Tenor
Für die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Landgerichts Freiburg vom 26. Mai 2015 (5 Ns 81 Js 9937/13) und vom 22. Dezember 2017 (2 KLs 86 Js 6172/15) ist das
Landgericht Stuttgart - Strafvollstreckungskammer -
zuständig.
Gründe
Rz. 1
Die Landgerichte Stuttgart und Karlsruhe streiten über die Zuständigkeit in einer Strafvollstreckungssache.
I.
Rz. 2
Der Verurteilte befindet sich seit dem 30. Januar 2023 in der im Bezirk des Landgerichts Karlsruhe gelegenen Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Bis zum 29. Januar 2023 wurde gegen ihn in der Sozialtherapeutischen Anstalt Baden-Württemberg, die im Bezirk des Landgerichts Stuttgart liegt, Strafhaft vollstreckt.
Rz. 3
Der Verurteilte verbüßt eine mit Urteil des Landgerichts Freiburg vom 22. Dezember 2017 gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten. Zudem hat das Landgericht gegen ihn die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Außerdem wird gegen ihn eine Freiheitsstrafe von fünf Monaten und zwei Wochen aus dem Berufungsurteil des Landgerichts Freiburg vom 26. Mai 2015 vollstreckt. Der gemeinsame Zwei-Drittel-Termin ist auf den 13. Mai 2023 notiert. Das Strafende datiert auf den 7. Juni 2026, anschließend ist der Vollzug der Sicherungsverwahrung vorgemerkt.
Rz. 4
Mit Verfügung vom 6. Februar 2023 forderte die Staatsanwaltschaft Freiburg im Breisgau, Zweigstelle Lörrach, eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Bruchsal zur Frage der Entlassung des Verurteilten zum Zwei-Drittel-Termin an. Die Haftanstalt sprach sich am 6. März 2023 gegen eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung aus. Mit Verfügung vom 9. März 2023 hat die Staatsanwaltschaft die Akten der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe vorgelegt und beantragt, die Reststrafe nicht zur Bewährung auszusetzen.
Rz. 5
Das Landgericht Karlsruhe - Strafvollstreckungskammer - hält die Zuständigkeit des Landgerichts Stuttgart für gegeben; die dortige Strafvollstreckungskammer hat die Übernahme des Verfahrens durch Beschluss vom 19. Mai 2023 abgelehnt, woraufhin das Landgericht Karlsruhe die Sache dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt hat.
II.
Rz. 6
1. Die Voraussetzungen einer Zuständigkeitsbestimmung durch den Bundesgerichtshof sind gegeben. Da zwischen dem Landgericht Karlsruhe (Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe) und dem Landgericht Stuttgart (Bezirk des Oberlandesgerichts Stuttgart) Uneinigkeit über die Zuständigkeit besteht, ist der Bundesgerichtshof gemäß § 14 StPO als gemeinschaftliches oberes Gericht zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.
Rz. 7
2. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Stuttgart ist für die Entscheidung über die Reststrafenaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zuständig.
Rz. 8
a) Die Zuständigkeit richtet sich nach § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO. Demnach ist - sofern gegen einen Verurteilten eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird - für die nach § 454 StPO zu treffende Entscheidung die Strafvollstreckungskammer zuständig, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt, in die der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird, aufgenommen ist.
Rz. 9
b) Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Stuttgart war mit der Nachtragsentscheidung gemäß § 57 Abs. 1 StGB im Sinne des § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO bereits befasst, als der Verurteilte am 30. Januar 2023 in die Justizvollzugsanstalt Bruchsal verlegt wurde.
