Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensmangel durch Versäumnisse des FG; Gebot des wirksamen Rechtsschutzes; Beweiswürdigung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Entscheidung des FG beruht auf einem Verstoß gegen das Gebot wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), wenn das Gericht ohne ersichtlichen Grund im Anschluß an eine mündliche Verhandlung trotz Kenntnis des schlechten Gesundheitszustandes einer zu Beginn des Verfahrens 81jährigen Zeugin das Verfahren zunächst nicht weiter betreibt und erst Jahre später --nach dem Tod der Zeugin-- über eine tatsächlich und rechtlich einfache Vorfrage durch Zwischenurteil entscheidet und dabei die Bekundungen der Zeugin als nicht "ausführlich genug" ansieht.
2. Ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG durch ein FG führt grundsätzlich weder dazu, daß der staatliche Steueranspruch verwirkt ist, noch zu einer Umkehr der Feststellungslast.
3. Ist aufgrund von Versäumnissen des Gerichts die Sachaufklärung erschwert, darf dies im Rahmen der Beweiswürdigung nicht dem Steuerpflichtigen angelastet werden.
Orientierungssatz
1. Aus dem Urteil des FG muß sich ergeben, daß das Gericht den Verfahrensverstoß gesehen und im Zusammenhang mit der Feststellungslast des von der Verfahrensverzögerung betroffenen Verfahrensbeteiligten entsprechend gewürdigt hat.
2. Die Veränderung der personellen Zusammensetzung eines entscheidenden Spruchkörpers aufgrund der langen Verfahrensdauer verletzen nicht das Recht auf den gesetzlichen Richter.
3. Die Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG bedeutet auch im Interesse der Rechtssicherheit Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, wobei die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles zu bestimmen ist. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Rechtsmaterie, die Schwierigkeiten des jeweiligen Falles, das Alter der Beteiligten, die tatsächlichen Verzögerungen, die Bedeutung des Verfahrens für den Betroffenen, aber auch inwieweit dessen Verhalten, das Verhalten der Gegenseite und das Verhalten des Gerichts zu den Verzögerungen beigetragen haben.
4. Im Streitfall konnte offenbleiben, ob die Dauer des finanzgerichtlichen Verfahrens bis zu einer ersten Zwischenentscheidung von nahezu acht Jahren, bzw. von über zehn Jahren für eine erste, nicht abschließende finanzgerichtliche Entscheidung für sich allein eine Rechtsschutzverletzung bedeutet.
5. Eine unrichtige Sachbehandlung i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 1 GKG ist gegeben, wenn das Gericht gegen eine eindeutige gesetzliche Norm verstoßen hat. Dies ist auch dann der Fall, wenn das FG gegen das Gebot, wirksamen Rechtsschutz zu gewähren, verstoßen hat und die Aufhebung und Zurückverweisung auf der rechtsstaatswidrigen Behandlung des Verfahrens durch das FG beruht.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4; FGO §§ 76, 79; EStG §§ 21, 21a
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) werden zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Sie erwarben 1982 für 800 000 DM ein mit einem Haus aus dem Jahre 1936 bebautes Grundstück in D. Die Kläger stellten anschließend einen Bauantrag für einen Umbau des erworbenen Hauses. In der Folgezeit wurde das Haus für rd. 975 000 DM umgebaut.
Im Dezember 1983 schloß der Kläger über die im Dachgeschoß neugeschaffene, 70 qm große Wohnung einen Mietvertrag mit der Zeugin W. Die Zeugin war eine im Jahre 1908 geborene Cousine der Mutter des Klägers. Sie verwaltete seit Jahren ein Haus des Klägers in B. Als Mietzins wurde 650 DM und als Nebenkostenpauschale 150 DM vereinbart. Das Mietverhältnis sollte am 1. März 1984 beginnen und auf unbestimmte Zeit laufen.
