Leitsatz (amtlich)
1. Die Nichteinhaltung der Ladungsfrist nach § 91 Abs. 1 Satz 1 FGO kann eine Versagung rechtlichen Gehörs darstellen.
2. Ein Verstoß gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs wird im allgemeinen nicht dadurch bedeutungslos, daß der betreffende Beteiligte von der - eingeschränkten - Möglichkeit, rechtliches Gehör zu finden, keinen Gebrauch macht.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 91 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Mit vorläufigem Bescheid vom 5. November 1974 setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) gegen die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) als Alleinerbin nach ihrem verstorbenen Ehemann Erbschaftsteuer fest. Mit Bescheid vom, 15. Juni 1976 erklärte das FA die vorläufige Veranlagung für endgültig. Der Einspruch der Klägerin hatte nur insoweit Erfolg, als das FA die Erbschaftsteuer herabsetzte.
Hierauf erhob die Klägerin am 1. Dezember 1977 Klage, ohne diese zu begründen und einen bestimmten Antrag zu stellen. Nach mehreren Fristverlängerungen für die Einreichung der Klagebegründung forderte der Vorsitzende des befaßten Senats beim Finanzgericht (FG) die Klägerin gemäß Art. 3 § 3 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31. März 1978 (VGFG-EntlG) auf, bis zum 28. Januar 1979 ihre Klage zu begründen und einen bestimmten Antrag zu stellen. Einem nach Fristablauf eingegangenen Verlängerungsantrag der Klägerin wurde nicht entsprochen.
Mit dem auf mündliche Verhandlung vom 8. März ergangenen Urteil wies das FG die Klage mit der Begründung als unzulässig ab, daß diese nicht die in § 65 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zwingend vorgeschriebenen Voraussetzungen erfülle, weil sie nicht erkennen lasse, wodurch sich die Klägerin in ihren Rechten verletzt fühle. Bei der mündlichen Verhandlung war die Klägerin nicht anwesend. Die Klägerin war mit Postzustellungsurkunde am 22 Februar 1979 geladen worden.
Mit der vom FG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, das FG habe nicht die Ladungsfrist nach § 91 Abs. 1 FGO eingehalten. Hierin liege die Versagung des rechtlichen Gehörs. Ferner stelle dies einen Verfahrungsmangel dar, auf dem das angefochtene Urteil beruhe. Bei ordnungsgemäßer Ladung wäre sie, die Klägerin, in der Lage gewesen, bei Gericht zu er scheinen und ihre Einwendungen gegen den Steuerbescheide mündlich zu erläutern.
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II.
Auf die Revision der Klägerin wird das angefochtene Urteil aufgehoben, die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen
(§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO), da der Klägerin das rechtliche Gehör versagt worden ist.
1. Dem angefochtenen Urteil liegt eine mündliche Verhandlung zugrunde, bei der gegenüber der Klägerin die Ladungsfrist nicht gewahrt worden ist.
Nach § 91 Abs. 1 Satz 1 FGO sind zum Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem FG die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen zu laden. Dies bedeutet, daß zwischen dem Tag der Zustellung der Ladung und dem Terminstag zwei Wochen liegen müssen (§ 217 der Zivilprozeßordnung - ZPO - i. V. m. § 155 FGO). Der Zeitspanne zwischen Ladungszustellung (22. Februar 1979) und mündlicher Verhandlung (8. März 1979) fehlt jedoch ein Tag an der vom Gesetz vorgeschriebenen Mindestdauer. Von der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit, daß der Vorsitzende in dringenden Fällen die Frist abkürzt (§ 91 Abs. 1 Satz 2 FGO), ist kein Gebrauch gemacht worden.
2. Die Klägerin hat nicht das Recht verloren, die Nichteinhaltung der Ladungsfrist geltend zu machen.
Aufgrund des § 295 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 155 FGO kann die Verletzung einer Verfahrensvorschrift, wozu die Regelung über die Ladungsfrist gehört (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 39. Aufl., § 295 Anm. 2 D), unter gewissen Voraussetzungen geheilt werden. Eine Heilung tritt jedoch nur ein, wenn der Beteiligte auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet oder wenn er bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die aufgrund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich er erschienen und ihm der Mangel bekannt war oder bekannt sein mußte. Beide Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Die Klägerin hat sich weder mit einer kürzeren Ladungsfrist einverstanden erklärt noch war sie im Termin zur mündlichen Verhandlung, zu dem die Ladung erging, überhaupt anwesend.
