Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorläufigkeitserklärung des Steuerbescheids statt Aussetzung des Verfahrens - Hemmung der Verjährung bei Klageerweiterung - Teilanfechtung eines Steuerbescheids - Vorläufigkeitserklärung als Ermessensentscheidung - gerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen
Leitsatz (amtlich)
1. In Fällen, in denen das FG ein Klageverfahren wegen eines vor dem BVerfG anhängigen Musterverfahrens gemäß § 74 FGO aussetzen müßte, hat der Kläger einen Rechtsanspruch auf Vorläufigkeitserklärung des angegriffenen Steuerbescheides hinsichtlich der vor dem BVerfG umstrittenen gesetzlichen Regelung, wenn in dem Klageverfahren noch andere Fragen streitig sind.
2. Ist nach den Grundsätzen der Entscheidung des Großen Senats des BFH vom 23.Oktober 1989 GrS 2/87 (BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327) trotz betrags- oder sachverhaltsmäßiger Begrenzung des ursprünglichen Rechtsmittelantrags von einer Anfechtung des gesamten Einkommensteuerbescheides auszugehen, ist auch der Ablauf der Festsetzungsfrist in vollem Umfang gehemmt.
Orientierungssatz
1. Auch eine Verpflichtungsklage ist ohne Vorverfahren möglich (Sprungverpflichtungsklage), wenn der Erlaß eines vom FA abgelehnten Verwaltungsakts der in § 348 AO 1977 bezeichneten Art begehrt wird (hier: Antrag auf Festsetzung der Einkommensteuer als vorläufig hinsichtlich des Grundfreibetrags und der Kinderfreibeträge). Die Sprungverpflichtungsklage kann in der mündlichen Verhandlung auch zusätzlich zu der ursprünglichen Anfechtungsklage erhoben werden. Der Verpflichtungsantrag ist auch insoweit zulässig, als die begehrte Vorläufigkeit möglicherweise über die finanziellen Auswirkungen der Anfechtungsklage hinausgeht.
2. Eine Teilanfechtung ist nur dann anzunehmen, wenn der Wille des Klägers, von einem weiteren Klagebegehren abzusehen, deutlicher zum Ausdruck kommt als in der bloßen Anfechtung des Steuerbescheids wegen eines bestimmten Streitpunktes.
3. Die Vorläufigkeitserklärung ist nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 grundsätzlich eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde.
4. Maßgebender Zeitpunkt für die gerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen der Verwaltung ist die Sachlage und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (vgl. Literatur).
5. Bei einer Ermessensreduzierung auf Null kann die Behörde durch das Gericht zum Erlaß der erstrebten Ermessensentscheidung (des Verwaltungsaktes) verpflichtet werden.
Normenkette
AO 1977 § 165 Abs. 1 S. 1, § 171 Abs. 3 Sätze 1-2, § 348; FGO §§ 45, 67 Abs. 1, §§ 74, 102
Tatbestand
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) waren im Streitjahr (1984) als Ärzte nichtselbständig tätig. Sie wurden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Nach erfolglosem Vorverfahren erhoben sie Klage gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr, um Aufwendungen der Klägerin für die Teilnahme an einem medizinischen Kongreß in Japan in Höhe von 6 126 DM als Werbungskosten anerkannt zu erhalten.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) richteten die Kläger an den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) den Antrag, den angefochtenen Einkommensteuerbescheid hinsichtlich des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge für vorläufig zu erklären. Das FA lehnte diesen Antrag ab. Daraufhin stellten die Kläger zusätzlich zu ihrem ursprünglichen Klageantrag im Wege einer Sprungklage den weiteren Klageantrag, das FA zu dieser Vorläufigkeitserklärung zu verpflichten. Der Erhebung der Sprungklage stimmte das FA zu.
Das FG erkannte 660 DM der geltend gemachten Werbungskosten an und wies die Klage im übrigen hinsichtlich der Werbungskosten ab.