Am 15. März 1984 zogen die Kläger in das Haus in D ein. Die Zeugin W hatte und behielt auch in der Folgezeit ihren Wohnsitz in B. Daneben hatte die Zeugin einen Wohnsitz in K; sie wohnte dort bei ihrem Bruder mietfrei. In K war sie mit ihrem Hauptwohnsitz gemeldet.
Für die Jahre 1983 bis 1985 ermittelten die Kläger die Einkünfte nach § 21a Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durch Einnahme-Überschußrechnung. Das damals zuständige Finanzamt X folgte zunächst im wesentlichen den Einkommensteuererklärungen für 1983 und 1984. Es erkannte in seinen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassenen Bescheiden Werbungskostenüberschüsse aus Vermietung und Verpachtung an und nahm einen Verlustrücktrag in Höhe von 62 047 DM für 1981 vor.
In dem Einkommensteuerbescheid für 1985 erkannte das Finanzamt X von den Klägern geltend gemachte Werbungskosten nicht an. Gegen diesen Bescheid legten die Kläger im Juni 1986 Einspruch ein. Nachdem das Finanzamt X die Stellungnahme eines Bausachverständigen eingeholt hatte, änderte es im Januar 1987 die Einkommensteuerbescheide für 1981, 1983 und 1984. Kosten in Höhe von 346 143 DM wurden nicht mehr als sofort abziehbare Werbungskosten anerkannt, sondern den Herstellungskosten zugeordnet. Gegen diese geänderten Bescheide legten die Kläger rechtzeitig Einsprüche ein.
Im April 1989 teilte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) den Klägern mit, daß er die Bearbeitung der Einsprüche gegen die Einkommensteuerveranlagungen 1981 und 1983 bis 1985 übernommen habe. Nach weiterem Schriftwechsel wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 21. November 1989, die am 1. Dezember 1989 geändert wurde, die Einsprüche der Kläger zurück.
Hiergegen erhoben die Kläger Klage. In der Klageerwiderung machte das FA nunmehr geltend, das Mietverhältnis sei tatsächlich nicht durchgeführt worden. Es beantragte, die Mieterin W zur Beweissicherung gemäß § 82 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 485 der Zivilprozeßordnung (ZPO) als Zeugin zu vernehmen. Die Mieterin stehe im 83. Lebensjahr. Im Hinblick auf die Bedeutsamkeit der Aussage, dem Alter und unter Berücksichtigung der gerichtlichen Verfahrensdauer werde der Antrag gemäß § 82 FGO für notwendig erachtet.
Am 14. März 1991 erließ das Finanzgericht (FG) den Beschluß, daß Beweis durch Vernehmung der Zeugin W erhoben werden sollte, ob die Kläger eine Wohnung in ihrem Haus in D an Frau W zur dauernden Nutzung vermietet hätten. Nachdem eine Beweisaufnahme vor dem FG nicht durchgeführt werden konnte, da die Zeugin nicht reisefähig war, wurde dieser ein ausführlicher Fragebogen übersandt. Die Zeugin legte am 3. Juli 1992 eine notariell beglaubigte schriftliche Aussage vor, die sie auf Nachfragen des Gerichts am 4. August 1992 ergänzte.
Am 28. Oktober 1992 fand eine mündliche Verhandlung statt. Die als Zeugin geladene Mieterin erschien nicht, da sie weiterhin nicht reisefähig war. Die Sache wurde vertagt. In der Niederschrift über die mündliche Verhandlung wurde zu den möglichen Erfolgsaussichten der Klage Stellung genommen (s. unter 2.).
Das FG betrieb das Verfahren zunächst nicht weiter. Bis 1997 enthalten die Akten des FG keinerlei Verfügungen oder Einträge, die darauf schließen lassen, daß das Verfahren in dieser Zeit bearbeitet wurde. Im Juni 1994 verstarb die Zeugin W.
