Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Bei zusammen veranlagten Ehegatten kann, soweit nicht besondere Umstände dagegen sprechen, davon ausgegangen werden, daß ein vom Ehemann erklärter Rechtsmittelverzicht auch für und gegen die Ehefrau erklärt wird.
Einwendungen gegen die Wirksamkeit eines vor Erlaß des Steuerbescheids erklärten Rechtsmittelverzichts sind unverzüglich - das heißt in der Regel spätestens innerhalb eines Monats nach der Verzichtserklärung - geltend zu machen. Der Senat hält im übrigen an den Grundsätzen seiner Entscheidungen IV 192/52 U vom 3. Juli 1952 (BStBl 1952 III S. 241, Slg. Bd. 56 S. 627) und IV 154/54 U vom 13. Mai 1954 (BStBl 1954 III S. 219, Slg. Bd. 59 S. 28) fest.
Normenkette
AO §§ 102, 248, 235/1
Tatbestand
Die Zusammenveranlagung der Bf. zur Einkommensteuer für die Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1953 wurde nach vorangegangener Betriebsprüfung durch Berichtigungsbescheide vom 29. Mai 1956 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO geändert. Es ergaben sich Mehrsteuern in Höhe von 62.546 DM, die auf einer wesentlichen Erhöhung der Gewinne aus Gewerbebetrieb beruhen. Vor Erlaß der Berichtigungsbescheide und noch vor Erhalt des Betriebsprüfungsberichts ist auf Rechtsmittel verzichtet worden. Die Rechtswirksamkeit dieses Verzichts ist streitig.
Die Betriebsprüfung wurde mit Unterbrechungen in der Zeit vom 27. Oktober 1953 bis 31. Oktober 1953 und in der Zeit vom 14. September 1955 bis 27. September 1955 durchgeführt. Der Buchführung wurde mangels Ordnungsmäßigkeit die Beweiskraft abgesprochen. Umsätze und Gewerbegewinne wurden geschätzt. Die für die Jahre 1949 bis 1953 nach den §§ 7 a, 7 c, 7 e EStG und § 7 EStDV beantragten und gewährten Steuerbegünstigungen wurden versagt. Bei der Schätzung des Gewerbegewinnes hielt der Prüfer einen durchschnittlichen Reingewinnsatz von 8 v. H. für angemessen. Dieser Satz wurde jedoch für die Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1951 auf 7 v. H. ermäßigt, weil der Bf. geltend machte, daß der Gewinn in dieser Zeit durch ein "übermaß an Ladenhütern" ungünstig beeinflußt worden sei. Für die Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1951 wurde "aus Billigkeitsgründen" der ermäßigte Umsatzsteuersatz nach § 7 Abs. 3 UStG trotz unzureichenden Buchnachweises auch weiterhin zugebilligt.
Das Prüfungsergebnis wurde am 20. Oktober 1955 mit dem Bf. und seinem Helfer in Steuersachen besprochen. Dem Bf. wurde Gelegenheit gegeben, innerhalb von 14 Tagen die Gründe darzulegen, die eine Schätzung des Umsatzes für die Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1951 auf Grund eines niedrigeren Rohaufschlages als 29 v. H. rechtfertigen könnten. Der Sachverhalt wurde mit dem Bf. und seinem Helfer in Steuersachen erneut am 18. November 1955 und am 6. und 7. Dezember 1955 erörtert. Dem Vorbringen des Bf., die Rohaufschläge und die Reingewinnsätze der Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1951 seien durch ein übermaß an "schlecht gängigen Waren" sowie durch mehrmalige Verlegung der Betriebs- und Geschäftsräume ungünstig beeinflußt worden, wurde durch Herabsetzung des Rohaufschlagsatzes und des Reingewinnsatzes von 29 v. H. auf 26 v. H. bzw. von 8 v. H. auf 7 v. H. entsprochen.