Dem Klageantrag, das FA zur Vorläufigkeitserklärung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids hinsichtlich des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge zu verpflichten, gab das FG dagegen statt. Die Stattgabe begründete es damit, daß dieser Antrag sachdienlich und daher eine zulässige Klageänderung sei. Nur auf diesem Wege könne eine verhältnismäßig zeitnahe gerichtliche Entscheidung der eigentlichen Streitfrage über die Höhe der Werbungskosten erreicht werden. Deshalb sei der Verpflichtungsantrag auch begründet; denn der Ermessensspielraum des FA hinsichtlich der beantragten Vorläufigkeitserklärung sei auf Null geschrumpft. Die verfassungsrechtlich zutreffende Höhe des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge für das Streitjahr könne erst durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und den Gesetzgeber geklärt werden. Das FA sei daher verpflichtet, daran mitzuwirken, daß einerseits den Klägern zeitnah Rechtsschutz hinsichtlich der Höhe der Werbungskosten gewährt, andererseits aber der angegriffene Steuerbescheid hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge offengehalten werde. Dies könne nur durch die teilweise Vorläufigkeitserklärung des Steuerbescheides geschehen. Eine Festsetzungsverjährung stehe dem nicht entgegen. Mit der Bezeichnung eines Teilbetrages (hier der Anerkennung bestimmter zusätzlicher Werbungskosten) hätten die Kläger keine Teilbestandskraft und damit keine Teilfestsetzungsverjährung hinsichtlich des ursprünglich nicht angegriffenen Teils des Steuerbescheides für das Streitjahr herbeigeführt (Hinweis auf Beschluß des Großen Senats des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23.Oktober 1989 GrS 2/87, BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327). Hierauf komme es aber letztlich nicht an. Selbst wenn man nämlich eine Teilverjährung annehmen würde, bestände in Höhe des Scheiterns des Klageantrags hinsichtlich der Werbungskosten, d.h. in Höhe von 5 466 DM eine Saldierungsmöglichkeit. Es sei nicht zu erwarten, daß eine etwaige Erhöhung der Kinderfreibeträge sowie des Grundfreibetrages im Streitfall diesen zur Verfügung stehenden Saldierungsbetrag überschreiten werde.
Gegen das Urteil des FG richtet sich die Revision des FA, mit der Verletzung der §§ 165 und 171 Abs.3 und 8 der Abgabenordnung (AO 1977) und des § 40 Abs.1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gerügt wird.
Das FA macht geltend, das FG hätte den Verpflichtungsantrag insoweit nicht zulassen dürfen, als die finanziellen Folgen einer etwaigen späteren Erhöhung des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge für das Streitjahr über die finanziellen Auswirkungen der von den Klägern begehrten Anerkennung zusätzlicher Werbungskosten hinausgingen. Nach der Entscheidung des Großen Senats des BFH in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 sei eine betragsmäßige Erweiterung der Klage nach Ablauf der Klagefrist unzulässig, wenn der Kläger vorher eindeutig zu erkennen gegeben habe, daß er von einem weitergehenden Klagebegehren absehe. Dies sei im Streitfall geschehen. Die Kläger hätten bis zur mündlichen Verhandlung vor dem FG nur die Anerkennung der Aufwendungen für die Kongreßreise nach Japan als Werbungskosten verlangt. Der angegriffene Steuerbescheid sei daher hinsichtlich der übrigen Besteuerungsgrundlagen teilbestandskräftig geworden.
Der Klageerweiterung über die streitigen Werbungskosten hinaus stehe auch die Festsetzungsverjährung entgegen. Die Festsetzungsfrist sei am 31.Dezember 1990 abgelaufen, da die Einkommensteuererklärung der Kläger für das Streitjahr am 10.April 1986 abgegeben worden sei. Eine Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist sei nach § 171 Abs.3 Satz 2 AO 1977 nur insoweit eingetreten, als der bis dahin gestellte Klageantrag reiche. Der am 17.April 1991 in der mündlichen Verhandlung gestellte Verpflichtungsantrag könne daher wegen der eingetretenen Festsetzungsverjährung nicht mehr zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung führen, als es dem ursprünglichen Klageantrag entspreche. Diese Frage könne nicht erst später bei Erlaß des aufgrund der Vorläufigkeitserklärung ergehenden endgültigen Steuerbescheides geprüft werden. Der Umfang der Vorläufigkeitserklärung müsse vielmehr von vornherein entsprechend eingeschränkt werden.
