Leitsatz (amtlich)
Rückstellungen sind aufzulösen, wenn nach dem Bilanzstichtag - aber vor der Bilanzaufstellung - Umstände bekannt werden, aus denen sich ergibt, daß mit einer Inanspruchnahme nicht mehr zu rechnen ist. Die Auflösung erhöht in diesem Fall auch dann den Gewinn, wenn und soweit die Rückstellungen in einer Eröffnungsbilanz gewinneutral gebildet worden sind.
Normenkette
EStG § 4 Abs. 1, §§ 5, 6 Abs. 1 Nr. 3; KStG § 6 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin ist eine AG, deren Aktien nach den Feststellungen des FG in Ungarn nach dem Kriege durch den Staat enteignet worden sind. Sie wird mit ihrem in der BRD befindlichen Vermögen als eine Spaltgesellschaft i. L. mit der Geschäftsleitung im Inland behandelt. Ihr Vermögen ist ausschließlich in festverzinslichen Wertpapieren und Bankkonten angelegt. In ihrer Bilanz zum 31. Dezember 1966 hatte sie Rückstellungen für Lizenzforderungen der A-AG, Schweiz, in Höhe von 264 327 DM und für Vermögensabgabe in Höhe von 36 697 DM ausgewiesen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das FA) war der Ansicht, daß die Rückstellungen aufzulösen seien, und erhöhte das körperschaftsteuerpflichtige Einkommen 1966 um 301 024 DM. Der Einspruch hatte nur insoweit Erfolg, als das FA der Klägerin wegen der Gewinnerhöhung eine zusätzliche Gewerbesteuerrückstellung von 33 127 DM zubilligte.
Das FG hat die Klage mit folgender Begründung abgewiesen: Das Risiko einer Inanspruchnahme durch die A-AG habe sich bereits vor der Bilanzaufstellung verflüchtigt. Die Zahlungsklage der A-AG sei durch Urteil des Landgerichts vom 24. November 1966 abgewiesen worden. Das Urteil sei noch vor Bilanzerstellung rechtskräftig geworden. Der in Ungarn verstaatlichten Gesellschaft, die die Forderung der A-AG beglichen habe, sei kein Regreßanspruch gegen die Klägerin zugewachsen. Auch die Rückstellung für Vermögensabgabe müsse aufgelöst werden. Das FA habe seinen Vermögensabgabebescheid vom 24. September 1965 am 30. März 1967 - also ebenfalls noch vor Erstellung der Bilanz - ersatzlos aufgehoben.
Die Klägerin rügt mit der Revision Verletzung der §§ 5, 6 EStG. Sie macht geltend: Am 31. Dezember 1966 habe die Rückstellung für Vermögensabgabe beibehalten werden dürfen, da das FA den Vermögensabgabebescheid erst nach dem Bilanzstichtag aufgehoben habe. Auch die Rückstellung wegen der Lizenzansprüche der A-AG habe aufrechterhalten werden dürfen. Das Landgericht habe die Zahlungsklage der A-AG nur deswegen abgewiesen, weil die Forderung bereits von der verstaatlichten Gesellschaft in Ungarn beglichen worden sei. Diese habe indes die Zahlung mit der Bedingung verknüpft, daß die A-AG sie, die Klägerin, verklage, und damit zu erkennen gegeben, daß in jeder nur denkbaren Weise Regreß genommen werden solle. Nach einer Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik Ungarn müsse mit dem Erfolg solcher Bemühungen gerechnet werden. Zumindest sei die Rückstellung wegen der Lizenzansprüche der A-AG in Höhe von 203 092,19 DM (Stand 1. Januar 1959) erfolgsneutral aufzulösen. Insoweit habe sich die Bildung der Rückstellung nicht gewinnmindernd ausgewirkt. Die Bilanz zum 1. Januar 1959 sei die erste für steuerliche Zwecke erstellte Bilanz gewesen. Eine Gewinnminderung hätte im wesentlichen auch nicht eintreten können, wenn die Ansprüche der A-AG entsprechend den aktienrechtlichen Vorschriften sogleich nach der Verstaatlichung am 11. Mai 