Leitsatz (amtlich)
Der Verlust einer privaten Einlage auf einem Sparkonto durch den Zusammenbruch der Bank rechtfertigt keinen Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen.
Normenkette
AO 1977 § 163
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) verlor 1974 durch den Zusammenbruch einer Bank private Einlagen auf einem Sparkonto von 13 118 DM. Diesen Verlust machte er mit Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1974 als Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen geltend. Der Einspruch blieb erfolglos; über die Klage dagegen ist noch nicht entschieden.
Der Kläger begehrte beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) außerdem, den Betrag von 13 118 DM aus sachlichen Billigkeitsgründen als Werbungskosten zu berücksichtigen. Dies lehnte das FA ab. Die Beschwerde dagegen wurde zurückgewiesen. Die Klage blieb ebenfalls erfolglos; das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus:
Eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) sei ermessensfehlerfrei abgelehnt worden.
Persönliche Unbilligkeit sei weder geltend gemacht worden noch ersichtlich.
Sachliche Billigkeitsgründe habe das FA verneinen dürfen, weil die Besteuerung nicht den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderlaufe. Nach der Systematik des Steuerrechts berührten private Verluste nicht die Höhe des zu versteuernden Einkommens; das gelte auch bei einem Verlust aus dem Konkurs eines Bankhauses. Konsequenterweise blieben auch private Vermögensgewinne, abgesehen von den Tatbeständen der §§ 17, 23 des Einkommensteuergesetzes (EStG), steuerfrei. Bei dieser Grundentscheidung sei es trotz vieler Änderungen des Einkommensteuerrechts geblieben. Dies zeige, daß der Gesetzgeber aus Konkursen sich ergebende Härtefälle bewußt in Kauf genommen habe, zumal der Zusammenbruch eines Bankhauses wie im vorliegenden Fall nicht die erste bedeutende Insolvenz gewesen sei; vorhergehende Insolvenzen hätten hinreichend Anlaß zu einer Gesetzesänderung gegeben, wenn dies gewollt gewesen wäre.
Entgegen der Meinung des Klägers hatten die Verwaltungsbehörden das Vorliegen sachlicher Erlaßgründe auch geprüft, dies zu Recht verneint und deshalb den Erlaß hätten ablehnen müssen.
Ohne Einfluß auf die Entscheidung müsse der volkswirtschaftliche Umfang der Insolvenz und ihr unvorhersehbares Auftreten bleiben, weil die Ermessenentscheidung für den Einzelfall zu treffen sei. Aus den vom Kläger angeführten Billigkeitsmaßnahmen der Finanzverwaltungsbehörden anläßlich von Naturkatastrophen lasse sich für den Streitfall nichts herleiten, weil der Kläger Anspruch auf eine bestimmte Entscheidung im Ermessenbereich habe. Eine Selbstbindung der Verwaltung liege nicht vor. Unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung ergebe sich nichts für den Kläger, weil von Unwetterkatastrophen Geschädigte anders behandelt werden können als die aus einem Bankzusammenbruch Geschädigten. Unerheblich sei auch, ob der Verlust des Klägers durch ein Verhalten staatlicher Stellen - z. B. Unterlassungen des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen - (mit-)verursacht worden sei; dies sei eine im Schadensersatzprozeß vor den Zivilgerichten zu prüfende Frage.
Mit der Revision werden unrichtige Anwendung von § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO), §§ 163 und 5 AO 1977 sowie Verletzung von § 76 FGO gerügt. Dazu wird im wesentlichen geltend gemacht:
Die Vorentscheidung bleibe hinter den Anforderungen des § 102 FGO zurück, weil sie nicht geprüft habe, ob das FA von seinem Ermessen in einem dem Zweck der Ermächtigung des § 163 AO 1977 entsprechenden Umfang Gebrauch gemacht habe. Die Tatsachen, aus denen sich ein fehlerhafter Ermessensgebrauch der Verwaltung ergebe, seien im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragen worden, ohne daß das FG dazu Stellung genommen habe; insoweit sei § 76 FGO verletzt. Das FA habe den Kläger neu unter voller Ausschöpfung seines Ermessens zu bescheiden. Da nur ein Ergebnis, nämlich die Gewährung von Billigkeitsmaßnahmen, möglich sei, könne der Bundesfinanzhof (BFH) selbst entscheiden.