Das FG hätte aber nicht nur den Umfang der Vorläufigkeitserklärung einschränken müssen, sondern überhaupt keine Verpflichtung zur Vorläufigkeitserklärung aussprechen dürfen. Denn hinsichtlich des Grundfreibetrages seien die Voraussetzungen für die Vorläufigkeitserklärung nach § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977 nicht gegeben. In dieser Hinsicht bestehe keine Ungewißheit über Tatsachen, sondern über die Rechtsfrage, ob die Höhe des Grundfreibetrages verfassungsmäßig ist. Außerdem habe sich das FG unzulässig alleinige Entscheidungskompetenzen des FA angemaßt. Die Vorläufigkeitserklärung stehe im Ermessen des FA. Das FG habe daher nicht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des FA setzen dürfen. Eine Ermessensreduzierung auf Null sei nicht eingetreten.
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sprungverpflichtungsklage insoweit abzuweisen, als es --das FA-- verpflichtet worden ist, den angefochtenen Einkommensteuerbescheid hinsichtlich des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge für vorläufig zu erklären, ohne daß festgestellt worden ist, ob eine bereits eingetretene Festsetzungsverjährung dem entgegensteht.
Die Kläger sind der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das FG hat das FA zu Recht für verpflichtet erklärt, den angegriffenen Steuerbescheid hinsichtlich des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge für vorläufig zu erklären.
1. Der als Sprungklage gestellte Verpflichtungsantrag war zulässig.
a) Ein Vorverfahren war nicht erforderlich, da das FA der Sprungklage zugestimmt hat. § 45 FGO erlaubt seinem Wortlaut nach die Klage ohne Vorverfahren zwar nur bei Anfechtungsklagen. Nach der Entscheidung des Großen Senats des BFH vom 21.Januar 1985 GrS 1/83 (BFHE 143, 112, BStBl II 1985, 303) ist aber auch eine Verpflichtungsklage ohne Vorverfahren möglich, wenn der Erlaß eines vom FA abgelehnten Verwaltungsaktes der in § 348 AO 1977 bezeichneten Art begehrt wird.
Der Verpflichtungsantrag (§ 40 Abs.1 FGO) richtete sich auf Erlaß eines solchen Verwaltungsakts. Begehrt wurde nicht etwa nur die Beifügung der unselbständigen Nebenbestimmung des Vorläufigkeitsvermerks zu dem angegriffenen Verwaltungsakt. Es ging vielmehr darum, einen neuen Verwaltungsakt (Änderungsbescheid) zu erlassen, der die Einkommensteuer für das Streitjahr nochmals als vorläufig hinsichtlich des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge festsetzte. Diese neue Steuerfestsetzung wäre auch insoweit mit dem Einspruch nach § 348 AO 1977 anfechtbar, als über die Rechtmäßigkeit des Vorläufigkeitsvermerks gestritten würde (vgl. Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 4.Aufl., § 348 Anm.2 a).
b) Die Sprungverpflichtungsklage konnte in der mündlichen Verhandlung auch zusätzlich zu der ursprünglichen Anfechtungsklage erhoben werden. Dabei kann offenbleiben, ob es sich um eine Klagehäufung, einen Fall des über § 155 FGO anwendbaren § 264 der Zivilprozeßordnung (ZPO) oder um eine Klageänderung handelt. Selbst wenn eine Klageänderung gegeben wäre, war sie nach § 67 Abs.1 FGO zulässig, weil sie sachdienlich war.