1948 passiviert worden wären. Die Rückstellung hätte dann in Höhe des am 21. Juni 1948 vorhandenen Liquidationsvermögens von 168 586,04 DM ohne Gewinnschmälerung in die DM-Eröffnungsbilanz (DMEB) eingestellt werden müssen. Das Ergebnis ändere sich nicht, wenn auf den 1. Januar 1959 ein Wechsel der Gewinnermittlungsart angenommen werde. Die Bestimmungen über Hinzu- und Abrechnungen könnten nur angewandt werden, wenn nicht - wie es hier für die Steueransprüche vor 1959 der Fall sei - bereits Verjährung eingetreten sei.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Körperschaftsteuer unter Berücksichtigung einer erfolgsneutralen Auflösung der Rückstellungen in Höhe von 203 092,19 DM neu festzusetzen, hilfsweise das Verfahren bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und der Volksrepublik Ungarn auszusetzen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen und den Aussetzungsantrag abzulehnen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
1. Zutreffend geht die Vorinstanz in Übereinstimmung mit den Beteiligten davon aus, daß die Klägerin eine unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtige Kapitalgesellschaft mit der Geschäftsleitung im Inland ist, die von der in Ungarn verstaatlichten AG unabhängig ist (vgl. Urteile des BFH vom 24. August 1956 I 57/56 U, BFHE 63, 241, BStBl III 1956, 289; vom 1. März 1966 I 13, 14/65, BFHE 84, 570, BStBl III 1966, 207). Ohne Bedeutung ist, daß die frühere AG in Ungarn formell bestehen blieb und nur die Anteile auf den Staat überführt wurden. Der BGH, dessen Auffassung von dem Wesen einer Spaltgesellschaft der Rechtsprechung des BFH zugrunde liegt, hat es als unerheblich bezeichnet, ob die konfiskatorische Maßnahme die juristische Person und die Mitgliedschaftsrechte oder nur die Mitgliedschaftsrechte ergreift. In beiden Fällen besteht die juristische Person mit ihrem außerhalb des enteigneten Staates vorhandenen Vermögen fort (vgl. u. a. BGH-Urteil vom 6. Oktober 1960 VII ZR 136/59, BGHZ 33, 195) und ist als Spaltgesellschaft selbständige Trägerin von steuerlichen Rechten und Pflichten. Soweit die Klägerin nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist geltend gemacht hat, nach einer ihr zugekommenen Information seien die Aktien der in Ungarn bestehenden Gesellschaft nicht enteignet ("verstaatlicht") worden, sondern hätten auch vorher dem ungarischen Staat gehört, handelt es sich um neues - zudem lediglich als Vermutung vorgetragenes - tatsächliches Vorbringen, das in der Revisionsinstanz nicht mehr berücksichtigt werden kann (§ 118 Abs. 2 FGO).
2. Die streitigen Rückstellungen waren zum 31. Dezember 1966 aufzulösen. Ein Kaufmann, der auch die Klägerin (trotz bloßer Vermögensverwaltung) kraft Rechtsform ist, ist bei Aufstellung der Bilanz verpflichtet, alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Verhältnisse am Bilanzstichtag von Bedeutung sind, auch wenn sie in jenem Zeitpunkt noch nicht eingetreten oder noch nicht bekannt sind (BFH-Urteil vom 27. April 1965 I 324/62 S. BFHE 82, 445, BStBl III 1965, 409). Dazu gehören im vorliegenden Fall die nach dem Bilanzstichtag, aber vor der Bilanzerstellung eingetretenen Umstände, daß der Vermögensabgabebescheid ersatzlos aufgehoben und das die Klage der A-AG abweisende Urteil des Landgerichts rechtskräftig wurde. Hieraus erhellt, daß die vom FA und von der A-AG erhobenen Ansprüche schon am Bilanzstichtag nicht mehr bestanden.