Auf dieser Grundlage verzichtete der Bf. am 7. Dezember 1955 zur Niederschrift der Behörde auf Einlegung von Rechtsmitteln gegen die noch zu erlassenden Berichtigungsbescheide. In einer Nachtragserklärung vom 20. Dezember 1955 bestätigte er seine Verzichtserklärung vom 7. Dezember 1955 mit dem Bemerken, darauf hingewiesen zu sein, daß der Rechtsmittelverzicht nicht rückgängig gemacht werden könne. Die Verzichtserklärung des Bf. entspricht den Erfordernissen, die nach der Entscheidung des erkennenden Senats IV 524/52 U vom 30. Juli 1953 (BStBl 1953 III S. 288, Slg. Bd. 57 S. 760) bei einem vor Erlaß des Steuerbescheids erklärten Rechtsmittelverzicht zu beachten sind. Die Berichtigungsbescheide entsprechen der Verzichtserklärung. Soweit von ihr abgewichen worden ist, handelt es sich um geringfügige Abweichungen nach unten.
Am 25. Januar 1956 ging der Betriebsprüfungsbericht dem Bf. zu. Mit Schriftsatz vom 3. März 1956 beantragte er, die begehrten Steuervergünstigungen trotz Ordnungswidrigkeit der Buchführung "aus Billigkeit" zu gewähren.
Am 30. Juni 1956 legte der Bf. gegen die - ohne Rechtsmittelbelehrung - am 29. Mai 1956 zur Post gegebenen Berichtigungsbescheide "vorsorglich" Einspruch ein, wobei er sich auf den Hinweis beschränkte, "daß bezüglich des Rechtsmittelverzichts Bedenken bestünden". In mündlicher Verhandlung vom 25. Juli 1956 wurden der Bf. und sein Helfer in Steuersachen darauf hingewiesen, daß der Rechtsmittelverzicht den Erfordernissen im Sinne der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs entspreche. Erstmals mit Schriftsätzen vom 29. März 1957 und vom 16. September 1957 machte er geltend, daß der Rechtsmittelverzicht aus folgenden Gründen unwirksam sei: Inhaberin und Leiterin des gewerblichen Unternehmens sei laut Eintragung im Handelsregister seine Ehefrau. Diese habe keinen Rechtsmittelverzicht erklärt und ihn - den Bf. dazu auch nicht schriftlich bevollmächtigt. Der Rechtsmittelverzicht sei auch deshalb unwirksam, weil er vor Zusendung des Betriebsprüfungsberichts entgegengenommen worden sei. Das sei im Hinblick auf § 205 Abs. 3 AO sowie im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unzulässig. Er habe sich zudem in einer starken Zwangslage befunden, weil er bei einem etwaigen Wegfall der vom Finanzamt an den Rechtsmittelverzicht gebundenen Zugeständnisse mit noch höheren Steuernachforderungen habe rechnen müssen.
Einspruch und Berufung blieben erfolglos. Die Vorinstanzen haben den Rechtsmittelverzicht für wirksam erachtet und deshalb ein Eingehen auf die Sache abgelehnt. Auf die Vorentscheidungen wird Bezug genommen.
Die Rb. wird in erster Linie mit Verletzung des rechtlichen Gehörs und mit der Zwangslage begründet, in der sich der Bf. bei Abgabe der Verzichtserklärung befunden habe.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist unbegründet.
Nach der im Zeitpunkt des Rechtsmittelverzichts und bei Erlaß der Berichtigungsbescheide gegebenen Rechtslage waren die Bf. - der Bf. und seine Ehefrau - auf Grund des § 26 EStG alter Fassung zusammen zu veranlagen. Nach § 7 Abs. 2 des Steueranpassungsgesetzes StAnpG) schulden zusammen zu veranlagende Ehegatten die Einkommensteuer als Gesamtschuldner nach dem gleichen Einkommen. Es kommt nicht darauf an, welcher Ehegatte die diesem Einkommen zugrunde liegenden Einkünfte erzielt hat. Das Gesetz geht davon aus, daß beide Ehegatten das gleiche Einkommen bezogen haben (Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 27/58 U vom 