Dies hat das FG zutreffend angenommen. Es mußte im Rahmen des Klageantrags der ursprünglichen Anfechtungsklage, auch ohne daß dies von den Klägern geltend gemacht worden wäre, die Höhe des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge überprüfen (Saldierungsmöglichkeit). Eine Entscheidung zu diesen Fragen war im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aber nicht möglich. Das BVerfG hatte die Höhe der Kinderfreibeträge u.a. für das Streitjahr durch Beschluß vom 12.Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber eine neue Regelung aufgegeben. Diese gesetzliche Neuregelung stand noch aus. Ohne die mit dem Verpflichtungsantrag begehrte Vorläufigkeitserklärung hätte das FG das Klageverfahren daher im Hinblick auf die noch offene Höhe der Kinderfreibeträge zwingend aussetzen müssen (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., vor § 74 Rdnr.7).
Eine ähnliche Rechtslage bestand hinsichtlich des Grundfreibetrages. Hierzu hatte das BVerfG zwar noch keine Entscheidung getroffen; mehrere FG hatten aber bereits in Vorlagebeschlüssen an das BVerfG die Auffassung vertreten, daß die Regelung des Grundfreibetrags für mehrere Veranlagungszeiträume verfassungswidrig sei (Vorlagebeschluß des FG Münster vom 1.Februar 1991 16 K 936/90 E, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1991, 253; Vorlagebeschluß des Niedersächsischen FG vom 15.Januar 1991 IX 427 und 437/90, EFG 1991, 260 und Vorlagebeschluß des FG des Saarlandes vom 19.März 1991 1 K 84/91, EFG 1991, 330). Außerdem waren beim BVerfG bereits Verfassungsbeschwerden zur Höhe des Grundfreibetrages anhängig (u.a. gegen die Entscheidung des erkennenden Senats vom 8.Juni 1990 III R 14-16/90, BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969).
Der erkennende Senat hat mit Beschluß vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, (BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408) entschieden, daß bei bereits anhängigen Musterverfahren vor dem BVerfG die FG gemäß § 74 FGO unter folgenden Voraussetzungen zur Aussetzung des Verfahrens verpflichtet sind: In dem Verfahren vor dem BVerfG muß es unmittelbar um die Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden gesetzlichen Regelung gehen. Das Verfahren vor dem FG muß insoweit ein echtes Parallelverfahren sein. Bei den FG muß eine Vielzahl gleichgelagerter Verfahren (Massenverfahren) anhängig sein. Die Verfahren vor dem BVerfG dürfen nicht als offensichtlich aussichtslos erscheinen, und der Aussetzung des Verfahrens durch das FG darf kein berechtigtes Interesse eines der Verfahrensbeteiligten entgegenstehen. All diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor, so daß auch hinsichtlich des Grundfreibetrages ohne eine Vorläufigkeitserklärung des Steuerbescheides eine Aussetzung des Verfahrens geboten gewesen wäre.
Das Verfahren hätte nicht nur hinsichtlich der Kinderfreibeträge und des Grundfreibetrages, sondern insgesamt ausgesetzt werden müssen. Eine Vorabentscheidung der zwischen den Beteiligten ursprünglich streitigen Frage der Höhe der Werbungskosten durch Teilurteil wäre dem FG nicht möglich gewesen (s. näher den Beschluß des erkennenden Senats in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408). Der im Wege der Sprungklage erhobene Verpflichtungsantrag diente folglich dazu, diese Folge zu vermeiden, indem er einerseits den angegriffenen Steuerbescheid hinsichtlich des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge offenhielt, andererseits aber eine Entscheidung und damit einen zügigen Rechtsschutz zu der Frage der Werbungskosten ermöglichte.
