Leitsatz (amtlich)
Die Neuheit einer Tatsache, die eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO rechtfertigen kann, ist nicht deshalb zu verneinen, weil die Tatsache dem FA zwar erst nach Zustellung des ursprünglichen ESt-Bescheides, aber vor Erlaß eines Änderungsbescheides nach § 218 Abs. 4 AO bekanntgeworden ist.
Normenkette
AO § 218 Abs. 4, § 222 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
In der Revision ist noch streitig, für die Veranlagungszeiträume 1960 und 1961,
a) ob der Erlaß von Schulden der im Jahre 1952 liquidierten Einzelfirma des Klägers als Tatsache i. S. des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO für das Finanzamt neu war,
b) gegebenenfalls, ob dieser Erlaß einen nachträglich zugeflossenen steuerpflichtigen Gewinn aus Gewerbebetrieb darstellte und deshalb höhere Veranlagungen im Wege der Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO rechtfertigte.
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) werden als Eheleute zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Die Klägerin betreibt einen Furniergroßhandel. Der Kläger ist in diesem Betrieb als Geschäftsführer angestellt. Seine Einkünfte aus dieser nichtselbständigen Arbeit betrugen 1960 und 1961 je 6 896 DM.
Bis zum Jahre 1952 war der Kläger persönlich haftender Gesellschafter der OHG W. Nachdem der Mitgesellschafter, der Vater des Klägers, 1952 verstorben war, hatte der Kläger das überschuldete Unternehmen zunächst als Einzelfirma fortgeführt, es dann aber zum Jahresende 1952 eingestellt. Mit einem Teil seiner Gläubiger hatte er Schuldenerlasse vereinbart. Andere Gläubiger, wie u. a. die Commerzbank und die Vereinsbank, hatten sich an diesem außergerichtlichen Vergleich nicht beteiligt. Insgesamt war im Zuge der Firmenliquidation auf den Kläger ein Verlustanteil von 116 938 DM entfallen. Diesen Betrag haben die Kläger in den Jahren 1952 bis 1956 als Verlust vorgetragen und mit aktiven Einkünften ausgeglichen.
In den Streitjahren 1960 und 1961 tilgte die Klägerin für den Kläger einen Teil der verbliebenen Schulden. Die Gläubiger verzichteten alsdann auf den Rest ihrer Forderungen. Dazu ergibt sich im einzelnen folgendes:
1. Restschuld bei der Commerzbank und Vereinsbank
am 31. Dezember 1952 60 862,59 DM
Zahlung 1960 17 000,- DM
Erlaß durch die Banken 1960 43862,50 DM.
Lediglich an die Vereinsbank wurde im Jahre 1960
noch ein Kostenbetrag von 1 799,87 DM bezahlt.
2. Schuld an Firma K
am 31. Dezember 1952 1 789,41 DM
Zahlung in 1961 1 000,- DM
Erlaß durch die Firma laut Schreiben vom 17. Oktober 1961 789,41 DM.
3. Schuld an Firma L
am 31. Dezember 1952 7 585,56 DM.
Aufgrund von Verhandlungen verzichtete diese Firma laut Schreiben
vom 26. November 1960 auf ihren Forderungsbetrag in voller Höhe.
4. Schuld an Firma S
am 31. Dezember 1952 3 958,28 DM
Zahlungen von 1960 bis 1961 1 984,14 DM
Erlaß in 1961 1 974,14 DM.
Nach einer im Jahre 1968 durchgeführten Betriebsprüfung folgte der Beklagte und Revisionskläger (FA) der Auffassung des Prüfers, wonach diese Schuldenerlasse dem FA bisher nicht bekanntgewesen seien und es sich im übrigen um nachträgliche steuerpflichtige Erträge aus früheren gewerblichen Tätigkeiten des Klägers in folgender Höhe handle:
1960 49 648 DM,
1961 2 763 DM
Dementsprechend änderte das FA die bereits bestandskräftigen Veranlagungsbescheide gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO durch den Sammelbescheid vom 28. Januar 1969, in dem es die vom Betriebsprüfer errechneten Beträge als sonstige Einkünfte den Veranlagungen zugrunde legte.
Gegen die Berichtigungsbescheide für 1960, 1961 wandten sich die Kläger ohne Erfolg mit dem Einspruch.
Mit der Klage machten die Kläger geltend, durch den Schuldenerlaß in den Jahren 1960 und 1961 sei für den Kläger lediglich ein steuerfreier Sanierungsgewinn entstanden. Es komme nicht darauf an, ob im Sanierungszeitpunkt der Betrieb des Klägers noch bestanden habe. Nicht der Betrieb sei das selbständige Steuerobjekt, sondern der Steuerpflichtige. Allein dessen wirtschaftliche Verhältnisse seien zu beurteilen. Entscheidend sei, daß dem Schuldner durch die Sanierung die Möglichkeit gegeben werden solle, sich eine neue sichere Existenz aufzubauen. Der Kläger sei während der streitigen Jahre 1960 und 1961 sanierungsbedürftig gewesen. Sein laufendes Gehalt habe monatlich 600 DM betragen. Ansonsten habe er kein Vermögen besessen. Außerdem wird in der Klage ausgeführt, bei der Schuld gegenüber der Firma S in Höhe von 1 974,14 DM handle es sich nicht um einen echten Schuldenerlaß mit gewinnerhöhender Wirkung. Dieser Betrag sei auch in der Schlußbilanz der OHG W nicht erfaßt gewesen. Bei dem Schuldenerlaß durch die Firma L in Höhe von 7 585,56 DM habe es sich um die Nichtinanspruchnahme aus einem Besserungsschein gehandelt. Der eigentliche Erlaß sei bereits 1952 erfolgt.
