Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Lehnt die Oberfinanzdirektion im Rahmen ihrer Zuständigkeit an Stelle des Finanzamts einen Antrag nach § 131 Abs. 1 AO n. F. ab, so ist hiergegen die Beschwerde nach § 237 AO gegeben.
Gegen die Beschwerdeentscheidung des Ministeriums ist die Klage nach Art. 19 Abs. 4 GG zulässig.
Normenkette
AO § 131 Abs. 1 S. 1, §§ 237, 230, 304/2, § 249/2; GG Art. 19 Abs. 4; FGO § 33
Tatbestand
I. Bescheid
Die Beschwerdeführerin (Bfin.) ist eine OHG, deren beide Gesellschafter die Brüder A und B sind. Das Grundstück, auf dem die Firma betrieben wird, gehört ihnen nur zu 55 v. H. Die restlichen 45 v. H. gehören dem Bruder C, der auf dem gleichen Grundstück ein branchengleiches Unternehmen als Einzelfirma betreibt. Es ist beabsichtigt, die Grundstücksgemeinschaft aufzulösen. Das Grundstück soll entweder von der OHG oder der Einzelfirma übernommen werden. Eine der beiden Parteien würde aus dem Erlös ihres Grundstücksanteiles ein neues Grundstück erwerben. Die OHG hatte für den Fall, daß sie sich bei Auflösung der Grundstücksgemeinschaft für die Aufgabe ihres Grundstücksanteiles entschließen sollte, mit einem an den Bundesminister der Finanzen gerichteten Schreiben vom 20. Februar 1954 die Bildung einer steuerfreien Rücklage aus dem Erlös beantragt. Der Antrag wurde zuständigkeitshalber an die Oberfinanzdirektion abgegeben. Mit Schreiben vom 8. November 1954 teilte die Oberfinanzdirektion der OHG mit, daß die Voraussetzungen für die beantragte Billigkeitsmaßnahme gemäß § 131 der Reichsabgabenordnung (AO) neuer Fassung nicht gegeben seien.
Gegen dieses Schreiben legte die OHG am 17. November 1954 "Dienstaufsichtsbeschwerde" an den Hessischen Minister der Finanzen ein. Dieser erklärte mit Schreiben vom 1. März 1955, daß er "keine Veranlassung habe, die Entscheidung der Oberfinanzdirektion zu beanstanden". Hiergegen beabsichtigte die OHG, durch Antrag vom 4. Mai 1955 den Bundesminister der Finanzen anzurufen. Dieser Antrag wurde vom Hessischen Minister der Finanzen vom 18. Mai 1955 dahin beantwortet, daß ablehnende Billigkeitsmaßnahmen zur ausschließlichen Zuständigkeit der Länderfinanzminister gehörten. Nunmehr beantragte die OHG am 23. Mai 1955, ihren Antrag dem zuständigen Steuergericht zur Entscheidung vorzulegen. In diesem Antrag legte die OHG nochmals im einzelnen ihre Gründe für die begehrte Bildung ihrer steuerfreien Rücklage dar. Im Verfahren vor dem Finanzgericht beantragte der Hessische Minister der Finanzen unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs II 235/53 S vom 1. Dezember 1954 (BStBl 1955 III S. 26, Slg. Bd. 60 S. 68), die Berufung wegen Fristversäumnis als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung vom 1. März 1955 gelte als am 5. März 1955 zugestellt, die Rechtsmittelfrist sei daher mit dem 5. April 1955 abgelaufen. Das Rechtsmittel sei aber erst am 25. Mai 1955, mithin verspätet, eingegangen.
Das Finanzgericht verwarf die Berufung als unzulässig und führte im einzelnen folgendes aus:
Die "höchste" Behörde für das steuerliche Beschwerdeverfahren sei nach den §§ 237, 304 Abs. 2 AO die Oberfinanzdirektion. Gegen ihre Entscheidungen sei eine weitere Beschwerde an die Länderfinanzminister nicht gegeben. Unter endgültiger Entscheidung der Oberfinanzdirektion könne aber nur eine förmliche, den Erfordernissen des § 258 AO entsprechende Entscheidung verstanden werden. Eine derartige Entscheidung liege aber nicht vor. Die OHG greife zudem die im Dienstaufsichtswege ergangene formlose Entscheidung des Hessischen Ministers der Finanzen an. Das sei aber nicht angängig. Nach § 131 Abs. 3 AO n. F. stünden die Befugnisse zu Billigkeitsmaßnahmen im Sinne der Abs. 1 und 2 den obersten Finanzbehörden der Körperschaft zu, die die Steuern verwalte. Für die Einkommensteuer seien dies die Länderfinanzminister. Ihnen stehe aber auch das Recht der Delegation zu. Der Hessische Minister der Finanzen habe die Zuständigkeit für Entscheidungen sowohl in den Fällen des § 131 Abs. 1 Satz 2 als auch denen des § 131 Abs. 1 Satz 3 AO n. F., in denen sonstige steuerliche Vergünstigungen gewährt werden sollten, sich selbst vorbehalten, gleichzeitig aber betont: "Zur Ablehnung von Anträgen nach § 131 AO sind die Finanzämter und die Oberfinanzdirektion in jedem Fall zuständig." (Vgl. Erlaß des Hessischen Ministers der Finanzen vom 28. Oktober 1955 - S 1153 - 6 - II/11 Abschn. II a. E. in Verbindung mit Erlaß des Hessischen Ministers der Finanzen vom 30. Januar 1954 - S 1153 - 6 - II/11 "Sonstige steuerliche Vergünstigungen".) Die Zuständigkeit der Finanzämter für die Ablehnung der Anträge gemäß § 131 Abs. 1 AO a. F. ergebe sich aber auch ohnehin aus den Aufgaben, die dem Finanzamt im Steuerermittlungs- und Steuerfestsetzungsverfahren übertragen seien (vgl. § 21 des Finanzverwaltungsgesetzes, §§ 204 ff. AO).
