Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Hat sich das Finanzamt einer Gewinnschätzung des Steuerpflichtigen angeschlossen, so liegt eine neue Tatsache im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO jedenfalls dann vor, wenn der im Rahmen einer späteren überprüfung festgestellte tatsächliche Gewinn derart vom geschätzten Gewinn abweicht, daß dies bei der ursprünglichen Schätzung vom Finanzamt vernünftigerweise nicht mehr in Kauf genommen worden wäre.

 

Normenkette

AO §§ 217, 222 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Streitig ist die Zulässigkeit der Berichtigung der rechtskräftigen Einkommensteuerveranlagungen 1954 und 1955 nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO.

Der Bf., der als praktischer Arzt tätig ist, setzte in den Einkommensteuererklärungen 1954 und 1955 seine betrieblichen Ausgaben jeweils mit einem Pauschbetrag in Höhe eines Drittels seiner Einnahmen aus freier Berufstätigkeit ein. Für 1954 berücksichtigte das Finanzamt die Betriebsausgaben zunächst entgegen der Erklärung mit nur 30 v. H. der Einnahmen, änderte aber auf den Einspruch des Bf. die ursprüngliche Veranlagung gemäß § 94 AO und setzte die Ausgaben antragsgemäß mit 1/3 an, und zwar für 1954 in Höhe von 6.781 DM und für 1955, wobei das Finanzamt von vornherein der Erklärung folgte, in Höhe von 7.105 DM. Im Mai 1959 nahm das Finanzamt beim Bf. eine Betriebsprüfung vor. Der Prüfer stellte an Hand vorhandener Ausgabebelege die Ausgaben zusammen, die sich für 1954 auf 4.717 DM und für 1955 auf 5.818 DM beliefen. Das Finanzamt schloß sich den Prüfungsfeststellungen an und berichtigte gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO mit Steuerbescheid vom 24. August 1959 die früheren Veranlagungen.

Einspruch und Berufung blieben ohne Erfolg. Das Finanzgericht ließ sich im wesentlichen von folgenden Erwägungen leiten. Das Finanzamt habe erst durch die Betriebsprüfung erfahren, daß die Betriebsausgaben des Bf. beträchtlich niedriger gewesen seien als sie der Bf. erklärt habe. Der Prüfer habe, auch davon sei die Kammer überzeugt, die Höhe der dem Bf. tatsächlich erwachsenen Ausgaben zutreffend ermittelt. Wenn auch der Bf. dem widersprochen habe, so habe er es unterlassen, irgendwelche Tatsachen vorzutragen, um die Berechnungen des Prüfers zu widerlegen oder zu ergänzen. Zwar habe von Anfang an festgestanden, daß die vom Bf. selbst geschätzte Höhe der Ausgaben mit der tatsächlichen Höhe nicht übereinstimme. Das Finanzamt habe jedoch davon ausgehen können, daß die Schätzung wenigstens annähernd zutreffend gewesen sei. Eine Notwendigkeit, bei der ursprünglichen Veranlagung auf der Vorlage von Belegen zu bestehen, habe nicht vorgelegen. Vielmehr habe der Bf. die Aufgabe gehabt, klare Verhältnisse zu schaffen. Dieser Pflicht habe der Bf. zuwidergehandelt, wenn er trotz vorliegender Unterlagen und um sich die Arbeit des Zusammenstellens zu ersparen, dem Finanzamt gegenüber seine betrieblichen Ausgaben geschätzt habe. Ein Verstoß gegen die Grundsätze von Treu und Glauben sei auch nicht darin zu erblicken, daß das Finanzamt von der Schätzung zur genauen Ermittlung an Hand von Unterlagen übergegangen sei. Wenn es anfangs die Schätzung gebilligt habe, so sei dies darauf zurückzuführen, daß es der Meinung gewesen sei und habe sein können, der Bf. sei nicht im Besitz ausreichender Unterlagen über die Höhe der Ausgaben. Weiche, wie hier, der tatsächliche Betrag wesentlich von dem geschätzten ab, so bedeute das Einverständnis mit der Schätzung nicht, daß das Finanzamt nach Treu und Glauben an sie gebunden sei. Auch im rechnerischen Gesamtergebnis führe die Berichtigung zu einer um 403 DM bzw. 627 DM höheren Steuer. Es handele sich um Beträge, die nicht als geringfügig zu bezeichnen seien.

Hiergegen wendet sich der Bf. mit der Rb., mit der er im wesentlichen im Hinblick auf die Berichtigungsveranlagung 1954 das Folgende ausführt:

Er habe nach dem Verhalten des Finanzamts annehmen dürfen, daß die von ihm erklärten Zahlen die Billigung des Finanzamts hätten. Wenn dies jetzt in Frage gestellt werde so widerspreche das den im Geschäftsverkehr zu beachtenden Grundsätzen von Treu und Glauben. Dies um so mehr, als sich das Finanzamt auf seinen gegen die Veranlagung für 1954 erfolgten Einspruch hin im änderungsbescheid nach § 94 AO seiner Schätzung angeschlossen habe, ohne von ihm eine Einzelaufstellung der Betriebsausgaben zu verlangen.