Das FG hielt die Klage für begründet. Es führte im wesentlichen aus:
Das FA habe zu Unrecht für die Jahre 1960 und 1961 im Wege der Berichtigungsveranlagungen die streitigen Beträge von 49 648 DM und 2 763 DM der Einkommensteuer unterworien. Es könne dabei dahinstehen, ob es sich insoweit um nachträgliche Gewinne aus Gewerbebetrieb oder um sonstige Einkünfte handle. In jedem Falle aber hätten die Berichtigungsveranlagungen nicht ergehen dürfen, da die dazu erforderlichen Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht erfüllt seien. Die Vorschrift mache eine neue höhere Veranlagung davon abhängig, daß dem FA nach Absendung des Veranlagungsbescheides neue Tatsachen bekannt werden, die die höhere Veranlagung rechtfertigen. Neu sei eine Tatsache aber nur dann, wenn für das FA vor der Absendung des Veranlagungsbescheides keine Möglichkeit bestanden habe, sich die entsprechende Kenntnis von der betreffenden Tatsache im Rahmen seiner Ermittlungspflicht zu verschaffen. Das bedeute, daß eine Tatsache, von der das FA nach Absendung des Bescheids positiv erfahre, dann nicht neu sei, wenn es diese Tatsache bei gehöriger Erfüllung seiner Ermittlungspflicht schon früher hätte aufdecken müssen. So liege aber der Fall hier. Von der Tatsache des Erlasses von Schulden aus dem Jahre 1952 in den Jahren 1960 und 1961 hätte das FA schon vor der Veranlagung dieser Jahre im November 1963 (4. November 1963) Kenntnis erhalten können, und zwar im Rahmen des Verfahrens betreffend den Erlaß von Vermögensabgabe aus Billigkeitsgründen.
Mit der Revision beantragt das FA, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Das FA trägt vor:
In der mündlichen Verhandlung vom 26. August 1971 habe das FG die Parteien mit der Mitteilung überrascht, daß der Berichterstatter des Senats beim FA H eine Auskunft angefordert habe. Auf dieses Auskunftsschreiben des FA H vom 16. August 1971 beruhe das Urteil. Es werde gerügt, daß das FG dieses Schreiben ungeprüft seiner Urteilsfindung zugrunde gelegt habe
Gerügt werde außerdem ein Verstoß gegen § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und § 218 Abs. 4 AO. Die Vorentscheidung gehe davon aus, daß die ursprünglichen Einkommensteuerbescheide, die nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berichtigt worden seien, der Sammelbescheid vom 4. November 1963 gewesen sei. Dieser Sammelbescheid sei aber ein Bescheid nach § 218 Abs. 4 AO gewesen. Die ursprünglichen Bescheide seien schon am 12. März 1963 ergangen. Der hier fragliche Antrag auf Erlaß der Vermögensabgabe mit den einschlägigen Angaben hinsichtlich des Schuldenerlasses sei aber erst am 30. April 1963 beim FA eingegangen. Das FG gehe nicht darauf ein, warum bei einem nach § 218 Abs. 4 AO geänderten Bescheid auch neue Tatsachen, die dem FA zur Zeit des Erlasses des Bescheides bekannt seien oder hätten bekannt sein müssen, berücksichtigt werden müssen. Diese Frage sei höchstrichterlich noch nicht entschieden worden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Das FG hat zu Unrecht angenommen, für die angefochtenen Einkommensteuerberichtigungsbescheide für 1960 und 1961 hätten keine neuen Tatsachen nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO vorgelegen. Neu i. S. des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO war für die Streitjahre eine Tatsache dann, wenn das FA sie erst nach Absendung des Veranlagungsbescheides erfahren hat. Von den Schuldenerlassen in den Veranlagungszeiträumen 1960 und 1961, die das FA hier als neue Tatsachen gewertet hat, darf es also erst nach Absenden der Einkommensteuerbescheide für 1960 und 1961 Kenntnis erhalten haben, wenn sie als neue Tatsachen die angefochtenen Berichtigungsveranlagungen rechtfertigen sollen.
Die Schuldenerlasse sind dem FA nach den Feststellungen des FG frühestens mit den ergänzenden Angaben des Klägers zu seinem Antrag auf Erlaß der Vermögensabgabe aus Billigkeitsgründen am 30. April 1963 bekanntgeworden. Da die ursprünglichen Einkommensteuerbescheide der Kläger für 1961 am 12. März 1963 und für 1960 am 2. Februar 1962 ergangen sind, konnte das FA diese Tatsachen in den ursprünglichen Bescheiden noch nicht berücksichtigen. Sie waren also für das FA neu i. S. des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO.