Auf die mündliche Verhandlung vom 17. September 1997 erging das mit der Revision angefochtene erste Zwischenurteil, in dem das FG feststellte, daß die Einkünfte der Kläger für die Streitjahre ab dem 14. März 1984 nach § 21 Abs. 2 Satz 1 i.V.m § 21a Abs. 1 Satz 2 EStG, nicht nach § 21a Abs. 1 Satz 3 EStG zu ermitteln seien.
Die Voraussetzungen des § 21a Abs. 1 Satz 3 EStG seien nicht erfüllt. Es fehle an der Vermietung einer Wohnung. Die Umbaupläne, die durchgeführten Baumaßnahmen, die Ausstattung und die Einrichtung der Räume im Dachgeschoß deuteten darauf hin, daß die Räume im Dachgeschoß nicht für eine Vermietung, sondern für eine Eigennutzung hergerichtet und dann dementsprechend genutzt worden seien.
Der Vortrag der Kläger, die Zeugin W habe die Wohnung als Altersruhesitz angemietet, überzeuge nicht. Die Zeugin sei bei Abschluß des Mietvertrages bereits 75 Jahre alt gewesen. Außerdem sei sie nur sehr entfernt mit den Klägern verwandt gewesen. Auch im Hinblick darauf, daß die Zeugin über zwei weitere Wohnungen verfügt und damit ausreichend Mobiliar besessen habe, lasse die Vermietung nicht als plausibel erscheinen. Die inzwischen verstorbene Zeugin W habe die Angaben der Kläger zwar in mehreren Punkten bestätigt. Ihre schriftliche Zeugenaussage sei jedoch nicht ausführlich genug und nicht geeignet, die aufgezeigten Bedenken auszuräumen.
Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts und berufen sich auf Verfahrensmängel.
Das FG sei seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung nicht hinreichend nachgekommen. Das den Klägern zustehende Recht auf wirksamen Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) schließe auch die Verpflichtung des Gerichts ein, in angemessener Zeit zu entscheiden. Das gerichtliche Verfahren habe mit einer Dauer von fast acht Jahren bis zu einer ersten Zwischenentscheidung übermäßig lange gedauert. Dies stelle einen Verfahrensverstoß dar und verletze die Kläger in ihren Rechten.
Die angegriffene Entscheidung beruhe auf diesem Verfahrensfehler. Aufgrund der überlangen Verfahrensdauer habe die Besetzung des Senats des FG mehrfach gewechselt. Dies habe dazu geführt, daß der Sachverhalt unterschiedlich rechtlich bewertet worden sei.
Die Verschlechterung der Beweislage dürfe sich nicht zum Nachteil der Kläger auswirken. Vielmehr müsse eine Beweislastumkehr stattfinden, um einer fairen Prozeßführung im vorliegenden Fall Genüge zu tun.
Die Kläger beantragen, das Urteil des FG aufzuheben und festzustellen, daß die Einkünfte der Kläger aus dem Objekt in D für die Zeit ab dem 14. März 1984 nach § 21a Abs. 1 Satz 3 EStG zu ermitteln sind.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Das Urteil des FG verletzt die Kläger in ihrem Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG). Die Entscheidung beruht auf diesem Verfahrensmangel; denn das FG hat die erschwerte Sachaufklärung durch Verlust von Beweismitteln aufgrund eigener Versäumnisse im Rahmen der Beweiswürdigung nicht hinreichend berücksichtigt.
1. Soweit die Kläger die Veränderung der personellen Zusammensetzung des entscheidenden Senats des FG aufgrund der langen Verfahrensdauer rügen, hat die Revision allerdings keinen Erfolg.
Ein Verfahren, das über mehrere Jahre anhängig ist, ist häufig von Wechseln im Spruchkörper betroffen. Diese Veränderungen verletzen jedoch nicht das Recht auf den gesetzlichen Richter (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. November 1995 VIII R 3-5/95, BFH/NV 1996, 481 zur Zuständigkeitsveränderung aufgrund des Geschäftsverteilungsplans). Eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter käme allenfalls dann in Betracht, wenn der Wechsel im Spruchkörper willkürlich herbeigeführt wird (vgl. auch Bayerischer Verfassungsgerichtshof vom 11. Dezember 1990 Vf. 36-VI/90, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1991, 2895). Anhaltspunkte hierfür sind von den Klägern weder vorgetragen noch ersichtlich.