Eine Anerkennung von Werbungskosten aus Billigkeitsgründen sei geboten, weil eine Reihe außergewöhnlicher Umstände eine Korrektur des normierten Rechts im Billigkeitswege erfordere. Der Kläger sei durch den Zusammenbruch des Bankhauses wie durch eine Naturkatastrophe getroffen worden. Er habe bei einem der Allgemeinheit nützenden Verhalten, nämlich seiner Spartätigkeit, einen Verlust erlitten. Eine Bevorzugung von sog. "...-Opfern" gegenüber anderen Insolvenz-Geschädigten sei aus Gründen gerechtfertigt, die im Verhalten der öffentlichen Hand und im Bewußtseinsgrad der Allgemeinheit lägen. Zur Folgenbeseitigung bestehe um so mehr Anlaß, als das Versagen einer staatlichen Behörde zum Schadenseintritt geführt habe; zumindest dürfe ein solcher Umstand nicht außer Betracht bleiben.
Einem Billigkeitserlaß stehe auch nicht die Systematik des Gesetzes entgegen. Eine Korrektur von Prinzipien sei umso eher möglich, wenn an der Berechtigung dieser Prinzipien zu zweifeln sei, wie für den Grundsatz, daß Verluste am Stamm privaten Kapitalvermögens steuerlich unerhebliche Vorgänge im privaten Bereich seien. Das Prinzip der Nichtberücksichtigung von Verlusten in der Vermögenssubstanz gelte nicht uneingeschränkt, sondern sei auch bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung sowie aus nichtselbständiger Arbeit durchbrochen worden; das müsse eine Billigkeitsmaßnahme erleichtern. Das Prinzip einer Unbeachtlichkeit von Verlusten in der Vermögenssubstanz werde auch nicht durchgehalten, wenn andererseits beim Vermögenszuwachs ab einem bestimmten Umfang die Gewerblichkeit beginne und damit die Steuerfreiheit ende. Die Annahme, daß hier eine vom Gesetzgeber angeordnete Härte vorliege, lasse sich auch nicht mit der Praxis von Billigkeitsmaßnahmen bei Naturkatastrophen vereinbaren; diese sei dann ebenfalls nicht zulässig.
Für die Gewährung von Billigkeitsmaßnahmen spräche außerdem, daß die Besteuerung eine Verminderung der Leistungsfähigkeit aus nicht vorhersehbaren Ursachen berücksichtigen müsse. Dabei könne das Verhalten des Geschädigten sowie Umfang und Ausmaß des schadenstiftenden Ereignisses bedeutsam sein.
Im Nichteingehen des FG auf den Vortrag des Klägers über Ursachen und Auswirkungen des Bankzusammenbruchs liege auch eine mangelnde Sachaufklärung.
Der Kläger beantragt unter Aufhebung der Vorentscheidung den vom Kläger erlittenen Verlust von 13 118 DM aus sachlichen Billigkeitsgründen zum Abzug von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer für 1974 zuzulassen,
hilfsweise, das FA für verpflichtet zu erklären, den vorbezeichneten Erlaß auszusprechen und die Einkommensteuer auf dieser Grundlage neu zu berechnen,
weiter hilfsweise, dem FA aufzugeben, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Die Rüge eines Verfahrensmangels durch Verstoß gegen § 76 FGO greift nicht durch; dies bedarf nach Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFH-EntlastG) keiner Begründung.