Die gegenteilige Auffassung des FG beruht darauf, daß es die nach § 218 Abs. 4 AO geänderten Einkommensteuerbescheide für 1960 und 1961 vom 4. November 1963 als die ursprünglichen Bescheide angesehen hat. Diese Änderungsbescheide nach § 218 Abs. 4 AO waren notwendig geworden, weil das Betriebsfinanzamt geänderte Gewinnfeststellungsbescheide für die Klägerin erlassen hatte. Sie berühren nicht die Frage, ob für die angefochtenen Berichtigungsbescheide neue Tatsachen i. S. des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO vorlagen. Das ergibt sich schon daraus, daß Folgeänderungen nach § 218 Abs. 4 AO ohne weitere sachliche Prüfung von Amts wegen durchzuführen sind, sobald der Grundlagenbescheid geändert ist. Außerhalb der Folgeänderung bleibt der ursprüngliche Bescheid unverändert erhalten, d. h. er wird lediglich nochmals wiedergegeben.
Hingegen stellt die Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO eine neue Veranlagung dar, die eine sachliche Nachprüfung voraussetzt, ob die neuen Tatsachen, die bei der ursprünglichen Veranlagung noch nicht bekannt waren, im Rahmen der Wiederaufrollung der gesamten Veranlagung zu höheren Steuerfestsetzungen berechtigen. Es handelt sich also bei der Änderung nach § 218 Abs. 4 AO einerseits und der Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO andererseits ihrem Grund und ihrem Zweck nach um zwei verschiedene Verfahren zur Änderung des ursprünglichen Bescheides, die zwar häufig dieselbe Bezeichnung führen, aber auf verschiedenen Bahnen laufen und schon deshalb nicht voneinander abhängig sein können.
Aus diesem Grunde gilt auch der ohne sachliche Prüfung ergangene Änderungsbescheid nach § 218 Abs. 4 AO nicht als in Kenntnis eventuell schon vorher dem FA bekanntgewordener neuer Tatsachen ergangen. Eine solche Änderung nach § 218 Abs. 4 AO steht deshalb einer späteren Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht entgegen. Bei ihr kommt es allein auf den ursprünglichen Bescheid an, dessen sachliche Richtigkeit durch die neuen Tatsachen in Frage gestellt ist.
Es steht zwar nichts im Wege, die Berichtigung nach § 218 Abs. 4 AO mit der Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO in einem Bescheid zu verbinden. Eine Verpflichtung hierzu besteht aber für das FA nicht. Gerade weil die Änderungen der Einkommensteuerbescheide, die aufgrund einer einheitlichen Gewinnfeststellung oder aufgrund von Änderungen dieser einheitlichen Gewinnfeststellung vorgenommen werden, insoweit rein formeller Natur sind und keine sachliche Nachprüfung zulassen, kann dem FA nicht zugemutet werden, bei jeder Folgeänderung außerdem den ganzen Steuerfall sachlich von neuem zu prüfen, ob zur Zeit dieser Folgeänderung etwa auch neue Tatsachen oder Beweismittel bekanntgeworden sind, die möglicherweise eine höhere Berichtigungsveranlagung rechtfertigen könnten (vgl. hierzu Urteil des RFH vom 22. Januar 1936 VI A 949/33, RStBl 1936, 163).
Damit erledigen sich die Fragen, ob im vorliegenden Fall die fraglichen Schulderlasse deshalb keine neuen Tatsachen für das FA waren, weil die Sachbearbeiterin für die Einkommensteuer die in der Vermögensabgabeakte niedergelegte Mitteilung über die Schuldentilgung kennen mußte und ob das FG durch die Verwertung einer Auskunft des früheren Wohnsitzfinanzamts über die damalige Sachbearbeiterin, zu der das beklagte FA nicht mehr Stellung nehmen konnte, das Recht auf rechtliches Gehör verletzt hat.
Da das FG das Verhältnis von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zu § 218 Abs. 4 AO und damit zusammenhängend den Begriff der Neuheit von Tatsachen i. S. von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO verkannt hat, muß die Vorentscheidung aufgehoben werden. Es ist jetzt sachlich darüber zu entscheiden, ob die strittigen Schuldenerlasse in den Jahren 1960 und 1961 Vermögensmehrungen des Klägers darstellen, die als nachträgliche gewerbliche Einkünfte der Einkommensteuerpflicht unterliegen und damit erst eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO rechtfertigen können. Da das FG die für die Entscheidung dieser Frage erforderlichen tatsächlichen Feststellungen noch nicht getroffen hat und auf das unterschiedliche tatsächliche Vorbringen der Beteiligten nicht eingegangen ist, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen werden.
Fundstellen
Haufe-Index 71575 |
BStBl II 1975, 892 |
BFHE 1976, 521 |