Die Klägerin durfte die Rückstellung für Lizenzforderungen der A-AG auch nicht deswegen fortführen, weil sie am 31. Dezember 1966 mit gleichhohen Ansprüchen der in Ungarn verstaatlichten Gesellschaft zu rechnen gehabt hätte. Der erkennende Senat ist mit dem III. Senat des BFH (nicht veröffentlichtes Urteil vom 14. Januar 1972 III R 117/70 in der Parallelsache betreffend Einheitsbewertung des Betriebsvermögens der Klägerin zum 1. Januar 1967) der Ansicht, daß sich nach den am Bilanzstichtag vorliegenden Verhältnissen keine Anhaltspunkte für eine erfolgversprechende Regreßnahme ergaben. Die verstaatlichte Gesellschaft hat die Ansprüche der A-AG im Jahre 1953 oder kurz danach befriedigt. Sie hat die Klägerin seither bis zur Bilanzerstellung nie unmittelbar in Anspruch genommen. Der Versuch, über die A-AG unter Verschweigung der Zahlung zum Regreß zu gelangen, war bereits vor der Bilanzerstellung gescheitert.
Zutreffend hat überdies das FG eine Verpflichtung der Klägerin gegenüber der in Ungarn verstaatlichten Gesellschaft verneint. Der BGH hat ausgeführt, daß nach dem Territorialitätsprinzip dem Enteignerstaat ein Zugriff auf das außerhalb seines Hoheitsgebiets belegene Vermögen des Enteigneten schlechthin verwehrt ist, und aus diesem Grunde die Zahlungsklage des ungarischen Staates gegen eine in der BRD belegene Spaltgesellschaft für unbegründet erachtet (BGH-Urteil vom 31. März 1971 VIII ZR 40/69, BGHZ 56, 66). Die gleiche Überlegung würde eingreifen, wenn anstelle des Enteignerstaates die nur formell im Enteignerstaat fortbestehende Aktiengesellschaft gegen die Spaltgesellschaft vorgehen sollte. Der Enteignerstaat soll weder unmittelbar noch mittelbar Vermögen der Spaltgesellschaft an sich ziehen können. Für die Vermutung der Klägerin, der verstaatlichten Gesellschaft könnte im Zusammenhang mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu der Volksrepublik Ungarn ein Regreßanspruch eingeräumt werden, fehlt zum mindesten auf den Bilanzaufstellungszeitpunkt jeglicher Anhalt.
3. Der Senat folgt schließlich der Vorinstanz auch darin, daß sich die Auflösung der Rückstellung für Lizenzansprüche der A-AG in voller Höhe zum 31. Dezember 1966 vermögens- und gewinnmehrend auswirkt. Die Klägerin hat sich anläßlich ihrer erstmaligen steuerlichen Erfassung in den Jahren 1964/1965 rückwirkend für die nicht rechtsverjährte Zeit ab 1959 dafür entschieden, ihren Gewinn nach § 5 EStG zu ermitteln. Daran muß sie sich festhalten lassen, wobei dahingestellt bleiben kann, ob sie als eine im ausländischen Recht wurzelnde AG auch eine Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG hätte wählen können. Ein Übergang in der Gewinnermittlung von § 4 Abs. 3 EStG zu § 5 EStG am 1. Januar 1959 hätte allenfalls zu einer Minuskorrektur des Gewinns 1959 in Höhe der am 1. Januar 1959 ausgewiesenen Rückstellung führen können (BFH-Urteile vom 28. Mai 1968 IV R 202/67, BFHE 92, 555, BStBl II 1968, 650; vom 3. Juli 1968 I 113/65, BFHE 93, 230, BStBl II 1968, 736). Eine Auswirkung für das Streitjahr würde sich selbst über einen Verlustabzug nicht ergeben, da der Fünfjahreszeitraum des § 10d EStG verstrichen war.