 

Entscheidungsgründe

Die Prüfung der Rb. ergibt das Folgende:

I. - Zunächst ist fraglich, ob sich die von dem Bf. gegen das Urteil des Finanzgerichts eingelegte Rb. auf die Einkommensteuersache 1954 beschränkt oder auch die Einkommensteuersache 1955 umfaßt. Gemäß § 249 Abs. 2 AO gilt ein Rechtsmittel als eingelegt, wenn aus dem Schriftstück oder aus der Erklärung hervorgeht, daß sich der Erklärende durch die Entscheidung beschwert fühlt und deren Nachprüfung begehrt. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall für beide Veranlagungszeiträume erfüllt. In der Rb. wird hierzu ausgeführt, daß es sich zunächst um die Steuerfestsetzung für 1954 handele und daß 1955 nur mit "einer Art Anschlußverfahren mitbehandelt" werden könne. Wenn auch die Begründung der Rb. nur Ausführungen zur Einkommensteuersache 1954 enthält und mit dem Antrag schließt, den (zweiten) berichtigten Steuerbescheid 1954 vom 24. August 1959 für ungültig zu erklären, so kann aus der Rechtsbeschwerdeschrift gleichwohl gefolgert werden, daß der Bf. sich sowohl durch die zweite Berichtigungsveranlagung für 1954 als auch durch die (erste) Berichtigungsveranlagung für 1955 beschwert fühlt und deren Nachprüfung begehrt. Eine andere Beurteilung läßt der Hinweis des Bf. auf die Mitbehandlung der Einkommensteuersache 1955 in einer Art "Anschlußverfahren" nicht zu, allenfalls nur mit der Einschränkung eines Antrags auf Aussetzung des Verfahrens insoweit. Da aber Aussetzungsgründe weder dargetan noch aus dem Akteninhalt erkennbar sind, die Bestimmungen der AO über die Aussetzung des Verfahrens im übrigen nur für das Berufungsverfahren vor den Finanzgerichten anwendbar sind (vgl. §§ 264 Abs. 1, 298 Abs. 1 AO), hat der Senat über die Einkommensteuersachen 1954 und 1955 gleichzeitig zu entscheiden.

II. - Nach ständiger Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und des Bundesfinanzhofs kann auch eine auf Schätzung beruhende Veranlagung durch eine andere Schätzung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigt werden, wenn neue Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift festgestellt werden. Es muß sich jedoch dabei um Tatsachen handeln, bei deren rechtzeitigem Bekanntsein die tatsächlich vorgenommene Schätzung der Veranlagung nicht zugrunde gelegt worden wäre (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs IV 249/59 U vom 22. September 1960, BStBl 1960 III S. 516, Slg. Bd. 71 S. 716, und die darin enthaltene Rechtsprechungsübersicht). Als eine solche neue Tatsache kann im vorliegenden Fall die vom Betriebsprüfer auf Grund der Belege des Bf. ermittelte Höhe der Betriebsausgaben unter der Voraussetzung angesehen werden, daß das Finanzamt bei rechtzeitiger genauer Kenntnis dieser Tatsachen von vornherein die Schätzung der Betriebsausgaben nicht in Anlehnung an die vom Bf. in den Steuererklärungen angebotene Schätzung der Betriebsausgaben vorgenommen hätte. Hat sich, wie im vorliegenden Fall, das Finanzamt einer vom Steuerpflichtigen vorgenommenen Schätzung der Betriebsausgaben angeschlossen, so muß die spätere Feststellung anderer Beträge, etwa auf Grund einer Betriebsprüfung, nicht schon stets eine neue Tatsache im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO darstellen. Dies würde dem Wesen der Schätzung widersprechen, die das mögliche und wahrscheinliche Ergebnis mit einem gewissen Spielraum nach unten oder oben in sich schließt. Eine neue Tatsache im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO liegt in derartigen Fällen aber dann vor, wenn der im Rahmen einer späteren überprüfung, z. B. an Hand von beim Steuerpflichtigen vorgefundenen Unterlagen, festgestellte tatsächliche Gewinn vom geschätzten Betrag derart abweicht, daß dies vom Finanzamt bei der ursprünglichen Schätzung vernünftigerweise nicht mehr in Kauf genommen worden wäre. Hat z. B. der Steuerpflichtige seine Betriebsausgaben auf 10.000 DM geschätzt, so schließt dies in sich, daß unter Umständen auch solche in Höhe von 9.000 DM oder 11.000 DM entstanden sein können. Wenn in diesem Fall das Finanzamt, das der Schätzung des Steuerpflichtigen gefolgt ist, bei späteren Feststellungen unter Verwendung der gleichen Schätzungsunterlagen zu Betriebsausgaben von tatsächlich nur 9.500 DM käme, so läge hierin keine neue Tatsache. Denn das Finanzamt hätte bei seiner Schätzung sicher in Kauf genommen, daß es auch solche in Höhe von 9.500 DM hätten sein können.

Unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten steht es nach dem von der Vorinstanz insoweit bindend festgestellten Sachverhalt fest, daß es sich in beiden Streitjahren um neue Tatsachen im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO handelt. Die vom Steuerpflichtigen für die Ermittlung seiner Betriebsausgaben angebotene Schätzung in Höhe eines Drittels seiner Einnahmen ergab für 1954 einen Betrag von 6.781 DM und für 1955 einen solchen von 7.105 DM. Die Betriebsausgaben, die der Prüfer an Hand von beim Steuerpflichtigen vorgefundenen, von der Vorinstanz für vollständig gehaltenen Ausgabebelegen zusammengestellt hat, beliefen sich dagegen für 1954 auf nur 4.717 DM und für 1955 auf 5.818 DM. Die vom Prüfer auf Grund der Unterlagen des Bf. tatsächlich festgestellte Höhe der Betriebsausgaben weicht damit um rund 30 v. H. bzw. 20 v. H. von dem ursprünglich geschätzten Ergebnis ab. Diese Abweichung liegt jedenfalls nicht mehr - weder relativ noch absolut gesehen - im Rahmen des auch vom Finanzamt vernünftigerweise zu beachtenden Schätzungsrisikos.

Der Rb. muß daher der Erfolg versagt bleiben, wenn es sich bei dieser vom Prüfer festgestellten neuen Tatsache um eine solche von einigem Gewicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs handelt, im übrigen aber auch die Grundsätze von Treu und Glauben beachtet sind.

Daß es sich in beiden Streitjahren um Tatsachen von einigem Gewicht handelt, hat die Vorinstanz zutreffend angenommen. Denn die Berichtigung auf Grund der vom Betriebsprüfer festgestellten Tatsache führt im rechnerischen Gesamtergebnis zu einer um 403 DM bzw. 627 DM höheren Steuer - 1954: Erhöhung von 2.356 DM auf 2.759 DM, 1955: Erhöhung von 1.502 DM auf 2.129 DM - (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957, BStBl 1958 III S. 52, Slg. Bd. 66 S. 132, und IV 41/60 U vom 9. Februar 1961, BStBl 1961 III S. 216, Slg. Bd. 72 S. 594).

Zu Unrecht beruft sich der Bf. schließlich auf die Grundsätze von Treu und Glauben, nach denen er nach dem Verhalten des Finanzamts eine Berichtigung auf Grund neuer Tatsachen nicht mehr hätte zu erwarten brauchen. Folgt das Finanzamt, wie hier, einem Schätzungsvorschlag des Steuerpflichtigen, um dem Steuerpflichtigen wunschgemäß Zeit und Mühe für die Zusammenstellung seiner Betriebsausgaben zu ersparen, so sind die Grundsätze von Treu und Glauben nicht verletzt, wenn sich auf Grund späterer Nachprüfung die ursprüngliche Schätzung in einem Maße als unzutreffend erweist, das vernünftigerweise nach dem Schätzungsangebot des Steuerpflichtigen nicht zu erwarten war. Dies war aber, wie bereits ausgeführt, hier der Fall.

Die Vorinstanz hat somit die Zulässigkeit der Berichtigungsveranlagung für die Einkommensteuer 1954 und 1955 zutreffend bejaht. Hinsichtlich der Höhe der dem Bf. für 1954 und 1955 tatsächlich erwachsenen Betriebsausgaben ist die Vorinstanz den vom Betriebsprüfer insoweit getroffenen Feststellungen mit Rücksicht auf die von ihr gewonnene überzeugung gefolgt, daß der Betriebsprüfer sie ungeachtet der Einwendungen des Bf. zutreffend ermittelt hat. Da die Vorentscheidung insoweit weder einen Verstoß wider den klaren Inhalt der Akten, die Denkgesetze oder die Erfahrungen des täglichen Lebens aufweist, ist der Senat bei der beschränkten Rechtsnatur der Rb. an diese Tatsachenwürdigung der Vorinstanz gebunden, zumal es der Bf. auch unterlassen hat, mit der Rb. substantiierte Einwendungen gegen die Höhe der Betriebsausgaben zu erheben.

Da die angefochtenen Steuerbescheide 1954 und 1955 auch sonst weder tatsächliche noch rechtliche Mängel aufweisen, mußte die Rb. als unbegründet zurückgewiesen werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410598

BStBl III 1963, 60

BFHE 1963, 167

BFHE 76, 167

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