch den Vorsitzenden, dass der Einstellungsbeschluss aufgehoben und das Verfahren "wegen Verlustfeststellung 1996 und 1997" unter einem neuen Aktenzeichen fortgesetzt wird.
Am 14. März 2003 nahm der Kläger die Klage "wegen Verlustfeststellung 1996" zurück, nachdem zuvor das FA infolge der Änderung des Einkommensteuerbescheids 1996 einen nach § 10d Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geänderten Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31. Dezember 1996 erlassen und den Rechtsstreit insoweit für erledigt erklärt hatte. Das FG stellte das Verfahren "betreffend Verlustfeststellung 1996" ein.
Hinsichtlich des gesonderten Feststellungsbescheids über den verbleibenden Verlustabzug zum 31. Dezember 1997 vertrat das FA die Auffassung, dass die Klagerücknahme vom 20. September 2002 rechtswirksam gewesen sei. Eine außerordentliche Beschwerde gegen den Einstellungsbeschluss sei seit dem In-Kraft-Treten des § 321a der Zivilprozessordnung (ZPO) nicht mehr statthaft. Die Rüge sei zudem nicht innerhalb der Notfrist des § 321a Abs. 2 Satz 2 ZPO erhoben worden. Das FA beantragte deshalb in der mündlichen Verhandlung vor dem FG, die Klage als unzulässig zu verwerfen. Der Kläger beantragte, das FG möge durch Zwischenurteil feststellen, dass die Klage zulässig sei.
Das FG entschied durch Zwischenurteil, dass die Klage zulässig ist. Der Einstellungsbeschluss sei unwirksam und das Verfahren fortzusetzen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom FG zugelassene Revision, zu deren Begründung das FA im Wesentlichen vorbringt:
Die Rücknahme der Klage gegen die Verlustfeststellungsbescheide könne nicht als unwirksam angesehen werden. Zwar sei nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) eine Klagerücknahme u.a. dann unwirksam, wenn ein rechtsunkundiger oder unerfahrener Steuerpflichtiger in unzulässiger Weise ―z.B. durch eine sachlich grob fehlerhafte Belehrung durch das FA oder das FG― zur Abgabe einer solchen Erklärung veranlasst worden ist. Dies könne allerdings nicht für rechtskundige Kläger oder deren sachkundige Prozessbevollmächtigte gelten.
Das FA beantragt, das Zwischenurteil des FG aufzuheben und die Klage als unzulässig zu verwerfen.
Der Kläger hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des FA ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Das FG geht zu Recht davon aus, dass die Klage zulässig und das Klageverfahren fortzusetzen ist.
1. Die Beschwerde des Klägers gegen den Einstellungsbeschluss des FG ist als Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens auszulegen, mit dem nachträglich die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend gemacht wird (§ 72 Abs. 2 Satz 3 FGO).
Seit der Neufassung des § 128 Abs. 2 FGO durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757) können Einstellungsbeschlüsse nach Klagerücknahme nicht mehr mit der Beschwerde angefochten werden. Auch eine außerordentliche Beschwerde wegen sog. greifbarer Gesetzwidrigkeit ist im FG-Prozess seit dem In-Kraft-Treten des § 321a ZPO nicht mehr statthaft (vgl. BFH-Beschluss vom 17. Dezember 2002 IV B 162/02, BFH/NV 2003, 634). Wird deshalb ―wie hier― Beschwerde gegen den Einstellungsbeschluss mit der Begründung eingelegt, dass die Klagerücknahme unwirksam sei, ist darin ein Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens zu sehen (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., 2002, § 128 Rz. 10, m.w.N.).
Der Antrag ist auch rechtzeitig gestellt worden. Wegen der lediglich deklaratorischen Bedeutung des Einstellungsbeschlusses (vgl. BFH-Beschluss vom 18. Februar 1997 VII B 172/96, BFH/NV 1997, 676) kann ―wie sich aus § 72 Abs. 2 Satz 3 FGO ergibt― die Fortsetzung des Verfahrens auch nach Eintritt der formellen Bestandskraft des Einstellungsbeschlusses innerhalb der Jahresfrist des § 56 Abs. 3 FGO beantragt werden. Diese Frist hat der Kläger hier gewahrt, unabhängig davon, ob man als Beginn dieser Frist den Tag der Bekanntgabe des Einstellungsbeschlusses (so Gräber/Koch, a.a.O., § 72 Rz. 43) oder den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Rücknahme der Klage (so Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 72 FGO Rz. 33 a.E.) ansieht.
