Entscheidungsstichwort (Thema)
§ 174 Abs. 3 AO erlaubt zweifache Steuerbescheidsänderung; Änderungssperre des § 173 Abs. 2 AO
Leitsatz (amtlich)
1. § 174 Abs.3 AO 1977 erlaubt eine zweifache Änderung des Steuerbescheids zumindest dann, wenn der ursprüngliche Steuerbescheid nicht endgültig ergangen ist.
2. Die Änderungssperre des § 173 Abs.2 AO 1977 steht der Änderung von Steuerbescheiden nach § 174 Abs.3 AO 1977 nicht entgegen.
Orientierungssatz
1. § 174 Abs. 3 AO 1977 stellt die Änderung des Steuerbescheids nicht in das Ermessen des FA (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Sinn des § 173 Abs. 2 AO 1977 ist es, einem aufgrund einer Außenprüfung ergangenen Steuerbescheid erhöhte Rechtsbeständigkeit zu verleihen, weil die tatsächlichen Verhältnisse in der Außenprüfung aufgeklärt werden konnten. Erfolgt eine Änderung aber nicht wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel, so beruht sie nicht auf tatsächlichen Verhältnissen, deren Aufklärung regelmäßig Gegenstand einer Außenprüfung ist (vgl. BFH-Urteil vom 10.9.1987 V R 69/84; Literatur).
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 2, § 174 Abs. 3
Verfahrensgang
FG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 25.04.1986; Aktenzeichen IX 173/80) |
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und werden zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Sie waren im Streitjahr 1974 die beiden Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH. Die GmbH verpflichtete sich in der Ergänzung der Arbeitsverträge der Kläger vom 29.Dezember 1970, anläßlich des 25.Firmenjubiläums und des 20.Arbeitsjubiläums der Kläger, im Geschäftsjahr 1971/72 den Klägern einmalige Zuwendungen zu gewähren. Die Zuwendungen sollten binnen 14 Tagen seit der Genehmigung der Bilanz zum 31.August 1972 durch die GmbH-Gesellschafter fällig sein. Die Genehmigung erfolgte am 20.Dezember 1973. 1974 zahlte die GmbH die Zuwendungen an den Kläger von 180 000 DM und an die Klägerin von 60 000 DM aus.
In ihrer Einkommensteuererklärung 1974 vom 2.März 1976 erklärten die Kläger die Jubiläumszuwendungen von zusammen 240 000 DM als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und beantragten die Verteilung auf 1965 bis 1968. Der vorläufige Einkommensteuerbescheid 1974 vom 27.Oktober 1976 erging insoweit erklärungsgemäß. Anläßlich einer Betriebsprüfung bei der GmbH und dem Kläger vertrat der Prüfer die Ansicht, daß die Zuwendungen in Höhe von 230 000 DM in 1972 bei der GmbH als verdeckte Gewinnausschüttungen und bei dem Kläger als Einkünfte aus Kapitalvermögen zu behandeln seien. In dieser Höhe seien die Zuwendungen in 1974 bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu streichen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) schloß sich dieser Ansicht an und erließ jeweils am 23.Mai 1978 geänderte Einkommensteuerbescheide 1972 und 1974. In den Erläuterungen des bestandskräftigen Änderungsbescheids 1974 wurde auf den Betriebsprüfungssonderbericht verwiesen. Im Einspruchsverfahren hob das FA den geänderten Einkommensteuerbescheid 1972 vom 23.Mai 1978 mit Bescheid vom 29.September 1978 auf. Am gleichen Tag erfaßte es in dem nach § 174 Abs.4 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Einkommensteuerbescheid 1974 die Jubiläumszuwendungen in Höhe von 230 000 DM als Einkünfte aus Kapitalvermögen. Einspruch und Klage gegen diesen Einkommensteuerbescheid 1974 vom 29.September 1978 blieben erfolglos.
Zur Begründung führte das Finanzgericht (FG) im wesentlichen aus:
Das FA habe den Einkommensteuerbescheid 1974 vom 23.Mai 1978 zu Recht nach § 174 Abs.4 AO 1977 geändert. Aufgrund des Einspruchs der Kläger habe es seinen Irrtum erkannt, daß die Zuwendungen in Höhe von 230 000 DM erst in 1974 zugeflossen seien, daraufhin den geänderten Einkommensteuerbescheid 1972 vom 23.Mai 1978 aufgehoben und die Zuwendungen als Einkünfte aus Kapitalvermögen in der Einkommensteuerveranlagung 1974 berücksichtigt.