2. Die dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus folgenden Gebot wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) widersprechende Behandlung eines Verfahrens durch ein FG stellt einen Verfahrensmangel dar.
a) Art. 19 Abs. 4 GG, der für den Rechtsschutz das Rechtsstaatsprinzip verdeutlicht und konkretisiert, garantiert nicht nur den allgemeinen Zugang zum Gericht, sondern gewährleistet eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle der Ausübung öffentlicher Gewalt. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch im Interesse der Rechtssicherheit Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 6. Mai 1997 1 BvR 711/96, NJW 1997, 2811; vom 16. Mai 1995 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1, 13 st. Rspr.; vgl auch Kirchhof, Deutsche Steuer-Zeitung 1989, 55; ders. in: Festschrift für Karl Doehring, S. 439 ff.). Die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG durch eine übermäßig lange Dauer des Verfahrens ist für das steuerrechtliche Verfahren anerkannt (BVerfG-Entscheidungen vom 27. September 1993 2 BvR 829/91, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1994, 348; vom 21. Februar 1992 1 BvR 1575/89, HFR 1992, 651; vom 14. Februar 1992 2 BvR 1443/91, HFR 1992, 728; vom 7. Januar 1992 1 BvR 1490/89, HFR 1992, 727; vom 22. Januar 1987 1 BvR 103/85, Der Betrieb --DB-- 1987, 1722; Senatsurteil vom 17. Dezember 1996 IX R 47/95, BFHE 182, 178, BStBl II 1997, 348).
Dem grundrechtlich verbürgten Anspruch des Steuerpflichtigen auf ein ordnungsgemäßes Verfahren und eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns oder Unterlassens entspricht die in der Finanzgerichtsordnung niedergelegte Verpflichtung des Gerichts zur Prozeßförderung. Die in § 76 Abs. 2 FGO geregelten Hinweis- und Aufklärungspflichten des Vorsitzenden sollen eine zügige und sachgerechte Behandlung des Verfahrens gewährleisten (von Groll/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 76 Anm. 41; von Wedel, in Schwarz, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., Freiburg 1997 ff., § 76 Rz. 60). Nach § 79 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht alle Maßnahmen zu treffen, damit das Verfahren möglichst in einer mündlichen Verhandlung abgeschlossen wird. Diese Regelungen sind Ausdruck der den Steuerprozeß beherrschenden Konzentrationsmaxime. In Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 19 Abs. 4 GG verpflichten diese Regelungen das Gericht, Rechtsschutz in angemessener Zeit und unter Wahrung der rechtlichen Interessen der Verfahrensbeteiligten zu gewähren.
Verbindliche Vorgaben, die besagen, ab wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verletzenden Verfahrensdauer auszugehen ist, bestehen nicht. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles zu bestimmen (BVerfG-Beschluß vom 30. April 1992 1 BvR 406/89, HFR 1993, 37). Zu berücksichtigen sind insbesondere die Rechtsmaterie, die Schwierigkeiten des jeweiligen Falles, das Alter der Beteiligten, die tatsächlichen Verzögerungen, die Bedeutung des Verfahrens für den Betroffenen, aber auch inwieweit dessen Verhalten, das Verhalten der Gegenseite und das Verhalten des Gerichts zu den Verzögerungen beigetragen haben (vgl. BVerfG-Beschlüsse in HFR 1993, 37; vom 22. Januar 1987 1 BvR 103/85, DB 1987, 1722; vom 20. Mai 1988 1 BvR 273/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Einkommensteuergesetz 1975, § 5 Rückl. Rechtsspruch 2; BFH-Beschluß vom 29.Juli 1996 V B 56/96, BFH/NV 1996, 924).
b) Danach verletzt die Behandlung des vorliegenden Verfahrens durch das FG den Anspruch der Kläger auf wirksamen Rechtsschutz.