Zuständig sei also für die Abweisung das Finanzamt gewesen. Es sei allerdings möglich, daß ein Steuerpflichtiger sich unmittelbar an die obere Verwaltungsbehörde wende. Eine Entscheidung der Oberfinanzdirektion in diesem Falle sei aber rechtlich als Beschwerdeentscheidung anzusehen. Es handle sich also im Streitfall möglicherweise um eine Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion. Diese habe über den Antrag nicht förmlich entschieden, sondern lediglich einen formlosen Vorbescheid erlassen. Die Ansichten darüber, ob eine förmliche Beschwerdeentscheidung der Verwaltung vorliegen müsse, bevor die Steuergerichte tätig werden könnten, seien geteilt. Das Finanzgericht Nürnberg habe im Urteil vom 30. Juni 1954 - Deutsche Steuerzeitung (Eildienst) 1954 S. 543 - geglaubt, darauf verzichten zu können, wenn die formlose Entscheidung der Oberfinanzdirektion den Voraussetzungen des § 258 AO entspreche. Es habe aber eine allerdings nur im Dienstaufsichtswege ergehende Entscheidung als unzureichend angesehen (vgl. Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 18. Dezember 1953, Entscheidungen der Finanzgerichte 1954 S. 89). Eine formlose Entscheidung genüge nach dem Finanzgericht Düsseldorf (Entscheidungen der Finanzgerichte 1956 S. 114). Das Finanzgericht Stuttgart verlange dagegen in jedem Fall eine mit Gründen und Rechtsmittelbelehrung versehene Entscheidung (Urteil vom 18. Januar 1955, Entscheidungen der Finanzgerichte 1955 S. 281). Dieser Auffassung habe sich nunmehr das Finanzgericht Nürnberg offenbar generell angeschlossen (Entscheidungen der Finanzgerichte 1957 S. 26). Auch in der Literatur seien die Auffassungen verschieden: vgl. Mattern, Deutsche Steuerzeitung 1954 S. 255; Maaßen, Finanz-Rundschau 1953 S. 66 und Neue Juristische Wochenschrift 1956 S. 285; Berger, Steuerprozeß, S. 335; Ebeling, Steuerrecht in Kurzform 1, 3 S. 17. Das Finanzgericht schließe sich der Ansicht an, daß im Interesse der Rechtssicherheit eine förmliche Beschwerdeentscheidung verlangt werden müsse. Es sehe deshalb das Rechtsmittel der OHG als unzulässig an. Der Verwaltungsbeschwerdeweg sei nicht ausgeschöpft. Gegen den im Dienstaufsichtswege ergangenen Bescheid des Hessischen Finanzministeriums sei das Verfahren nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) nicht zulässig.
Die OHG wendet sich gegen die Auffassung des Finanzgerichts und sieht die Voraussetzungen des Art. 19 Abs. 4 GG als gegeben an. Der Hessische Minister der Finanzen vertritt in seiner Stellungnahme die Ansicht des Finanzgerichts, führt aber gleichzeitig aus, daß der Antrag auch sachlich nicht begründet sei, da die Voraussetzungen des § 131 AO n. F. nicht erfüllt seien.
Entscheidungsgründe
Die Prüfung der Rechtsbeschwerde ergibt folgendes.
Art. 19 Abs. 4 GG gibt die Möglichkeit der Klage gegen Verwaltungsakte, durch die sich ein Staatsbürger in seinen Rechten verletzt fühlt. Voraussetzung der Klage ist jedoch nach dem Gutachten des Großen Senats des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951 (BStBl 1951 III S. 107, Slg. Bd. 55 S. 277), daß der Verwaltungsrechtsweg ausgeschöpft ist.
