Verfahrensgang
LG Halle (Saale) (Urteil vom 03.12.2003) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 3. Dezember 2003 mit den Feststellungen – ausgenommen diejenigen zu den sexuellen Handlungen des Angeklagten, die bestehen bleiben – aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer als Jugendschutzkammer zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Vergewaltigung in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlußformel ersichtlichen weitgehenden Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben, soweit ihn das Landgericht des sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB) für schuldig befunden hat. Es hat sich aufgrund eingehender Beweiswürdigung die Überzeugung verschafft, daß der Angeklagte im März 2002 und an drei Tagen zwischen dem 28. April und 18. Mai 2003 mit seiner am 1. Februar 1988 geborenen, mit ihm und seiner Ehefrau seinerzeit im selben Haushalt lebenden Stieftochter Jessica jeweils den ungeschützten Geschlechtsverkehr ausgeübt hat.
2. Das Urteil kann jedoch nicht bestehen bleiben, weil die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe sich jeweils tateinheitlich auch der Vergewaltigung (§ 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB) schuldig gemacht, der rechtlichen Nachprüfung nicht standhält. Die bisher getroffenen Feststellungen belegen nicht, daß der Angeklagte die Geschädigte unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert war, zur Duldung der sexuellen Übergriffe genötigt hat.
Eine schutzlose Lage liegt vor, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maße verringert sind, daß es dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist; dies ist regelmäßig der Fall, wenn das Opfer sich dem überlegenen Täter allein gegenübersieht und auf fremde Helfer nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten nicht bedarf (st. Rspr.; BGHSt 44, 228, 231 f.; 45, 253, 256; BGH NStZ-RR 2003, 42, 44). Dabei beruht die schutzlose Lage regelmäßig auf äußeren Umständen wie insbesondere der Einsamkeit des Tatortes und dem Fehlen von Fluchtmöglichkeiten (BGH NStZ 2003, 533, 534). Eine tatbestandsmäßige schutzlose Lage ergibt sich aber – wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 3. Juni 2004 zu Recht ausgeführt hat – noch nicht allein daraus, daß sich der Täter – wie hier – mit dem Opfer allein (vgl. Tröndle/Fischer StGB 52. Aufl. § 177 Rdn. 29) in der eigenen Familienwohnung befindet. Vielmehr müssen dann regelmäßig weitere Umstände hinzutreten, wie etwa das Abschließen der Tür durch den Täter mit der Folge, daß dem Opfer jegliche Fluchtmöglichkeit abgeschnitten wird (vgl. BGH NJW 2002, 381; BGHR NStZ-RR 2003, 42, 44). Solche besonderen Umstände, die eine schutzlose Lage für Jessica allein aufgrund der Tatörtlichkeit begründet haben könnten, sind jedoch nicht festgestellt. Das Urteil läßt insbesondere nicht erkennen, weshalb das zur Tatzeit 14 bzw. 15jährige Mädchen, das zu keinem Zeitpunkt Hilfe bei der Mutter gesucht hat, nicht in der Lage gewesen wäre, die Wohnung zu verlassen.
Allerdings kann eine schutzlose Lage des Opfers sich auch aus in seiner Person liegenden Umständen ergeben. In einem solchen Fall sind an die Feststellungen der schutzlosen Lage aber erhöhte Anforderungen zu stellen; erforderlich ist, daß das Opfer Widerstandshandlungen gegenüber dem Täter unterläßt, weil es anderenfalls zumindest Körperverletzungshandlungen durch den Täter befürchtet (BGH NStZ 2003, 533, 534). Davon ist das Landgericht auch ausgegangen. Doch entbehrt die Feststellung, Jessica sei „bereits von dem Angeklagten bei geringfügigen, unvermeidlichen Fehlverhalten von dem Angeklagten geschlagen (worden) und (habe) bei einer Verweigerung Mißhandlungen befürchten” (müssen), sie habe deshalb „aus der Befürchtung heraus, bei einer Verweigerung von dem Angeklagten geschlagen zu werden, die … sexuellen Handlungen des Angeklagten über sich ergehen” lassen (UA 5/6), einer ausreichenden Tatsachengrundlage. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, ergeben die Feststellungen weder, daß der Angeklagte im Zusammenhang mit seinen sexuellen Übergriffen gewalttätig war (vgl. dazu BGH NStZ 2003, 424, 425), noch ist ein konkludentes Verhalten dargetan, mit dem der Angeklagte dem Mädchen das Risiko körperlicher Mißhandlungen bewußt gemacht haben könnte, wenn es ihm nicht zu Willen sein sollte. Im Urteil wird, soweit es das Verhalten des Angeklagten gegenüber Jessica betrifft, lediglich ein konkreter Vorfall mitgeteilt, der zeitlich zwischen der ersten und den weiteren Taten liegt, bei dem der Angeklagte gegenüber seiner Ehefrau tätlich geworden sei und dabei Jessica einen kleinen Hammer nachgeworfen habe, der sie am Gesäß „noch getroffen” habe (UA 4). Das insoweit anderweitig geführte Verfahren gegen den Angeklagten wurde gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt, ohne daß ersichtlich ist, wie sich der Angeklagte hierzu eingelassen hat. Weitere konkrete Umstände, aus denen sich wiederholte Tätlichkeiten des Angeklagten gegenüber Jessica oder auch nur ein allgemein aggressives Verhalten ergeben könnte, das innerhalb der Familie ein fortwährendes Klima der Gewalt und Einschüchterung begründet hätte (vgl. BGH aaO), können den bisher getroffenen Feststellungen nicht entnommen werden. Daß sich Jessica dem sexuellen Ansinnen des Angeklagten wegen dessen Strenge nicht zu widersetzen wagte und deshalb seine Übergriffe über sich ergehen ließ, genügt für die Qualifizierung der Taten als Vergewaltigung nicht.
Davon abgesehen ist durch die bisher getroffenen Feststellungen auch die subjektive Tatseite für eine Verurteilung nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht hinreichend belegt. Den Feststellungen ist nicht zu entnehmen, daß der Angeklagte im Sinne dieser Vorschrift eine durch äußere Umstände geprägte Lage ausgenutzt hätte. Hierzu muß der Täter die schutzlose Lage erkannt und sich zunutze gemacht haben (vgl. BGH NStZ 2003, 233, 234 m.w.N.). Daß das Mädchen sich aus Angst dem Angeklagten nicht widersetzte, belegt noch nicht, daß der Angeklagte sich dessen bewußt war und er sich dies für die Tatbegehung zunutze machte.
3. Auch wenn der aufgezeigte Rechtsfehler allein die tateinheitliche Verurteilung wegen Vergewaltigung betrifft, führt dies zur Aufhebung des Schuldspruchs insgesamt (Kuckein in KK 5. Aufl. § 353 Rdn. 12 m.N.). Unberührt bleiben von dem Rechtsfehler jedoch die Feststellungen zu dem zum Nachteil der Geschädigten begangenen sexuellen Handlungen; diese Feststellungen können deshalb bestehen bleiben.
Die Aufhebung des Urteils im Schuldspruch hat auch den Wegfall des Strafausspruchs zur Folge, der nach dem Antrag des Generalbundesanwalts auch im übrigen keinen Bestand haben könnte.
Unterschriften
Tepperwien, Maatz, Athing, Ernemann, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2558055 |
NStZ 2005, 267 |
StV 2005, 268 |