Die Klage ist im Dezember 1989 erhoben worden. Das mit der Revision angefochtene Zwischenurteil des FG ist aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 17. September 1997 ergangen und den Beteiligten im Oktober 1997 zugestellt worden. Damit dauerte das finanzgerichtliche Verfahren bis zu einer ersten Zwischenentscheidung nahezu acht Jahre. Unter Berücksichtigung des Verwaltungs- bzw. Einspruchsverfahrens (vgl. dazu BVerfG-Entscheidung vom 28. Oktober 1975 2 BvR 883/73 und 379, 497, 526/74, BVerfGE 40, 237, 257) liegt nach über 10 Jahren eine erste, nicht abschließende finanzgerichtliche Entscheidung vor; für den Einspruch gegen den Steuerbescheid für 1985 beträgt dieser Zeitraum sogar über 11 Jahre.
Ob dieser Zeitablauf für sich allein eine Rechtsschutzverletzung bedeutet, kann im Streitfall offenbleiben; denn es ist weiter zu berücksichtigen, daß in diesem ersten Zwischenurteil lediglich die Frage entschieden wird, ob der Kläger eine Wohnung zur dauernden Nutzung vermietet hatte. Hierbei handelt es sich um eine abgrenzbare Rechtsfrage, die einen einzigen Sachverhaltskomplex umfaßt. Es war zu prüfen, ob die Kläger der Zeugin W in steuerrechtlich wirksamer Weise die Wohnung in ihrem Haus auf Dauer gegen Entgelt zur Verfügung gestellt haben. Die Klärung dieser Frage wirft weder besondere rechtliche Probleme auf, noch erfordert sie eine überdurchschnittlich umfangreiche Tatsachenermittlung. Die sich aus dem Gesundheitszustand der Zeugin ergebenden Schwierigkeiten erforderten zwar einen gewissen Zeitaufwand. Dieser rechtfertigt jedoch nicht die Untätigkeit des Gerichts im Anschluß an die mündliche Verhandlung vom Oktober 1992.
Für die Frage, ob der verfassungsrechtlich gebotene wirksame Rechtsschutz gewährt wird, ist das Alter der Prozeßbeteiligten von besonderer Bedeutung. In den Fällen, in denen ein Prozeßbeteiligter ein hohes Alter erreicht oder wegen einer unheilbaren Krankheit oder ähnlicher Umstände eine verminderte Lebenserwartung hat, bedarf es einer raschen gerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerfG-Entscheidung in DB 1987, 1722; vgl. auch Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 8. Februar 1996 60/1995/566/652, Europäische Grundrechte Zeitschrift --EuGRZ-- 1996, 192). Ebenso hat das Alter von Zeugen Auswirkungen auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. Insbesondere in den Fällen, in denen die Beweislage schwierig und alleine durch die Vernehmung von Zeugen geklärt werden kann, sind die Gerichte gehalten, diesen Umstand bei der zeitlichen Reihenfolge der Bearbeitung und Terminierung eines Verfahrens zu berücksichtigen, um nicht Beweisschwierigkeiten eines Verfahrensbeteiligten zu verursachen.
Im vorliegenden Verfahren war die Hauptzeugin bereits zu Prozeßbeginn 81 Jahre. Dem FG war zudem bekannt, daß die Zeugin aufgrund einer Herzerkrankung nicht reisefähig war. Das FG hat insbesondere dadurch gegen das Gebot wirksamen Rechtsschutzes verstoßen, daß es ohne ersichtlichen Grund im Anschluß an die mündliche Verhandlung im Oktober 1992 trotz Kenntnis von Alter und Gesundheitszustand der Zeugin für einen Zeitraum von nahezu vier Jahren das Verfahren nicht betrieb, obwohl das Gericht zuvor zu erkennen gegeben hatte, daß es die im Zwischenurteil zu entscheidende Rechtsfrage für entscheidungsreif hielt.