Die Frage, ob ein Verwaltungsakt, d. h. eine gegen einen Staatsbürger gerichtete Maßnahme einer Verwaltung gegeben ist, liegt in erheblichem Umfang auf dem Gebiet der Würdigung des Tatbestandes. Eine Auskunft ist kein durch Klage angreifbarer Verwaltungsakt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG. Andererseits erfordert ein Verwaltungsakt keineswegs, daß er mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen ist. Die Rechtsmittelbelehrung ist für die Versäumung von Fristen für Rechtsbehelfe bedeutsam, nicht aber für die Frage, ob ein im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG angreifbarer Verwaltungsakt vorliegt. Das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung kann im Einzelfall dafür sprechen, daß es sich nur um eine Auskunft handelt.
Im Streitfall liegt nach dem gesamten Sachverhalt nicht lediglich eine Auskunft vor. Die Oberfinanzdirektion und der Minister der Finanzen haben den Antrag eindeutig abgelehnt. Dies kommt auch in der Stellungnahme des Ministers im Rechtsbeschwerdeverfahren zum Ausdruck. Er betont hierbei nochmals nachdrücklich die Ablehnung des Antrages. Die Zurückgabe der Sache an die Oberfinanzdirektion wäre eine Form ohne sachlichen Inhalt, da die Stellungnahme der Verwaltung auf Grund ihrer wiederholten Erklärungen eindeutig sei.
Handelt es sich bei dem Verwaltungsakt der Oberfinanzdirektion um einen Verwaltungsakt nach Art. 19 Abs. 4 GG, so ist die weitere Frage zu entscheiden, ob gegen diesen Verwaltungsakt die Verwaltungsbeschwerde nach § 237 AO an den Minister der Finanzen zulässig ist und damit die Durchführung des Beschwerdeverfahrens beim Minister die Voraussetzung der Klage nach Art. 19 Abs. 4 GG bildet.
Auch diese Frage muß bejaht werden. Die Oberfinanzdirektion war zur Ablehnung des Antrages berechtigt. Sie war nicht verpflichtet, den Vorgang erst dem Finanzamt zur Behandlung zuzuleiten. Es handelt sich somit nicht um einen Verwaltungsakt, bei dem nach dem Aufbau der Verwaltung und den gesetzlichen Bestimmungen das Finanzamt zu entscheiden hat, wie dies z. B. beim Steuerbescheid im Veranlagungsverfahren der Fall ist. Die Oberfinanzdirektion war in der Lage, im Interesse der Vereinfachung den Antrag unmittelbar abzulehnen. Es muß deshalb der allgemeine Grundsatz der AO angewendet werden, daß die Möglichkeit der Verwaltungsbeschwerde an die vorgesetzte Dienststelle besteht. Die Firma hat ihre Beschwerde an den Minister innerhalb der Rechtsmittelfrist eingereicht. Sie stellt keine Dienstaufsichtsbeschwerde, sondern die normale ordnungsmäßige Beschwerde nach § 237 AO dar. Die Beschwerdeentscheidung des Ministers der Finanzen hätte mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen werden müssen (vgl. Entscheidung des Bundesfinanzhofs II 235/53 S vom 1. Dezember 1954, BStBl 1955 III S. 26, Slg. Bd. 60 S. 68). Da dies nicht geschehen ist, hat die Klagefrist nicht zu laufen begonnen. Die Voraussetzungen der Verwirkung sind nicht gegeben.
Da die Vorentscheidung diese Grundsätze verkannt hat, muß sie aufgehoben werden.
Die Klage (Berufung) ist aber sachlich nicht berechtigt. Der Minister der Finanzen, wie vorher schon die Oberfinanzdirektion, haben ihren Ermessensrahmen nicht verletzt, wenn sie die beantragte Vergünstigung abgelehnt haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (siehe Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 460/56 U vom 4. April 1957, BStBl 1957 III S. 195, Slg. Bd. 64 S. 521, und Gutachten I D 1/57 S vom 16. Dezember 1958, BStBl 1959 III S. 30) gilt bei Wirtschaftsgütern, die im Tauschwege erworben werden, der gemeine Wert des hingegebenen Gegenstandes als Anschaffungswert des erworbenen Grundstücks. Die Ausnahmen von dieser Regel (Zwangsmaßnahmen der Behörde, Brandschäden) sind nicht gegeben. Es sind auch keine Gründe erkennbar, warum im vorliegenden Fall von diesen Grundsätzen abgewichen werden soll.
Die Klage (Berufung) muß deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden.
II. Urteil Hinsichtlich des Tatbestandes wird auf den Bescheid verwiesen. Die mündliche Verhandlung ergab keine Gesichtspunkte, die zu einer änderung der Rechtsauffassung hätten führen können. Der Senat verbleibt deshalb sowohl hinsichtlich der Verfahrensfrage wie hinsichtlich der Frage des Ermessensmißbrauchs bei den Grundsätzen des Bescheides.
Fundstellen
Haufe-Index 409407 |
BStBl III 1959, 340 |
BFHE 1960, 213 |
BFHE 69, 209 |