Das Ergebnis ändert sich nicht, wenn die Klägerin entsprechend dem deutschen Aktienrecht (§ 125 AktG 1937, § 148 AktG 1965) bilanzierungs- und buchführungspflichtig sein sollte und sonach von Anfang an ihren Gewinn nach § 5 EStG ermitteln mußte. Trifft die Darstellung des FA zu, daß die A-AG ihre Ansprüche erstmals 1958 geltend gemacht hat und vorher eine rückstellungsfähige Belastung nicht erkennbar war, würde ein Aufwand des Veranlagungszeitraums 1958 vorliegen, der nur deswegen ohne Auswirkung bliebe, weil für diesen Veranlagungszeitraum wegen Verjährung ohnedies keine Körperschaftsteuer angefordert worden ist.
Eine gewinnerhöhende Auflösung wäre aber selbst dann nicht zu vermeiden, wenn mit der Klägerin davon auszugehen wäre, daß sie schon bei ihrer Entstehung als Spaltgesellschaft anläßlich der Verstaatlichung in Ungarn erkennbar mit einer Verbindlichkeit gegenüber der A-AG belastet war. Dann müßte die Klägerin allerdings - wie ihr einzuräumen ist - so behandelt werden, als ob die Rückstellung bereits in der seinerzeit erkennbaren Höhe - höchstens aber mit dem Stand 1. Januar 1959 - in ihrer Eröffnungsbilanz passiviert worden wäre, wobei gleichgültig wäre, ob der Währungsstichtag vor oder nach der Verstaatlichung (Spaltung, Entstehung der Klägerin) lag; im letzten Fall hätte die Rückstellung, die sich auf eine Verbindlichkeit gegenüber einer Schweizer Gesellschaft in Schweizer Valuta bezog, unverändert aus der RM-Schlußbilanz in die DMEB übernommen werden müssen. Indes kann aus der erfolgsneutralen Bildung einer Rückstellung nicht stets gefolgert werden, eine solche Rückstellung müsse auch erfolgsneutral aufgelöst werden. Nach § 5 EStG (§ 5 Abs. 1 und 4 EStG 1969), der ebenso wie § 4 EStG auch im Körperschaftsteuerrecht gilt (§ 6 Abs. 1 Satz 1 KStG ist der Gewinn in der Weise zu ermitteln, daß für den Schluß des Wirtschaftsjahres das Betriebsvermögen anzusetzen ist (§ 4 Abs. 1 Satz 1 EStG), das nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist; die Vorschriften über die Entnahmen und Einlagen (§ 4 Abs. 1 EStG) sind zu befolgen. Danach ist grundsätzlich jede Vermögensmehrung Gewinn, wenn sie nicht auf Einlagen des Unternehmers beruht. Diese Gewinnermittlungsregel gilt auch für Rückstellungen. Es besteht kein Anlaß, eine Rückstellung für eine ungewisse Verbindlichkeit nach dem Wegfall des Risikos der Inanspruchnahme anders zu behandeln als eine bereits in der Eröffnungsbilanz eingestellte in jeder Beziehung gewisse Verbindlichkeit, die späterhin aus betrieblichen Gründen wegfällt und dann gewinnerhöhend auszubuchen ist.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO kommt nicht in Betracht. Die von der Klägerin erwartete Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und der Volksrepublik Ungarn würde - weil völkerrechtlicher Art und ohne unmittelbare Wirkungen auf die Beziehungen der beteiligten Staatsbürger zueinander - kein Rechtsverhältnis im Sinne dieser Vorschrift begründen. Sollte es, wie die Klägerin meint, im Zusammenhang mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu einer Neuregelung der gegenseitigen vermögensrechtlichen Beziehungen kommen, wäre dies ein Umstand, der sich möglicherweise auf die Bilanzierung der Klägerin nach Abschluß einer solchen Regelung auswirken könnte, jedoch ohne Einfluß auf die Bilanzierung zum 31. Dezember 1966 bleiben müßte.
Fundstellen
Haufe-Index 70351 |
BStBl II 1973, 320 |
BFHE 1973, 185 |