Der Vorsitzende hatte in der mündlichen Verhandlung im Oktober 1992 zu Protokoll gegeben, daß der Senat davon ausgehe, daß der Mietvertrag mit der Zeugin W wirksam abgeschlossen worden sei, und daß beide Vertragsbeteiligten die sich aus dem Mietvertrag ergebenden Hauptpflichten erfüllt hätten. Auch wenn das FA im weiteren Verfahren geltend machte, daß das Mietverhältnis nicht bestanden habe, erweckte die Niederschrift über die mündliche Verhandlung und das Verhalten des FG den Anschein, daß die vorliegende schriftliche Aussage der Zeugin für die (steuerrechtliche) Anerkennung des Mietverhältnisses voraussichtlich ausreiche.
Weder die Kläger noch das FA haben zu dieser unangemessenen Behandlung und Verzögerung des Verfahrens durch das FG beigetragen. Die Verfahrensbeteiligten haben vielmehr rechtzeitig auf die Beweisschwierigkeiten in diesem Verfahren aufmerksam gemacht. Das FA hat bereits in seiner ersten Stellungnahme auf das Alter der Zeugin hingewiesen; die Kläger beantragten ein Zwischenurteil, nachdem das FG nach der mündlichen Verhandlung im Oktober 1992 das Verfahren nicht weiter förderte.
3. Die Entscheidung des FG beruht auf diesem Verfahrensmangel. Es ist nicht auszuschließen, daß das Verfahren zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, falls das FG seine Entscheidung in angemessener Zeit und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen getroffen hätte (vgl. Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung --HHSp--, § 115 FGO Rz. 89).
Eine ergänzende Aussage der inzwischen verstorbenen Zeugin W hätte möglicherweise zu einer Entscheidung zugunsten der Kläger geführt. In der Würdigung der schriftlichen Zeugenaussage stellt das FG fest, daß die Zeugin zwar die Angaben der Kläger in mehreren Punkten bestätigt habe. Die Zeugenaussage sei jedoch nicht ausführlich genug, die Bedenken des FG an dem Bestehen des Mietverhältnisses auszuräumen.
Soweit das FA darauf verweist, daß die Zeugin bereits im Juni 1994 verstorben sei, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Zu diesem Zeitpunkt hatte das FG trotz Kenntnis von Alter und Gesundheitszustand der Zeugin die weitere Bearbeitung des Verfahrens eingestellt, obwohl bereits nach der mündlichen Verhandlung im Oktober 1992 die Voraussetzungen für den Erlaß eines Zwischenurteils zumindest weitgehend vorlagen. Hätte das FG ohne diesen Verfahrensverstoß das Verfahren fortgesetzt, hätte die Zeugin ergänzend vernommen werden können.
4. Der Verstoß gegen das Gebot wirksamen Rechtsschutzes führt jedoch weder dazu, daß der staatliche Steueranspruch verwirkt ist (vgl. BFH-Beschluß vom 11. März 1998 II B 59/97, BFHE 185, 267, BStBl II 1998, 395; Senatsentscheidung in BFHE 182, 178, BStBl II 1997, 348; BFH-Urteil vom 12. März 1996 XI R 82/94, BFHE 180, 316, BStBl II 1996, 518, jeweils m.w.N.), noch zu einer Umkehr der Feststellungslast.