3. Die Nichteinhaltung der Ladungsfrist stellt eine Versagung des rechtlichen Gehörs gegenüber der Klägerin dar (Ziemer/Haarmann/Lohse, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 7769).
Der finanzgerichtlichen Entscheidung durch Urteil muß grundsätzlich eine mündliche Verhandlung vorausgehen (§ 90 Abs. 1 FGO). Bei dieser haben die Beteiligten Gelegenheit, aufgrund des Vortrages des wesentlichen Akteninhalts durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter (§ 92 Abs. 2 FGO) sich zu vergewissern, daß ihr Begehren von dem Gericht richtig aufgefaßt worden ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 5. Dezember 1979 II R 56/76, BFHE 129, 297, 299, BStBl II 1980, 208). Sie können überdies bei der anschließenden Erörterung der Streitsache durch Tatsachenvortrag und Rechtsausführungen (vgl. § 93 Abs. 1 FGO) sicherstellen, daß sämtliche ihnen wichtig erscheinenden Gesichtspunkte vom Gericht gewürdigt werden Diese grundlegende Bedeutung der mündlichen Verhandlung für die finanzgerichtliche Entscheidung war im vorliegenden Fall nicht etwa deswegen gemindert, weil die Klägerin bereits vorher befristet aufgefordert worden war, ihre Klage zu begründen und einen bestimmten Antrag zu stellen, ohne daß sie der Aufforderung nachgekommen wäre. Denn der fruchtlose Erlaß einer befristeten Verfügung nach Art. 3 § 3 VGFG-EntlG - selbst wenn diese einwandfrei ergangen ist, was hier dahingestellt bleiben kann - führt nicht zu einem automatischen Ausschluß späteren Vorbringens. Das Gericht darf vielmehr nur unter den im Gesetz näher bezeichneten Umständen Erklärungen und Beweismittel zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden. Mithin ist die mündliche Verhandlung für Fälle der vorliegenden Art sogar von noch größerer Bedeutung als für diejenigen Streitsachen, bei denen kein Beteiligter Zurückweisungen nach Art. 3 § 3 Abs. 2 VGFG-EntlG abwehren muß.
Vor diesem Hintergrund muß die gesetzliche Festlegung der Ladungsfrist auf eine Mindestdauer von zwei Wochen betrachtet werden. Die vom Gesetz vorgesehene Zeitspanne soll es den Beteiligten nicht nur ermöglichen, die bloße Anwesenheit bei der mündlichen Verhandlung sicherzustellen. Sie soll außerdem gewährleisten, daß sich die Beteiligten auf den Termin vorbereiten können, damit sie imstande sind, sich in der Verhandlung zur Wahrung ihrer Belange angemessen zu äußern. Nur bei Beachtung der Mindestdauer der Ladungsfrist wird der Anspruch auf rechtliches Gehör vom Gericht im vollen Umfang gewährleistet.
Das FG hat das rechtliche Gehör der Klägerin dadurch verletzt, daß es die mündliche Verhandlung durchgeführt und anschließend ein Urteil verkündet hat, obwohl es die Ladungsfrist nicht eingehalten hat. Dieser Würdigung steht nicht entgegen, daß die Klägerin an der mündlichen Verhandlung überhaupt nicht teilgenommen hat, und zwar selbst dann nicht, wenn ihr Ausbleiben von ihr zu vertreten sein sollte. Denn auch die Möglichkeit, in dem durch die zu kurze Ladungsfrist eingeschränkten Rahmen ihre Interessen vor Gericht zu vertreten, vermöchte nichts daran zu ändern, daß das FG der Klägerin nicht im vollen Umfang rechtliches Gehör gewährt hat.
4. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Da die Versagung rechtlichen Gehörs nach § 119 Nr. 3 FGO ein absoluter Revisionsgrund ist, war die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 126 Rdnr. 5).
Fundstellen
BStBl II 1981, 401 |
BFHE 1981, 394 |