Das FG ist in seinem Urteil erkennbar davon ausgegangen, daß die Entscheidung der Behörden - beklagtes FA und Oberfinanzdirektion (OFD) - i. S. von § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 über den Antrag des Klägers auf eine Billigkeitsmaßnahme bei der Steuerfestsetzung für 1974 eine Ermessensentscheidung ist, die materiell-rechtlich von den Gerichten grundsätzlich nur auf Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch nachgeprüft werden kann und bei der eine Verpflichtung zu einer Billigkeitsmaßnahme nur ausgesprochen werden kann, wenn nach den Umständen des Einzelfalles jede andere Entscheidung ermessensfehlerhaft wäre. Das entspricht den Grundsätzen über die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 der Reichsabgabenordnung (AO), wie sie im Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshofe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 (BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603) ausgesprochen wurden und wie sie nunmehr auch für Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 zu gelten haben. Das FG hat nach dem Maßstab der Billigkeit eine Ermessensüberschreitung und einen Ermessensfehlgebrauch durch die Finanzbehörden verneint und dargelegt, daß diese die vom Kläger beantragte Billigkeitsmaßnahme ohne Rechtsverletzung abgelehnt haben. Die Rechtsauffassung des FG und die dazu gegebene Begründung lassen im Ergebnis keinen Rechtsfehler erkennen. Wenn es im Falle der Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme an Anhaltspunkten für eine persönliche oder eine sachliche Unbilligkeit fehlt, dann können die Ermessensgrenzen nicht verletzt sein (vgl. BFH-Urteil vom 13. Juli 1976 VIII R 236/72, BFHE 119, 443, BStBl II 1977, 125). Dies trifft für den Streitfall zu.
1. Persönliche Billigkeitsgründe sind weder im Bescheid des FA noch in der Beschwerdeentscheidung der OFD ausdrücklich angesprochen worden. Gleichwohl liegt auch insoweit eine fehlerfreie Ermessensentscheidung vor. Das Vorbringen des Klägers war nach der insoweit mit Revisionsrügen nicht angefochtenen Feststellung des FG nicht darauf gerichtet, daß persönliche Verhältnisse eine Unbilligkeit bei der Steuerfestsetzung begründen könnten. Die OFD konnte deshalb - wie sie es getan hat - die Ausführungen des Klägers als alleiniges Geltendmachen von sachlichen Billigkeitsgründen auffassen.
2. Sachliche Billigkeitsgründe sind zu Recht verneint worden.
Eine niedrigere Steuerfestsetzung aus sachlichen Billigkeitsgründen setzt voraus, daß die Einziehung der Steuer im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Besteuerung, nicht mehr zu rechtfertigen ist. Da, wie der Senat in seinem Urteil in BFHE 119, 443, BStBl II 1977, 125, mit weiteren Nachweisen, ausgeführt hat, die Wertungen des Gesetzgebers bereits bei der Auslegung des gesetzlichen Steuertatbestandes und bei der Frage der Tatbestandsmäßigkeit der Steuerfestsetzung zu berücksichtigen sind, kommen als sachliche Billigkeitsgründe nur solche Umstände in Betracht, die bei der Steuerfestsetzung durch Auslegung des Steuertatbestandes nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers nicht berücksichtigt werden. Solche Umstände können sachliche Billigkeitsgründe sein, wenn sie sich als Verstöße gegen fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien darstellen oder wenn sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Interessenabwägung die Einziehung des Steueranspruchs als unbillig erscheinen lassen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., § 227 AO 1977 Tz. 11 und 27). Dies trifft bei den vom Kläger geltend gemachten Umständen nicht zu, wenn sie, was hier allein in Betracht kommt, unter einer Abwägung der gegenseitigen Interessen der öffentlichen Hand und des Steuerpflichtigen geprüft werden.
