Entscheidungsstichwort (Thema)
Sonstiges Bewertung Bewertung/Vermögen-/Erbschaft-/Schenkungsteuer
Leitsatz (amtlich)
Bei der Beantwortung der Frage, was als eine Wohnung anzusehen ist, müssen die nach Ausgang des Krieges tatsächlich bestehenden örtlichen Wohnverhältnisse berücksichtigt werden.
Wenn nach den örtlichen Verhältnissen damit zu rechnen ist, daß abgetrennte Wohnungen in einem ehemaligen Einfamilienhaus noch auf unabsehbare Zeit bestehen werden, kann dies einem dauernden Bestand gleichgestellt werden.
Soweit aus dem Urteil des Obersten Finanzgerichtshofs III 21/48 vom 23. November 1948, Steuer und Wirtschaft 1950 Nr. 9 etwas anderes zu entnehmen ist, wird diesem Urteil nicht beigepflichtet.
Normenkette
BewDV § 32/1/4; BewG § 75/1/4; BewG § 75/5
Tatbestand
Es ist mündliche Verhandlung beantragt. Es erschien dem Senat jedoch zweckmäßig, zunächst ohne eine solche zu entscheiden (ß 294 Absatz 2 der Reichsabgabenordnung - AO -).
Streitig ist die Art- und Wertfortschreibung der der Beschwerdegegnerin (Bgin.) gehörigen bebauten Grundstücke in X auf den 1. Januar 1948. Die Bgin. hatte vor längerer Zeit zur Unterbringung ihrer leitenden Angestellten in X eine größere Anzahl von Einfamilienhäusern nach verschiedenen Bautypen errichtet, deren Einheitswerte für den 1. Januar 1943 nach dem gemeinen Wert festgestellt worden sind. Die Bgin. ist der Auffassung, daß sämtliche Häuser unter der Auswirkung der Nachkriegsverhältnisse ihren früheren Charakter als Einfamilienhäuser verloren hätten und als Mietwohngrundstücke nach einem Vielfachen der Jahresrohmiete zu bewerten seien. Nach Betriebseinstellung infolge Demontierung bestehe für die Bgin. keine Veranlassung mehr, den ursprünglichen Charakter dieser Häuser als Einfamilienhäuser wieder herzustellen. Auch nach Beseitigung der Wohnraumnot würden diese Häuser von mehreren Familien bewohnt bleiben. Das Rechtsmittelverfahren wird als Musterfall durchgeführt. Die Entscheidung über die Fortschreibung der Einheitswerte für die übrigen Grundstücke ist ausgesetzt. Das Finanzamt hat die beantragte Art- und Wertfortschreibung abgelehnt. Das Finanzgericht hat dagegen dem Antrag stattgegeben. In dem angefochtenen Urteil wird festgestellt, daß die drei Grundstücke von mehreren Familien, bzw. Einzelpersonen bewohnt werden. Mit einer verringerten Belegung sei auf lange Zeit zu rechnen, daß die Wohnraumnot im Kreise Y wegen des außergewöhnlich großen Flüchtlingszustromes besonders katastrophal sei. Es sei gerichtsbekannt, daß gerade dieser Kreis unweit der östlichen Zonengrenze des Landes unter einer hundertprozentigen überbelegung leide. Der dadurch herrschenden Wohnraumnot sei auf lange Sicht auch nicht durch Neubautätigkeit abzuhelfen. Unter diesen Umständen müsse mit dem dauernden Bestand der zugewiesenen Wohnungen im Sinne des § 32 Absatz 1 Ziffer 4 der Durchführungsverordnung zum Reichsbewertungsgesetz (RBewDVO) gerechnet werden.
Die Belegung der drei Häuser und die Wohnraumverteilung ergibt sich aus den von der Bgin. in der Berufung eingereichten Hausbeschreibungen nebst Planskizzen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde (Rb.) des Vorstehers des Finanzamts.
Die Rb. rügt Verkennung des Begriffs "Wohnungen" im Sinne des § 32 Absatz 1 Ziffer 4 RBewDVO. Darunter seien selbständige und abgeschlossene Wohnungen zu verstehen, d. h. räumlich und wirtschaftlich getrennte Wohnungen, in denen ein selbständiger Haushalt geführt werden könne, ohne daß die Mitbenutzung anderer Räume im Hause mehr als ortsüblich erfolge. Zu einer Wohnung gehörten danach Wohn- und Schlafräume, Küche, WC. und sonstiges ortsübliches Zubehör zur alleinigen Benutzung durch den Mieter. Eine selbständige Wohnung liege auch dann nicht vor, wenn die Mieträume nur vom gemeinschaftlichen Wohnungsflur der Hauptwohnung aus zu erreichen seien. Außerdem müsse die Abtrennung von Wohnungen in einem früheren Einfamilienhause einen Dauerzustand darstellen. Die gegenwärtig im Kreise Y herrschende Wohnraumnot sei kein Dauerzustand, worauf die verstärkte Bautätigkeit und die geplante Umsiedlung von Flüchtlingen hindeute.
