Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Haftung von Angehörigen nach § 115 Abs. 1 AO.
Normenkette
AO § 115 Abs. 1
Tatbestand
Die Beschwerdeführerinnen (Bfinnen) betreiben den Großhandel und ambulanten Handel mit Wurst- und Fleischwaren. In dem gleichen Anwesen, in dem die Bfinnen ihr Gewerbe ausüben, unterhält ihr Vater einen Fabrikationsbetrieb in Wurstwaren. Nach den Feststellungen der Vorinstanz stellten die Bfinnen durch schriftlichen Vertrag vom 1. Mai 1954 ihrem Vater für dessen Betrieb einen Kombi-Lieferwagen zur Verfügung mit der Auflage, daß dieser die Kosten für die Unterhaltung des Wagens einschließlich der Kraftfahrzeugsteuer usw. zu übernehmen hatte. Dafür gestattete der Vater seinen Töchtern die Nutzung seiner Betriebseinrichtungen und Räume. Der schriftliche Vertrag wurde am 10. August 1954 dahin ergänzt, daß der Kraftwagen dem Vater grundsätzlich vier Stunden täglich zur Verfügung stehen sollte. An dem Wagen sind Namen und Zeichen der Firma des Vaters angebracht.
Nachdem die Rückstände an Umsatzsteuer-Vorauszahlungen 1954/1955 und an Lohnsummensteuer-Vorauszahlungen 1953/1954 des väterlichen Betriebs auf insgesamt 12.082,38 DM angewachsen waren, zog das Finanzamt durch Bescheid vom 24. März 1955, der sich an die Firma der beiden Schwestern richtete, diese nach § 115 der Reichsabgabenordnung (AO) zur Haftung für die genannten Steuern mit dem erwähnten Kombi-Kraftwagen heran. Am 23. Juni 1955 erließ es im Wege der "Berichtigung" (ß 92 Abs. 3 AO) Haftungsbescheide nach § 115 AO gegen jede der beiden Schwestern persönlich hinsichtlich des erwähnten Kombi-Kraftwagens. Die hiergegen von den Schwestern eingelegten Beschwerden (ß 119 Abs. 1 AO, § 237 AO) wies die Oberfinanzdirektion als unbegründet zurück. Auch die Berufung gegen die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion hatte keinen Erfolg. Hiergegen richten sich die Rechtsbeschwerden der beiden Schwestern, die von den Bfinnen aber nicht begründet worden sind.
Entscheidungsgründe
Die Prüfung der Rechtsbeschwerden führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Ausweislich der Akten haben die Bfinnen den Kombi-Lieferwagen auf Abzahlung gekauft. Der Verkäufer des Wagens hat in einem an das Finanzamt gerichteten Schreiben vom 18. März 1955 erklärt, daß noch zwei Raten offen seien und daß der Wagen bis zur restlosen Bezahlung sein uneingeschränktes Eigentum sei. Auch am 18. April 1955 waren die beiden Raten nach seinen Angaben noch nicht bezahlt und der Kraftfahrzeugbrief deshalb noch in seinen Händen. Am 11. November 1955 erklärte der Verkäufer, daß ein am 10. Februar 1956 fälliger Betrag von 170 DM noch rückständig sei. Hiernach waren die beiden Schwestern bei Erlaß der Haftungsbescheide noch nicht Eigentümerinnen des Lieferwagens, da sich der Verkäufer das Eigentum bis zur restlosen Bezahlung vorbehalten hatte. Voraussetzung für die Anwendung des § 115 AO ist aber, daß der Inanspruchgenommene Eigentümer der in Betracht kommenden Gegenstände ist, und zwar zu der Zeit, zu der die Haftung geltend gemacht wird (vgl. hierzu auch Reichsabgabenordnung, Hübschmann-Hepp-Spitaler zu § 115). Bei Erlaß der streitigen Haftungsbescheide waren deshalb nicht alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Haftung erfüllt. Schon aus diesem Grunde waren die Vorentscheidung sowie die Haftungsbescheide ersatzlos aufzuheben. Der Senat weist jedoch noch auf folgendes hin.
§ 115 AO ist durch § 28 Ziff. 24 des Realsteuereinführungsgesetzes vom 1. Dezember 1936 (Reichsgesetzblatt I S. 961) in die AO eingefügt worden. Eine fast gleichlautende Bestimmung war bereits im Gewerbesteuerrahmengesetz enthalten (ß 7 Abs. 4 in der Fassung vom 30. Juni 1935, Reichsgesetzblatt I S. 830). Wie sich aus der Begründung zum Gewerbesteuerrahmengesetz ergibt, müßte nach den vorhandenen Vorschriften befürchtet werden, daß die Beitreibung einer Gewerbesteuerschuld gegenüber einem Unternehmer sich deswegen als unmöglich erweist, weil alle pfändbaren, dem Betriebe dienenden Gegenstände einem anderen als dem Unternehmen gehören und der Unternehmer selbst kein übriges pfändbares Vermögen besitzt; dies gilt insbesondere, wenn der Unternehmer mit gepachteten Betriebsmitteln wirtschaftet. Deshalb sollte in diesen Fällen durch die genannte Vorschrift die Beitreibung der Steuerschuld wenigstens dann ermöglicht werden, wenn der Eigentümer der dem Betrieb dienenden Gegenstände wirtschaftlich als am Unternehmen beteiligt anzusehen ist, nämlich wenn er Angehöriger des Unternehmens oder an der Unternehmung wesentlich beteiligt ist. Von der Bestimmung im Gewerbesteuerrahmengesetz unterscheidet sich § 115 AO dadurch, daß er sich nicht auf die Gewerbesteuerschuld beschränkt, sondern für alle Steuern gilt, bei denen sich die Steuerpflicht auf den Betrieb des Unternehmens gründet. Sinn und Zweck der Vorschrift aber hat sich dadurch nicht geändert. Hieraus ergibt sich, daß die Heranziehung eines Angehörigen zur Haftung dem Grundgedanken des § 115 AO nicht entspricht, wenn der Angehörige, wie hier, nur einen einzelnen für die Führung des Betriebs nichtausschlaggebenden Gegenstand dem Unternehmer zur Verfügung gestellt hat.
Die Kostenpflicht ergibt sich aus § 309 AO.
Fundstellen
Haufe-Index 408797 |
BStBl III 1957, 279 |
BFHE 1958, 122 |
BFHE 65, 122 |