Die dem Rechtsstaatsprinzip widersprechende Behandlung eines Verfahrens durch das FG hat in der Regel keine Auswirkungen auf die objektive Beweislast (Feststellungslast) der Beteiligten im finanzgerichtlichen Verfahren. Die Verteilung der Feststellungslast beruht auf materiell-rechtlichen Regelungen. Die Frage, wer die Feststellungslast trägt, ist von Fall zu Fall unter Würdigung der einschlägigen Rechtsnormen und ihrer Zweckbestimmung zu beantworten (BFH-Urteil vom 20. März 1987 III R 172/82, BFHE 149, 536, BStBl II 1987, 679; Lange in HHSp, § 96 FGO Rz. 155).
Eine Umkehr der Feststellungslast würde nicht nur das Ausmaß der Beweiswürdigung berühren, sondern auch die Verantwortlichkeit für die Unerweislichkeit von Tatsachen verändern. Die Umkehr der Feststellungslast bedürfte einer besonderen Rechtfertigung im Hinblick auf den anderen Prozeßbeteiligten, da er die Folgen einer unvollständigen Sachverhaltsaufklärung zu tragen hätte. Eine Umkehr der Beweislast kann allenfalls in Betracht kommen, wenn sie auf ein vorwerfbares Verhalten des jeweils anderen Prozeßbeteiligten zurückzuführen ist.
Eine unangemessene Behandlung des Verfahrens durch ein Gericht rechtfertigt alleine noch nicht eine der gesetzlichen Regelung widersprechende Beweislastverteilung. Die Prüfung einer Beweislastumkehr zugunsten eines Klägers könnte nur veranlaßt sein, wenn die beklagte Behörde schuldhaft zur Beweisvereitelung beigetragen hat (vgl. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 1. Dezember 1994 3 B 66.94, Buchholz 427.2, § 35 FG Nr. 9; vgl. auch BVerwG vom 22. Oktober 1992 3 B 26.92, Buchholz 427.207, § 1, 7. FeststellungsDV Nr. 61).
Eine Umkehr der Feststellungslast ist im vorliegenden Verfahren nicht im Hinblick auf ein vorwerfbares Verhalten des FA gerechtfertigt. Es ist nicht erkennbar, daß das FA die überlange Verfahrensdauer und damit die Beweisnot der Kläger verursacht hat. Soweit die Kläger geltend machen, daß das FA die Rechtsfindung behindert und den Prozeß verschleppt hätte, ist dies nicht nachvollziehbar. Daß das FA auch nach der mündlichen Verhandlung im Oktober 1992 die steuerrechtliche Anerkennung des Mietverhältnisses abgelehnt und seinen Rechtsstandpunkt vertreten hat, kann weder als Beitrag zur Verzögerung des Verfahrens gesehen, noch dem FA vorgeworfen werden.
5. Ist andererseits aufgrund von Versäumnissen des Gerichts die Sachaufklärung erschwert, darf dies im Rahmen der Beweiswürdigung nicht dem Steuerpflichtigen angelastet werden (Senatsentscheidung in BFHE 182, 178, BStBl II 1997, 348). Vielmehr sind die Regeln einer strengen Überzeugungsbildung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) abzumildern, wenn durch unangemessene Behandlung des Verfahrens durch das FG ein Beweismittel verlorengeht (vgl. BFH-Urteil vom 3. Juni 1992 X R 50/91, BFH/NV 1992, 741).
a) Im Gegensatz zur Beweislastumkehr betrifft die Beweiserleichterung nicht die materiell-rechtliche Verantwortlichkeit der Beteiligten, sondern das Ausmaß der Überzeugung des entscheidenden Gerichts. Dieses hat bei seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, daß sich durch den Verfahrensfehler die Entscheidungsgrundlagen tatsächlich verändert haben und die Beteiligten aufgrund der Versäumnisse des Gerichts möglicherweise nicht in der Lage sind, ihrer Feststellungslast nachzukommen, weil z.B. eine Zeugenaussage nicht mehr nachgeholt werden kann.