c) Der Verpflichtungsantrag war auch nicht insoweit unzulässig, als die begehrte Vorläufigkeitserklärung möglicherweise über die finanziellen Auswirkungen der im Rahmen der Anfechtungsklage streitigen Werbungskosten hinausgeht. Nach der Entscheidung des Großen Senats des BFH in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 ist die Anfechtungsklage gegen einen Einkommensteuerbescheid regelmäßig auch insoweit zulässig, als sie nach Ablauf der Klagefrist betragsmäßig erweitert wird. Die Kläger hätten also noch in der mündlichen Verhandlung ihre Anfechtungsklage in vollem Umfang auf die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge erstrecken können. Durch ihren ursprünglichen Klageantrag, der nur die Berücksichtigung zusätzlicher Werbungskosten betraf, waren sie in ihrer Antragstellung nicht eingeschränkt. War aber eine Erweiterung der Anfechtungsklage möglich, so mußte es auch zulässig sein, mit der Verpflichtungsklage das unbeschränkte Offenhalten der Höhe des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge anzustreben. Ob und wie weit der begehrten Verpflichtung des FA zur Vorläufigkeitserklärung des angegriffenen Steuerbescheides eine Teilfestsetzungsverjährung entgegenstand, ist keine Frage der Zulässigkeit der Klageerweiterung; sondern der Begründetheit (s. dazu unten unter 3.).
d) Allerdings hat der Große Senat des BFH in der Entscheidung in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 entschieden, daß eine Klageerweiterung nach Ablauf der Klagefrist ausnahmsweise dann unzulässig ist, wenn der Kläger vorher eindeutig zu erkennen gegeben hat, daß er von einem weitergehenden Klagebegehren absieht. Entgegen der Auffassung des FA ist eine solche Annahme im Streitfall jedoch nicht gerechtfertigt. Die Tatsache, daß im Streitfall vor Stellung des Verpflichtungsantrags nur die Berücksichtigung der Aufwendungen der Klägerin für die Kongreßreise nach Japan als Werbungskosten streitig war, reicht nicht aus, um nur von einer Teilanfechtung des angegriffenen Steuerbescheides vor Ablauf der Klagefrist auszugehen. Auch in dem der Entscheidung des Großen Senats in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 zugrunde liegenden Fall war zunächst nur über eine bestimmte Besteuerungsgrundlage (dort nur mit geringen finanziellen Auswirkungen) gestritten worden. Die Klageerweiterung betraf dann eine ganz andere Besteuerungsgrundlage mit verhältnismäßig hohen finanziellen Auswirkungen. Trotzdem hat der Große Senat des BFH die Klageerweiterung als zulässig angesehen (vgl. auch die Folgeentscheidung des BFH vom 14.März 1990 X R 68/82, BFH/NV 1991, 162). Eine Teilanfechtung ist daher nur dann anzunehmen, wenn der Wille des Klägers, von einem weiteren Klagebegehren abzusehen, deutlicher zum Ausdruck kommt als in der bloßen Anfechtung des Steuerbescheides wegen eines bestimmten Streitpunktes. Im Streitfall gibt es keine solchen zusätzlichen Anhaltspunkte für einen Willen der Kläger zu einer bloßen Teilanfechtung des angegriffenen Steuerbescheids.
2. Der nach den obigen Ausführungen zulässige Verpflichtungsantrag zur Vorläufigkeitserklärung des angegriffenen Steuerbescheides hinsichtlich des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge war auch begründet.
a) Die Voraussetzungen des § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977 für die Vorläufigkeitserklärung des angegriffenen Steuerbescheides sind gegeben. Hinsichtlich der Kinderfreibeträge für das Streitjahr stand aufgrund der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 fest, daß die betreffende Regelung im Einkommensteuergesetz --EStG-- (§ 32 Abs.8 EStG) mit dem Grundgesetz (GG) unvereinbar war. Die dem Gesetzgeber aufgegebene Neuregelung war im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem FG noch nicht erfolgt, sondern ist erst unter dem Datum des 24.Juni 1991 in BGBl I 1991, 1322 verkündet worden. Für solche Fälle, in denen eine für verfassungswidrig erklärte Norm noch nicht durch die erforderliche gesetzliche Neuregelung ersetzt worden ist, hat das BVerfG mit Urteil vom 3.November 1982 1 BvR 620/78 u.a. (BVerfGE 61, 319, BStBl II 1982, 717 unter D. 1.) den Weg der Vorläufigkeitserklärung der Steuerbescheide aufgezeigt.