Entscheidungsgründe
Die Rb. kann nicht zum Erfolg führen.
Gemäß § 31 Absatz 1 Ziffer 4 a. a. O. gelten als Einfamilienhäuser solche Wohngrundstücke, die nach ihrer baulichen Gestaltung nicht mehr als eine Wohnung enthalten, wobei Wohnungen für Hauspersonal nicht mitrechnen. Die Eigenschaft als Einfamilienhaus wird jedoch dadurch nicht beeinträchtigt, daß durch Abtrennung von Räumen weitere Wohnungen (z. B. Not- oder Behelfswohnungen) geschaffen werden, wenn mit ihrem dauernden Bestand nicht gerechnet werden kann. Es fragt sich, ob in den hier in Betracht kommenden Häusern am Stichtag mehr als eine Wohnung vorhanden war, mit deren dauerndem Bestand gerechnet werden mußte. Klärungsbedürftig sind hiernach 1. der Wohnungsbegriff, 2. der Begriff des dauernden Bestandes.
Die Auslegung, die die Rb. dem Begriff Wohnung gibt, entspricht ohne Zweifel dem, was in normalen Zeiten nach der Verkehrsauffassung in Deutschland als Wohnung anzusehen war. Nach den Zerstörungen von Wohnraum durch den Krieg, nach der durch den Ausgang des Krieges geschaffenen Lage, nach dem Hereinströmen von Millionen von Deutschen aus den Ostgebieten in das Gebiet der Bundesrepublik ist jedoch eine Situation entstanden, die sich weitgehend von den in früheren Zeiten bestehenden Auffassungen darüber, was als Wohnung zu gelten hat, unterscheidet. Der Bundesfinanzhof kann an dieser Entwicklung nicht vorübergehen. Dies muß insbesondere für den hier in Betracht kommenden, unbestritten wohnraummäßig in besonders ungünstiger Lage befindlichen Kreis Y gelten. Der angezeigten Entwicklung hat die Rechtsprechung des früheren Reichsfinanzhofs bereits in gewissem Umfang Rechnung getragen. Mit dem Urteil III 29/39 vom 4. Juli 1940 (Reichssteuerblatt - RStBl. - 1940 S. 820) ist eine Lockerung der bis dahin bestehenden Rechtsprechung zum Begriff des Einfamilienhauses angebahnt worden, insofern das kennzeichnende Merkmal für das Vorliegen eines Einfamilienhauses nicht mehr unbedingt in der baulichen Gestaltung des Hauses, sondern in der Tatsache erblickt wurde, daß nach der Verkehrsauffassung nicht mehr als eine Wohnung vorhanden war. In dem Urteil III 37/42 vom 30. Juli 1942 (RStBl. 1942 S. 962) ist ausgesprochen, daß der ungehinderte Zugang vom Treppenhaus zu jedem Stockwerk für die Annahme eines Mietwohngrundstückes nicht Voraussetzung ist. Das am gleichen Tage ergangene Urteil III 89/42 (RStBl. 1942 S. 963) bejaht das Vorliegen eines Mietwohngrundstückes bei Mitbenutzung des bisherigen Einfamilienhauses durch die Familie des Sohnes des Hauseigentümers und stellt zugleich fest, daß jemand dort seine Wohnung hat, wo sich der Mittelpunkt seines familiären und geselligen Lebens befindet. In dem Urteil III 123/42 vom 24. September 1942 (RStBl.) 1942 S. 1102) wird ausgeführt, daß das Abtrennen von Räumen zur Schaffung weiterer Wohnungen nicht unbedingt bauliche Veränderungen erfordere. Im Streitfall waren am Stichtag in jedem der hier zu beurteilenden Häuser nach der Aufstellung über Belegung und Wohnraumverteilung mehrere Mietparteien vorhanden, die in den ihnen zur Verfügung gestellten Räumen den Mittelpunkt ihres familiären Lebens bzw. ihre Heimstätte hatten, und deren Räume nach der Verkehrsauffassung unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten als Wohnung angesehen wurden. Ob die einzelnen Mietparteien auf Grund eines Mietvertrages mit dem Grundstückseigentümer als Hauptmieter oder auf Grund Einweisung durch das Wohnungsamt als Untermieter wohnten, ob in Räumen mit eigenen Möbeln oder in möbliert vermieteten Zimmern, ist nach den am 1. Januar 1948 bestehenden Verhältnissen für sich allein nicht entscheidend. Es ist auch für den Wohnungsbegriff nicht allgemein zu fordern, daß jede Mietpartei eigene Küche, eigenes Bad und WC. hat. Auch bei