Unter dem Gesichtspunkt einer Interessenabwägung können Billigkeitsgesichtspunkte sein das entschuldbare Verhalten des Steuerpflichtigen beim Entstehen des Steueranspruchs, ein widerrechtlicher Zwang oder ein ungerechtfertigtes Verhalten von Behörden als Ursachen für das Entstehen des Steueranspruchs (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 227 AO 1977 Tz. 28 bis 32). Es muß sich also um Umstände handeln, die zur Entstehung des Steueranspruchs geführt haben. Das ist bei den vom Kläger als außergewöhnlich bezeichneten Umständen nicht der Fall. Daß der Kläger bei seiner Spartätigkeit eine im Privatvermögen gehaltene Spareinlage durch den unerwarteten Zusammenbruch der Bank verloren hat, kann die Entstehung des Steueranspruchs, dessen Einziehung teilweise unbillig sein soll, schon deshalb nicht beeinflußt haben, weil es sich um einen Vermögensverlust handelt und sich solche Verluste bei Einkünften aus Kapitalvermögen - abgesehen von den hier nicht in Betracht kommenden Fällen der §§ 17 und 23 EStG - nicht auswirken. Demzufolge ist es auch unerheblich, ob ein Versagen staatlicher Behörden beim Zusammenbruch der Bank eine Rolle gespielt hat.
Unter dem Blickwinkel einer Interessenabwägung kann ein Billigkeitsgrund auch das Auseinanderfallen von Gesetzeszweck und Gesetzeswortlaut bei gleichzeitiger Unmöglichkeit einer Korrektur durch Auslegung sein (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 227 AO 1977 Tz. 33). Eine Billigkeitsmaßnahme verbietet sich jedoch, wenn sie im Widerspruch zu den Wertungen und der Systematik des Gesetzes stehen würde (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 24. September 1976 I R 41/75, BFHE 120, 212, BStBl II 1977, 127). Dieser Widerspruch träfe ein, wenn ein Verlust der hier vorliegenden Art bei der Bemessungsgrundlage für Einkommensteuer berücksichtigt würde. Wie der erkennende Senat im Zusammenhang mit der Frage nach einer steuerrechtlichen Berücksichtigung einer Kapitalentwertung durch Geldentwertung in seinem Urteil vom 14. Mai 1974 VIII R 95/72 (BFHE 112, 546, BStBl II 1974, 572) ausgesprochen hat, ist nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur bei der Ermittlung von Einkünften aus Kapitalvermögen i. S. von § 20 Abs. 1 und 2 EStG zwischen dem Geldkapital als solchem und dem Ertrag als Frucht des Geldkapitals zu unterscheiden. Wertänderungen der Kapitalanlage wirken sich auf die Besteuerung der tatsächlich erzielten Nominalbeträge nach dem Einkommensteuergesetz nicht aus. Das gilt selbst für den völligen Wertverlust des Kapitalvermögens. Ob der Wertverlust im Einzelfall eintritt oder eine Mehrheit von Steuerpflichtigen trifft, ist unerheblich. Diese im Einkommensteuergesetz zum Ausdruck gekommene Wertung, die verfassungsrechtlich unbedenklich ist (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 19. Dezember 1978 1 BvR 335, 427, 811/76, BStBl II 1979, 308) und nach der bei Einkünften aus Kapitalvermögen Vermögensverluste unberücksichtigt bleiben, würde unterlaufen, wenn eben diese Verluste durch eine Billigkeitsmaßnahme wie Werbungskosten oder wie negative Einnahmen berücksichtigt würden.
Soweit der Kläger eine Billigkeitsmaßnahme im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit für geboten erachtet, ist dies ein Umstand, der zwar bei der Prüfung einer Billigkeitsmaßnahme aus persönlichen Gründen eine Rolle spielen könnte (vgl. dazu auch BVerfG-Beschluß in BStBl II 1979, 308), unter dem Gesichtspunkt von sachlichen Billigkeitsgründen aber außer Betracht zu bleiben hat.
Fundstellen
BStBl II 1981, 505 |
BFHE 1981, 60 |
NJW 1981, 1752 |