Die Voraussetzungen für diese Vorläufigkeitserklärung sind im Streitfall nicht dadurch entfallen, daß inzwischen (nach der mündlichen Verhandlung des FG) die gesetzliche Neuregelung erfolgt ist. Die Vorläufigkeitserklärung ist nach § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977 grundsätzlich eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde. Maßgebender Zeitpunkt für die gerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen der Verwaltung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., § 102 Rdnr.13, mit zahlreichen Rechtsprechungs- und Schrifttumsnachweisen). Im Streitfall ist somit entscheidend, daß im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem FG, als das FA den Antrag auf Vorläufigkeitserklärung des angegriffenen Steuerbescheides ablehnte, die Voraussetzungen für diese Vorläufigkeitserklärung vorlagen. Im übrigen ist im gegenwärtigen Zeitpunkt zwar aufgrund der inzwischen erfolgten gesetzlichen Neuregelung klar, in welcher Höhe den Klägern Kinderfreibeträge für das Streitjahr zustehen. Hier ging es aber darum, durch die Vorläufigkeitserklärung des Steuerbescheides die Berücksichtigung der neuen Kinderfreibeträge in einem weiteren (insoweit dann endgültigen) Bescheid zu ermöglichen.
b) Auch hinsichtlich des Grundfreibetrages besteht im Streitfall eine tatsächliche Ungewißheit über die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer, wie es § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977 voraussetzt. Entgegen der Auffassung des FA ist nicht nur die rechtliche Ungewißheit gegeben, wie das BVerfG in den o.g. Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages entscheidet. Eine tatsächliche Ungewißheit liegt vielmehr in der künftigen gesetzlichen Regelung, die möglicherweise aufgrund der Entscheidung des BVerfG erforderlich wird (Entscheidungen des erkennenden Senats vom 9.August 1991 III R 48/90, BFHE 165, 162, BStBl II 1991, 868, und III R 41/88, BFHE 166, 1, BStBl II 1992, 219).
c) Das FA ist auch verpflichtet, den angegriffenen Steuerbescheid hinsichtlich der Kinderfreibeträge und des Grundfreibetrages für vorläufig zu erklären. Denn das dem FA nach § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977 eingeräumte Ermessen ist im Streitfall auf Null reduziert.
Wie oben (unter 1.) bereits dargelegt worden ist, hätte das FG das Verfahren gemäß § 74 FGO aussetzen müssen, wenn es das FA nicht verpflichtet hätte, den Bescheid teilweise vorläufig zu machen. Eine Aussetzung des Verfahrens wegen eines vor dem BVerfG anhängigen Musterprozesses kann aber erhebliche Nachteile für den jeweiligen Kläger haben, wenn es in dem auszusetzenden Verfahren neben der vor dem BVerfG streitigen Verfassungsmäßigkeit einer anzuwendenden gesetzlichen Regelung noch um ganz andere Fragen (möglicherweise mit einem hohen Streitwert) geht, die von dem Ausgang des Verfahrens vor dem BVerfG nicht betroffen werden. Die Entscheidung über diese anderen Fragen würde dann durch die Aussetzung ebenfalls zurückgestellt.
Diese nachteiligen Folgen für den jeweiligen Kläger lassen sich nur dadurch verhindern, daß der angegriffene Bescheid hinsichtlich der von dem Streit vor dem BVerfG betroffenen Besteuerungsgrundlagen für vorläufig erklärt wird. Dadurch entfällt der Grund für die Aussetzung des Klageverfahrens, und die anderen streitigen Fragen können zeitnah entschieden werden. Der Pflicht des FG zur Aussetzung des Klageverfahrens bei anhängigen Musterverfahren vor dem BVerfG muß daher in den Fällen, in denen im Klageverfahren noch andere Fragen streitig sind, ein Rechtsanspruch des Steuerpflichtigen auf Vorläufigkeitserklärung des angegriffenen Steuerbescheides hinsichtlich der vor dem BVerfG streitigen gesetzlichen Regelung entsprechen. Ein solcher Anspruch besteht auch im Streitfall.
d) Das FG hat nicht unzulässig in die Verwaltungskompetenz des FA eingegriffen, indem es diesem Anspruch stattgegeben und das FA zu der Vorläufigkeitserklärung verpflichtet hat. Es ist allgemein anerkannt, daß die Behörde bei einer Ermessensreduzierung auf Null durch das Gericht zum Erlaß des erstrebten Verwaltungsaktes verpflichtet werden kann (vgl. u.a. Gräber/von Groll, a.a.O., § 102 Rdnr.18).