Mitbenützung dieser Einrichtungen durch mehrere Parteien kann steuerlich eine Wohnung im Sinne des § 32 Absatz 1 Ziffer 4 a. a. O. vorhanden sein. Hieraus folge andererseits aber auch nicht, daß das möblierte Zimmer einer Einzelperson jeweils als Wohnung im Sinne der ausgeführten Bestimmung angesehen werden muß. Eine erschöpfende Darstellung und Abgrenzung aller tatsächlichen Möglichkeiten und Gestaltungen läßt sich nicht geben. Entscheidend ist letzten Endes immer die Verkehrsauffassung, für deren Bildung die besonderen Umstände des Einzelfalles und die örtlichen Verhältnisse ausschlaggebend sind. Es kann daher der Fall eintreten, daß an die Voraussetzungen für die Bejahung des Begriffs "Wohnung" in einem Teil der Bundesrepublik höhere Anforderungen gestellt werden als in einem anderen Teile. Daß am Stichtage im Kreise Y die Wohnraumverhältnisse besonders ungünstig waren, steht fest. Hiernach ist anzuerkennen, daß in der maßgebenden Zeit in den hier in Betracht kommenden Häusern mehrere Wohnungen vorhanden waren.
Die zweite Frage ist die, ob auf die Verhältnisse vom 1. Januar 1948 abgestellt mit dem dauernden Bestand dieser Wohnungen zu rechnen war. Ob dauernder Bestand vorliegt, ist im wesentlichen Tatfrage. Das Finanzgericht macht die Beantwortung dieser Frage von der amtlichen Auskunft der zuständigen örtlichen Wohnungsbehörde abhängig. Die Auffassung des Finanzgerichts, daß in der Regel nach dem Ergebnis dieser Auskunft zu entscheiden ist, erscheint allerdings zu weitgehend. Es können Fälle vorliegen, in denen die Wohnungsbehörde für ihren örtlichen Bereich allgemein noch eine mehr oder weniger lange Wohnraumbewirtschaftung bejaht, während eine dauernde Belegung für ein einzelnes Haus zu verneinen ist, z. B. weil sich der Eigentümer in so guter wirtschaftlicher Lage befindet, daß er seinen Mietern oder Untermietern angemessenen Ersatzraum zu bauen oder sonstwie zur Verfügung zu stellen in der Lage ist. Das Finanzgericht hat mit ausreichender Begründung dargetan, daß unter den ungünstigen Verhältnissen im Kreise Y dort noch für unabsehbare Zeit mit Fortdauer der Wohnungsnot zu rechnen ist. Hinzu kommt als besonderes Merkmal, daß die Bgin. unbestritten auf die bei ihr infolge der Demontage vorliegende Strukturänderung hingewiesen hat, daß infolgedessen von ihrer Seite aus keine Absicht bestehe, die Häuser wieder zu Einfamilienhäusern umzugestalten. Nun hat allerdings der Oberste Finanzgerichtshof in dem Urteil III 21/48 vom 23. November 1948, Steuer und Wirtschaft 1950 Nr. 9 ausgesprochen, daß ein vorübergehender Zustand noch nicht dadurch zum Dauerzustand wird, daß er voraussichtlich längere Zeit anhält. In dem dort entschiedenen Fall hatte jedoch der Steuerpflichtige erklärt, daß es seine Absicht sei, nach Aufhebung der Belegung das Haus wieder allein zu bewohnen. Im Streitfall ist das Gegenteil der Fall. Sollte das Urteil des Obersten Finanzgerichtshofs dahin zu verstehen sein, daß, wie lange auch die Wohnraumbewirtschaftung dauert, dennoch im Sinne des § 32 Absatz 1 Ziffer 4 a. a. O. nicht mit einem dauernden Bestand der durch die Abtrennung von Räumen geschaffenen Wohnungen gesprochen werden könne, so wäre dem Urteil insoweit nicht zuzustimmen. Denn es würde sich dann in einen nicht zu billigenden Gegensatz zu den tatsächlich bestehenden Verhältnissen auf dem Gebiet der Wohnungswirtschaft setzen.
über die Jahresrohmieten, die im Einvernehmen mit der Preisbehörde des Landkreises Y ermittelt worden sind, besteht unter den Beteiligten kein Streit. Demnach war die Rb. des Finanzamts als unbegründet zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 309 AO. Die Feststellung des Wertes des Streitgegenstandes auf § 320 a. a. O.
Fundstellen
Haufe-Index 424104 |
BStBl III 1951, 176 |
BFHE 55, 442 |