11. März 1958, BStBl 1958 III S. 212, Slg. Bd. 66 S. 556). Der Bf. war daher jedenfalls für seine Person zum Rechtsmittelverzicht befugt, auch wenn es sich bei den gewerblichen Einkünften um Einkünfte seiner Ehefrau - der Bfin. - gehandelt haben sollte. Der vom Bf. erklärte Rechtsmittelverzicht ist aber - wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat - auch für die Ehefrau des Bf. unmittelbar erklärt und für sie unter den gleichen Voraussetzungen wie für den Bf. bindend. Welche Wirkungen Handlungen eines Gesamtschuldners für den anderen Gesamtschuldner haben, hat das Gesetz in § 7 Abs. 4 und Abs. 5 StAnpG nur insoweit geregelt, als es sich um die Erfüllung von Zahlungspflichten und anderen Pflichten handelt. Soweit es sich um die Wahrnehmung prozessualer Befugnisse wie Rechtsmitteleinlegung und Rechtsmittelverzicht handelt, gelten die allgemeinen Grundsätze. Danach kann die Ehefrau ihre Rechte selbständig wahrnehmen oder einen anderen - auch formlos und stillschweigend - dazu ermächtigen. Bei zusammen veranlagten Ehegatten nimmt der Senat, wenn - wie hier - der nach § 210 Abs. 2 AO einheitlich ergangene Bescheid an beide Ehegatten gerichtet ist, an, daß das vom Ehemann eingelegte Rechtsmittel prozessual auch für und gegen die Ehefrau wirkt (Entscheidungen des Bundesfinanzhofs IV 135/51 U vom 12. September 1951, BStBl 1951 III S. 192, 193, Slg. Bd. 55 S. 477, und IV 27/58 U vom 11. März 1958, a. a. O. S. 214). Das gleiche muß für den Fall des Rechtsmittelverzichts gelten, soweit nicht besondere Umstände dagegen sprechen. Derartige Umstände sind aber hier nicht ersichtlich. Das Gegenteil ist nach dem Auftreten des Bf. der Fall. Er hat nach den unbestrittenen Feststellungen des Finanzamts seit jeher wirtschaftlich und steuerlich die Interessen des Unternehmens wahrgenommen. Das Finanzgericht konnte nach den gegebenen Verhältnissen mit Recht feststellen, daß der Rechtsmittelverzicht vom Bf. - für alle Beteiligten erkennbar - auch für seine Ehefrau erklärt worden ist, auch wenn dies in der Verzichtserklärung nicht besonders zum Ausdruck gebracht worden ist. Daraus folgt, daß der vom Bf. eingelegte Einspruch auch für seine Ehefrau eingelegt worden ist. Sie ist unmittelbar prozeßbeteiligt.
Der Einwand mangelnden rechtlichen Gehörs kann gleichfalls nicht durchgreifen, ebensowenig der Einwand unzulässiger Beeinflussung durch Zwang. Der Sachverhalt ist wiederholt in größeren Abständen mit dem Bf. und seinem Berater mündlich erörtert worden. Der Bf. hatte genügend Bedenkzeit. Er konnte sich frei entscheiden, ob er den Rechtsmittelverzicht vor oder erst nach Zusendung des Betriebsprüfungsberichts erklären wollte. Es ist kein Zwang auf ihn ausgeübt worden, der ihn an seiner freien Willensentscheidung gehindert hätte. Das muß auch unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs als ausreichend angesehen werden. Daß sich der Bf. bei der von ihm zu treffenden Entscheidung im Hinblick auf einen etwaigen Wegfall bisherigen Entgegenkommens des Finanzamts in einer psychologischen Zwangslage befand, hebt die Freiheit seiner Entscheidung nicht auf. In der gleichen Lage befindet sich jeder Steuerpflichtige, der zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen hat. In dieser Lage befindet sich unter anderem auch der Steuerpflichtige, wenn er innerhalb der Rechtsmittelfrist das Prozeßrisiko oder sonstige Nachteile - zum Beispiel nach § 243 Abs. 3 AO - abzuwägen hat. Auch insoweit ist daher der Vorentscheidung beizutreten.