Der Umfang, in dem das Beweismaß zu reduzieren ist, richtet sich nach den Umständen des einzelnen Falles. Dabei ist auch zu berücksichtigen, inwieweit die Beteiligten sich um eine umfassende Aufklärung bemüht haben und welche anderen Beweismittel verfügbar sind.
b) Das FG hat bei der Beweiswürdigung den Verfahrensfehler der unangemessenen Behandlung des Verfahrens entsprechend zu berücksichtigen. Aus dem Urteil des FG muß sich ergeben, daß das Gericht den Verfahrensverstoß gesehen und im Zusammenhang mit der Feststellungslast des von der Verfahrensverzögerung betroffenen Verfahrensbeteiligten entsprechend gewürdigt hat.
c) Im vorliegenden Verfahren hat das FG die gerichtlichen Versäumnisse nicht hinreichend berücksichtigt. Das FG hat lediglich ausgeführt, daß die schriftliche Zeugenaussage nicht ausführlich genug sei, um die vorhandenen Bedenken auszuräumen. Es ist nicht darauf eingegangen, daß eine eidesstattliche Versicherung der Zeugin vorliegt, und daß der damalige Vorsitzende des Senats erklärt hatte, der Senat gehe nach dem Stand der Ermittlungen davon aus, daß der Mietvertrag wirksam geschlossen und entsprechend dem Vereinbarten durchgeführt worden sei. Folgt das FG gleichwohl nicht der schriftlichen Zeugenaussage, darf es sich nicht damit begnügen, auf Ungenauigkeiten in der Aussage hinzuweisen. Es hat vielmehr zu berücksichtigen, daß es selbst das Verfahren unangemessen behandelt und damit eine endgültige Aufklärung durch Befragung der Zeugin verhindert hat. Das Gericht kann sich in einem solchen Fall nicht auf Zweifel beschränken, sondern muß vielmehr davon überzeugt sein, daß die schriftliche Zeugenaussage unzutreffend ist und dies begründen. Läßt sich der Sachverhalt nicht durch andere Beweismittel oder Unterlagen weiter aufklären, kann eine Wahrunterstellung der Zeugenaussage in Betracht kommen.
Diese Erleichterungen im Rahmen der Beweiswürdigung verstoßen entgegen der Auffassung des FA nicht gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz. Eine unangemessene Behandlung des Verfahrens, die alleine durch ein Gericht verursacht ist, fällt in die staatliche Verantwortung. Von daher ist es gerechtfertigt, wenn die Versäumnisse des Gerichts im Ergebnis Auswirkungen auf den staatlichen Steueranspruch haben können. Finanzverwaltung und Justiz stehen insoweit dem Steuerbürger als Repräsentanten staatlicher Gewalt gegenüber.
6. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
Für das Revisionsverfahren wird gemäß § 8 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) von der Erhebung der Gerichtskosten abgesehen. Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 GKG werden Kosten, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären, nicht erhoben. Zwar liegt eine unrichtige Sachbehandlung i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 1 GKG nicht stets schon darin, daß dem FG ein Verfahrensfehler unterlaufen ist und der BFH aus diesem Grunde das Urteil aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen hat (BFH-Beschluß vom 31. Oktober 1996 VIII E 2/96, BFH/NV 1997, 522). Eine unrichtige Sachbehandlung i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 1 GKG ist jedoch gegeben, wenn das Gericht gegen eine eindeutige gesetzliche Norm verstoßen hat. Dies ist auch dann der Fall, wenn das FG gegen das Gebot, wirksamen Rechtsschutz zu gewähren, verstoßen hat und die Aufhebung und Zurückverweisung auf der rechtsstaatswidrigen Behandlung des Verfahrens durch das FG beruht.
Fundstellen
Haufe-Index 56455 |
BFH/NV 1999, 1157 |
BStBl II 1999, 407 |
BFHE 188, 264 |
BFHE 1999, 264 |
BB 1999, 1205 |
BB 1999, 2179 |
DB 1999, 1200 |
DStRE 1999, 651 |
DStRE 1999, 651-655 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1999, 648 |
StE 1999, 338 |