3. Das FG hat das FA im Streitfall auch zu Recht für verpflichtet erklärt, den angegriffenen Steuerbescheid in vollem Umfang hinsichtlich des Grundfreibetrages und der Kinderfreibeträge für vorläufig zu erklären. Eine Teilfestsetzungsverjährung, die eine Einschränkung des Vorläufigkeitsvermerks erforderlich gemacht hätte, war nicht eingetreten.
a) Zutreffend ist allerdings, daß Satz 2 i.V.m. Satz 1 des § 171 Abs.3 AO 1977 eine Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist nur insoweit zuläßt, als der Steuerbescheid angefochten worden ist. Folglich kann es zu einer Teilfestsetzungsverjährung kommen. Im Schrifttum wird dazu überwiegend die Auffassung vertreten, daß sich der betragsmäßige Umfang der Ablaufhemmung nach dem im Rechtsbehelfsverfahren oder Klageverfahren vor Ablauf der Festsetzungsfrist gestellten Antrag bemißt (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 171 AO 1977 Rdnr.10; von Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 171 AO 1977 Rdnr.10; Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung (AO) Kommentar, § 171 Rdnr.7; Kühn/ Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 171 AO 1977 Anm.3 b; ebenso Urteil des FG Nürnberg vom 12.November 1986 V 32/81, EFG 1987, 224). Folgt man dieser Auffassung, so wäre mit Ablauf des 31.Dezember 1990 für die Einkommensteuer für das Streitjahr Festsetzungsverjährung eingetreten, soweit es um mehr als die steuerbetragsmäßigen Auswirkungen der streitigen Werbungskosten geht. Denn nur in dieser Höhe hatten die Kläger bis dahin eine andere Steuerfestsetzung als in dem angegriffenen Bescheid beantragt.
b) Diese Auffassung von der betragsmäßigen Begrenzung der Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist übersieht jedoch, daß der hier entscheidende Satz 2 des § 171 Abs.3 AO 1977 anders als dessen Satz 1 nicht auf den Antrag, sondern auf den Umfang der Anfechtung abstellt. Zum Umfang der Anfechtung hat der Große Senat in dem Beschluß in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 entschieden, daß bei einer Anfechtung eines Steuerbescheides wegen eines bestimmten Betrages oder eines bestimmten Sachverhalts in der Regel nicht von einer bloßen Teilanfechtung auszugehen ist. Da somit die Anfechtung in der Regel den gesamten Einkommensteuerbescheid umfaßt, tritt regelmäßig eine Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist in vollem Umfang ein und steht § 171 Abs.3 AO 1977 der Vorläufigkeitserklärung nicht entgegen (ebenso Erlaß des Finanzministers Nordrhein-Westfalen vom 7.September 1990 S 0338-6-V C 2, Deutsches Steuerrecht 1990, 573; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnr.7300). So war es auch im Streitfall. Ein Ausnahmefall, in dem nur eine Teilanfechtung anzunehmen ist, ist nicht gegeben. Das ist oben (unter 1.) bereits näher dargelegt worden.
Fundstellen
Haufe-Index 64162 |
BFH/NV 1992, 42 |
BStBl II 1992, 592 |
BFHE 167, 279 |
BFHE 1992, 279 |
BB 1992, 1196 |
BB 1992, 1196-1198 (LT) |
DB 1992, 1506-1508 (LT) |
DStR 1992, 820 (KT) |
HFR 1992, 443 (LT) |
StE 1992, 336 (K) |