Die Einwendungen gegen die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts könnten im übrigen auch deshalb nicht berücksichtigt werden, weil sie verspätet vorgebracht worden sind. Der Bf. hat erstmals am 30. Juni 1956 - also rund sieben Monate nach dem Rechtsmittelverzicht und rund fünf Monate nach Erhalt des Betriebsprüfungsberichts - ohne weitere Begründung Bedenken gegen die Rechtswirksamkeit des Verzichts geäußert. Anläßlich der mündlichen Verhandlung vom 25. Juli 1956 mit dem zuständigen Sachgebietsleiter des Finanzamts, die die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zum Gegenstand hatte, hat er offenbar noch keinen der erst wesentlich später schriftsätzlich vorgetragenen Gründe geltend gemacht. Seine Schreiben vom 29. März 1957 und vom 16. September 1957, mit denen er erstmals substantiierte Einwendungen vorgebracht hat, liegen weit über ein Jahr nach dem Rechtsmittelverzicht und nach dem Erhalt des Betriebsprüfungsberichts. Er kann nun nicht mehr damit gehört werden (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs IV 192/52 U vom 3. Juli 1952, BStBl 1952 III S. 241, Slg. Bd. 56 S. 627, und IV 154/54 U vom 13. Mai 1954, BStBl 1954 III S. 219, Slg. Bd. 59 S. 28). In der erstgenannten Entscheidung hat der Senat betont, daß Steuerpflichtige, die wichtige Erklärungen abgeben, grundsätzlich daran gebunden sind und daß dabei ihre Beweggründe unbeachtet bleiben müssen, soweit sie in der Niederschrift nicht zum Ausdruck gekommen sind, da die Niederschrift die Vermutung der Richtigkeit und der Vollständigkeit für sich hat. Der Senat hat in dieser Entscheidung insbesondere betont, daß Einwendungen gegen die Wirksamkeit einer derartigen niederschriftlichen Erklärung im Interesse der Rechtssicherheit unverzüglich geltend zu machen sind. Wenn er trotz dieser grundsätzlichen Darlegungen in dem von ihm entschiedenen Falle das späte Vorbringen des Anfechtungsgrundes nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen gewürdigt hat, so geschah dies im Hinblick darauf, daß zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Finanzministerium wegen einer Herabsetzung der festgesetzten Steuern konkrete Verhandlungen schwebten, die dem Steuerpflichtigen bei verständiger Würdigung nach Auffassung des Senats Anlaß geben konnten, seinen Anfechtungsgrund noch zurückzustellen und vorerst von der Geltendmachung der Unwirksamkeit seiner Erklärung abzusehen. Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben. In der Entscheidung IV 154/54 U vom 13. Mai 1954 hat der Senat Anlaß genommen, seine grundsätzliche Auffassung in dieser Frage unter erneuter Betonung des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu unterscheiden und unmißverständlich klarzustellen, daß grundsätzlich Einwendungen gegen die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts - wenn nicht früher - so doch spätestens innerhalb der Monatsfrist des § 245 AO geltend zu machen sind. An diesen Grundsätzen hält der Senat auch bei erneuter Prüfung fest. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gehört zu den tragenden Prinzipien auch des Steuerrechts. Er gilt nicht nur zugunsten der Steuerpflichtigen, sondern auch - was nicht immer hinreichend berücksichtigt wird - zugunsten der Verwaltung. Aus dieser Erwägung hat der Gesetzgeber beispielsweise dem Steuerpflichtigen für die Geltendmachung von Nachsichtgründen in § 87 Abs. 2 AO lediglich eine Frist von zwei Wochen zugebilligt. Es wäre nicht vertretbar, einem Steuerpflichtigen, der die Vermutung der Vollständigkeit und der Richtigkeit seiner schriftlichen Erklärung gegen sich hat und der deshalb in besonderem Maße zur Darlegung und zum Nachweis etwaiger Einwendungen gegen die Wirksamkeit seiner Erklärung verpflichtet ist, grundsätzlich eine über die Monatsfrist des § 245 AO hinausreichende Frist zur Anfechtung seiner Erklärung und zur Darlegung seiner Einwendungen sowie zur Begründung dieser Einwendungen einzuräumen. In diesem Zusammenhang sei noch darauf hingewiesen, daß dem Steuerpflichtigen nach § 52 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs des Gesetzes über die Finanzgerichtsbarkeit, den die Bundesregierung den parlamentarischen Instanzen zugeleitet hat, für die dort vorgesehene Möglichkeit, den vor Erlaß des Steuerbescheides erklärten Rechtsmittelverzicht zurückzunehmen, aus Gründen der Rechtssicherheit nur eine Bedenkzeit von zwei Wochen zugebilligt wird.
Demnach muß der Rb. der Erfolg versagt bleiben.
Fundstellen
Haufe-Index 410024 |
BStBl III 1961, 263 |
BFHE 1961, 722 |
BFHE 72, 722 |