Rz. 10
aa) „Befasst“ wird das Gericht, wenn Tatsachen aktenkundig werden, die eine Entscheidung rechtfertigen können, unabhängig davon, ob sich die Verfahrensakten zu diesem Zeitpunkt bei der (zuständigen) Strafvollstreckungskammer befinden (Senat, Beschlüsse vom 14. August 1981 - 2 ARs 174/81, BGHSt 30, 189, 191; vom 11. April 2022 - 2 ARs 122/22, NStZ-RR 2022, 358 mwN; KK-StPO/Appl, 9. Aufl., § 462a Rn. 17 mwN). Auch ohne Antragstellung oder Zuleitung der Akten zur Entscheidung ist ein Gericht schon befasst, sobald eine nachträgliche Entscheidung ansteht, etwa weil eine Entscheidung von Amts wegen gesetzlich vorgeschrieben ist (vgl. Senat, Beschluss vom 11. April 2022 - 2 ARs 122/22, NStZ-RR 2022, 358, 359; KK-StPO/Appl, 9. Aufl., § 462a Rn. 18 mwN). Eine Befassung tritt deshalb auch bei Untätigkeit des Gerichts ein, wenn der nach § 57 Abs. 1 StGB maßgebliche Zeitpunkt für die Entscheidung über eine Strafaussetzung herannaht; die erforderliche Vorlaufzeit ist dabei so zu bemessen, dass der Verurteilte im Falle einer Bewilligung der Strafaussetzung nach Durchführung der erforderlichen Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung bei Eintritt der Aussetzungsreife entlassen werden könnte, wobei auch zu bedenken ist, dass möglicherweise ein Beschwerdeverfahren durchgeführt werden muss (Senat, Beschlüsse vom 13. Oktober 2021 - 2 ARs 322/21, NStZ-RR 2021, 390, 391; vom 11. April 2022 - 2 ARs 122/22, NStZ-RR 2022, 358, 359). Insbesondere ist bei der erforderlichen vorausschauenden Planung zu berücksichtigen, ob vor der Entscheidung gemäß § 454 Abs. 2 StPO die Einholung eines Sachverständigengutachtens vorgesehen ist (KK-StPO/Appl, 9. Aufl., § 462a Rn. 18 mwN).
Rz. 11
bb) Im vorliegenden Fall standen zum Zeitpunkt der Verlegung bis zum gemeinsamen Zwei-Drittel-Termin am 13. Mai 2023 noch dreieinhalb Monate zur Verfügung, um das Verfahren betreffend die Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB abzuschließen. Zwar kann bei einer Verlegung drei Monate vor dem Zwei-Drittel-Termin von einem Befasstsein der Strafvollstreckungskammer im Allgemeinen noch nicht ausgegangen werden (Senat, Beschlüsse vom 26. Oktober 2021 - 2 ARs 335/21, juris Rn. 11 mwN; vom 11. April 2022 - 2 ARs 122/22, NStZ-RR 2022, 358, 359). Dies gilt indes für Fälle, in denen die Einholung eines Sachverständigengutachtens vom Gesetz nicht vorgeschrieben ist. Wenn hingegen gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO die Einholung eines Sachverständigengutachtens in Betracht kommt, ist von einem deutlich längeren Vorlauf auszugehen. Auch wenn im Einzelfall die Einholung eines Gutachtens entbehrlich ist, weil eine Strafaussetzung aus Sicht des Gerichtes nicht in Betracht kommt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - StB 45/20, juris Rn. 10 mwN), führt dies nicht zu einer kürzeren Vorlaufzeit. Die Entscheidung, ob überhaupt ein Gutachten einzuholen ist, muss so rechtzeitig erfolgen, dass bei positiver Entscheidung das Gutachten rechtzeitig vor dem Zwei-Drittel-Termin des § 57 Abs. 1 StGB zur Verfügung steht und die erforderlichen Anhörungen zuvor stattfinden können. Sobald eine Strafvollstreckungskammer zu entscheiden hat, ob ein Sachverständigengutachten einzuholen ist, ist sie mit der Sache befasst. Wann der maßgebliche Zeitpunkt gegeben ist, zu dem eine Strafvollstreckungskammer die Einholung eines Gutachtens prüfen muss, hängt im Einzelfall von verschiedenen Faktoren ab. Neben der Länge der gegen den Verurteilten verhängten Freiheitsstrafe und dem Umstand, ob - wie hier - auch die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung im Hintergrund steht (vgl. § 67c Abs. 1 StGB, § 463 Abs. 3 Satz 3 StPO), sind die zeitlichen Verfügbarkeiten von Sachverständigen von Bedeutung, die sich in den Gerichtsbezirken und auch im Einzelfall unterscheiden können. Die Einholung eines entsprechenden Gutachtens benötigt jedenfalls regelmäßig einen längeren Vorlauf als die hier angenommenen dreieinhalb Monate (vgl. auch OLG Dresden, Beschluss vom 6. Dezember 2004 - 2 Ws 681/04, juris Rn. 14; BeckOK StVollstrO/Weyde, 12. Ed., § 36 Rn. 27).
Rz. 12
Nach alledem bleibt das mit der Aussetzungsentscheidung befasste Landgericht Stuttgart - Strafvollstreckungskammer - zuständig, bis über die Sache abschließend entschieden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Mai 2011 - 2 ARs 164/11, BGHSt 56, 252, 253 mwN; KK-StPO/Appl, 9. Aufl., § 462a Rn. 16 mwN).
Appl |
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Fundstellen
Haufe-Index 15873790 |
NStZ-RR 2023, 391 |