Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Verfassungswidrigkeit einer Steuerrechtsnorm gibt keinen selbständigen Anlaß zu einer Fehlerberichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2; BVerfGG § 79 Abs. 2; UStDB § 58
Tatbestand
In den rechtskräftig veranlagten Steuerbeträgen der Veranlagungszeiträume 1952 und 1953 war Herstellerzusatzsteuer (ß 58 UStDB 1951) enthalten, die der Bf. auch entrichtet hat. Nachdem das Bundesverfassungsgericht durch Urteil 2 BvL 18/56 vom 5. März 1958 (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 7 S. 282 ff., BStBl 1958 I S. 83) die die Herstellerzusatzsteuer regelnden Vorschriften für nichtig erklärt hatte, weil sie der gesetzlichen Grundlage entbehrten, hat der Bf. mit Schreiben vom 1. November 1960 beantragt, bei den Veranlagungen der genannten Jahre gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO einen Fehler aufzudecken; denn Fehler im Sinne dieser Vorschrift sei jede objektive Unrichtigkeit.
Diesen Antrag hat der Bundesminister der Finanzen mit Erlaß vom 8. Februar 1961 abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Berufung wurde als unbegründet zurückgewiesen.
Entscheidungsgründe
Auch die Rb. kann keinen Erfolg haben.
Die Vorentscheidung läßt einen Rechtsirrtum nicht erkennen; sie kann sich für ihre Auffassung, daß die Fehleraufdeckung eine Ermessensentscheidung ist, so daß die Steuergerichte die Entscheidung des Bundesministers der Finanzen nur daraufhin prüfen können, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten sind, auf die höchstrichterliche Rechtsprechung berufen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs III 241/59 U vom 17. November 1961, BStBl 1962 III S. 72, Slg. Bd. 74 S. 190). Der erkennende Senat billigt auch die Ausführungen der Vorinstanz, daß § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) dem Begehren der Steuerpflichtigen entgegenstehe. Demgegenüber verkennt die Rb. die Bedeutung dieser Vorschrift.
Der Senat hat sich bereits mehrfach mit § 79 Abs. 2 a. a. O. auseinandergesetzt (vgl. die Urteile V 244/61 S und V 285/60 U vom 22. November 1962, BStBl 1963 III S. 31 und S. 51, Slg. Bd. 76 S. 87 und S. 143). Danach kommt in dieser Vorschrift der eindeutige Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck, daß nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, worunter auch Verwaltungsakte fallen, ungeachtet der rückwirkenden Kraft der Urteile des Bundesverfassungsgerichts fortgelten sollen. Damit hat sich der Gesetzgeber - abgesehen von der Ausnahmeregelung für Strafnormen - für den Vorrang der Rechtskraft entschieden. Wenn es überhaupt zu Erstattungen von Herstellerzusatzsteuer gekommen ist, so kann dies einmal darauf beruhen, daß die Veranlagungen angefochten waren, oder aber daß aus anderen Gründen eine Berichtigungsveranlagung vorgenommen und in diesem Zusammenhang auch die Verfassungswidrigkeit des anzuwendenden Gesetzes als "Fehler" berücksichtigt worden ist. In keinem Fall aber hat die Verfassungswidrigkeit der Herstellerzusatzsteuer einen selbständigen Anlaß zur Berichtigung gegeben. Die Rb. verkennt insbesondere, daß dem Rechtskraftgedanken und damit dem Grundsatz der Rechtssicherheit selbst Verfassungsrang zukommt, so daß der Gesetzgeber im § 79 Abs. 2 BVerfGG, der bei anderer Auslegung im Hinblick auf § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO für das gesamte Steuerrecht jede Bedeutung verlieren würde, diesem Grundsatz den Vorrang geben konnte. Daß der Gesetzgeber der AO von ähnlichen Gedankengängen ausgegangen ist, zeigt die in § 222 Abs. 2 AO getroffene Regelung.
Dient § 79 Abs. 2 BVerfGG mithin dem Rechtsfrieden, so ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber etwaige Ungleichmäßigkeiten in der Behandlung der Steuerpflichtigen, die sich aus der verschiedenen verfahrensrechtlichen Lage bei Ergehen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben können, bewußt in Kauf genommen hat. Die hier vertretene Auffassung entspricht der herrschenden Lehre im Schrifttum (vgl. u. a. Spitaler in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 222 Anm. 13 und die dort angeführten Autoren, sowie Geiger, Kommentar zum Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, § 79, S. 251/252).
Nach allem erweist sich die Rb. als unbegründet.
Fundstellen
Haufe-Index 411233 |
BStBl III 1964, 321 |
BFHE 1964, 249 |
BFHE 79, 249 |