Mit der vom FG hinsichtlich der Frage, ob im Streitfall § 174 Abs.4 AO 1977 angewendet werden kann, wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision beantragen die Kläger sinngemäß, unter Aufhebung des FG-Urteils, der Einspruchsentscheidung, des Einkommensteuerbescheids 1974 vom 29.September 1978 und der später ergangenen zum Gegenstand des Verfahrens gemäß §§ 68, 123 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erklärten Änderungsbescheide die Einkommensteuer 1974 nach einem um 230 000 DM geminderten Betrag festzusetzen. Sie rügen Verletzung der §§ 174 Abs.4 und 173 Abs.2 AO 1977.
Das FA beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Zu Recht hat das FG entschieden, daß das FA den geänderten Einkommensteuerbescheid 1974 vom 23.Mai 1978 durch den Einkommensteuerbescheid 1974 vom 29.September 1978 ändern konnte. Für die Entscheidung über die Revision kann die unter den Beteiligten streitige Frage dahinstehen, ob das angefochtene Urteil § 174 Abs.4 AO 1977 verletzt. Es war jedenfalls deshalb im Ergebnis zu bestätigen, weil eine Befugnis des FA zur Änderung seines Einkommensteuerbescheids 1974 vom 23.Mai 1978 aus § 174 Abs.3 AO 1977 herzuleiten ist.
1. Ist ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden, daß er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und stellt sich diese Annahme als unrichtig heraus, so kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, nach § 174 Abs.3 AO 1977 insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden.
Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor. § 174 Abs.3 AO 1977 erlaubt eine zweifache Änderung eines Steuerbescheids zumindest dann, wenn der ursprüngliche Steuerbescheid nicht endgültig ergangen ist.
a) Es war für die Kläger erkennbar, daß das FA die Jubiläumszuwendungen in Höhe von 230 000 DM in dem geänderten Einkommensteuerbescheid 1974 vom 23.Mai 1978 in der Annahme nicht berücksichtigte, diese Zuwendungen seien im geänderten Einkommensteuerbescheid 1972 vom 23.Mai 1978 als Einkünfte aus Kapitalvermögen anzusetzen. Es reicht aus, daß die Annahme des FA für den Steuerpflichtigen aus dem gesamten Sachverhaltsablauf --im Streitfall aus dem Hinweis auf den Betriebsprüfungssonderbericht in den Erläuterungen des geänderten Einkommensteuerbescheids 1974 vom 23.Mai 1978-- erkennbar war (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 13.November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241; vom 21.Dezember 1984 III R 75/81, BFHE 143, 110, BStBl II 1985, 283; vom 1.August 1984 V R 67/82, BFHE 141, 490, BStBl II 1984, 788).
b) Der Anwendung des § 174 Abs.3 AO 1977 auf den Streitfall steht nicht entgegen, daß das FA den angefochtenen Änderungsbescheid 1974 vom 29.September 1978 auf § 174 Abs.4 AO 1977 gestützt hat. Ein Austausch des Rechtsgrundes für die Änderung ist zulässig. § 174 Abs.3 AO 1977 stellt die Änderung nicht in das Ermessen des FA (BFH-Urteile vom 21.Februar 1989 IX R 67/84, BFH/NV 1989, 687 m.w.N.; in BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241).
c) § 173 Abs.2 AO 1977 steht der Änderung des Änderungsbescheids 1974 vom 23.Mai 1978 ebenfalls nicht entgegen. Denn die Änderungssperre des § 173 Abs.2 AO 1977 verbietet nur eine Aufhebung oder Änderung wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel. Dies ergibt sich aus dem Standort der Vorschrift des Absatzes 2, aus den Worten "Abweichend von Absatz 1" in § 173 Abs.2 AO 1977 und aus der Überschrift des § 173 AO 1977. Auch der Sinn und Zweck des § 173 Abs.2 AO 1977 spricht gegen eine Ausdehnung der Änderungssperre auf Fälle der Änderung wegen widerstreitender Steuerfestsetzungen nach § 174 Abs.3 AO 1977. Es ist der Sinn des § 173 Abs.2 AO 1977, einem aufgrund einer Außenprüfung ergangenen Steuerbescheid erhöhte Rechtsbeständigkeit zu verleihen, weil die tatsächlichen Verhältnisse in der Außenprüfung aufgeklärt werden konnten. Erfolgt eine Änderung --wie im Fall des § 174 Abs.3 AO 1977-- aber nicht wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel, so beruht sie nicht auf tatsächlichen Verhältnissen, deren Aufklärung regelmäßig Gegenstand einer Außenprüfung ist (BFH-Urteil vom 10.September 1987 V R 69/84, BFHE 150, 509, BStBl II 1987, 834; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl. 1988, Stand Juli 1989, § 173 AO 1977 Tz. 34 am Ende).
Fundstellen
Haufe-Index 62539 |
BFH/NV 1990, 33 |
BStBl II 1990, 458 |
BFHE 159, 418 |
BB 1990, 1193 |
BB 1990, 1193-1194 (LT) |
DB 1990, 1020 (LT) |
HFR 1990, 417 (LT) |
StE 1990, 163 (K) |