2. Das Klageverfahren ist fortzusetzen, weil die vom Kläger erklärte Klagerücknahme unwirksam war.
Eine Klagerücknahme ist zwar als Prozesshandlung grundsätzlich bedingungsfeindlich und unwiderruflich und kann auch nicht ―etwa in entsprechender Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die Anfechtung von Willenserklärungen― angefochten werden (vgl. BFH-Urteil vom 8. Juli 1969 II R 108/66, BFHE 96, 552, BStBl II 1969, 733). Die FGO sieht aber gleichwohl in § 72 Abs. 2 Satz 3 FGO ausdrücklich den Fall vor, dass in einem Steuerrechtsstreit nachträglich die Unwirksamkeit einer Klagerücknahme geltend gemacht wird. Das spricht dafür, dass der Gesetzgeber entsprechend der Rechtsprechung des BFH vor In-Kraft-Treten der FGO (vgl. dazu BFH-Urteil vom 17. August 1961 IV 176/59 S, BFHE 74, 284, BStBl III 1962, 107, m.w.N.) die Möglichkeit offen halten wollte, insbesondere in den Fällen, in denen ein rechtsunkundiger Steuerpflichtiger in unzulässiger Weise ―etwa durch Drohung, Druck, Täuschung oder auch unbewusste Irreführung― zur Abgabe einer solchen Erklärung veranlasst worden ist, die Unwirksamkeit einer Klagerücknahme anzunehmen (vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 72 Rz. 21). Der BFH hat deshalb nach dem In-Kraft-Treten der FGO diese Rechtsprechung fortgesetzt und betont, dass es als Verstoß gegen die im Steuerrecht zu beachtenden Grundsätze des Vertrauensschutzes angesehen werden müsste, in derartigen Fällen einen Steuerpflichtigen an seiner Erklärung festzuhalten (vgl. BFH-Beschluss vom 19. Januar 1972 II B 26/69, BFHE 104, 291, BStBl II 1972, 352, m.w.N.).
3. Nach Auffassung des erkennenden Senats sind diese Grundsätze auch im vorliegenden Fall anzuwenden, obwohl hier ―anders als in den bisher entschiedenen Fällen― die Klagerücknahme nicht von einem rechtsunkundigen Steuerpflichtigen, sondern von einem sachkundigen Prozessbevollmächtigten erklärt worden ist. Auch bei einem Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe ist eine unzulässige Beeinflussung durch die Behörde oder das Gericht, die eine Unwirksamkeit der Klagerücknahme zur Folge haben kann, grundsätzlich denkbar, wird aber auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben müssen.
Ein solcher Ausnahmefall liegt im Streitfall deshalb vor, weil hier der Vorsitzende Richter des angerufenen FG vor dem Hintergrund einer verfahrensrechtlich komplizierten Rechtslage schriftlich den (unzutreffenden) richterlichen Hinweis gegeben, dass gegen die Zulässigkeit der Klage Bedenken bestehen, und weil er eine Zurückweisung der Klage als unzulässig in Aussicht gestellt hat.
Nach § 76 Abs. 2 FGO hat der Vorsitzende im Rahmen seiner richterlichen Prozessförderungs- und Fürsorgepflichten u.a. darauf hinzuwirken, dass sachdienliche Anträge gestellt werden. Ihm kommt in diesem Zusammenhang eine Art "prozessuale Garantenstellung" (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 72 FGO Rz. 31) zu, nicht nur gegenüber rechtsunkundigen Steuerpflichtigen, sondern ―wenn auch in eingeschränktem Umfang― ebenso gegenüber fachkundig vertretenen Beteiligten (vgl. BFH-Urteil vom 19. Oktober 1993 VIII R 61/92, BFH/NV 1994, 790). Bringt deshalb der Vorsitzende gegenüber einem fachkundigen Prozessvertreter zum Ausdruck, dass er die Klage als unzulässig verwerfen werde, und legt er dem Prozessvertreter damit die Rücknahme der Klage nahe, so kann dieser sich darauf berufen, dass er in unzulässiger Weise beeinflusst worden ist, wenn er daraufhin die Klage zurückgenommen hat, obwohl diese tatsächlich nicht unzulässig war. Das gilt umso mehr, wenn es sich um eine verfahrensrechtlich nicht einfach zu beurteilende Situation handelt, wie die hier unzutreffende Beurteilung der Rechtslage durch den Vorsitzenden Richter des FG belegt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO. Über die Kosten des Revisionsverfahrens war eine Entscheidung zu treffen, obwohl sich die Revision nur gegen eine Zwischenentscheidung des FG richtete (vgl. BFH-Urteil vom 14. März 1985 IV R 1/81, BFHE 143, 223, BStBl II 1985, 368).
Fundstellen
Haufe-Index 1407219 |
BFH/NV 2005, 1943 |
BStBl II 2005, 644 |
BFHE 2006, 4 |
BFHE 210, 4 |
BB 2005, 1950 |
DB 2005, 1950 |
DStRE 2005, 1108 |
DStZ 2005, 622 |
HFR 2005, 1094 |