Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 03.04.2008) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. April 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Soweit der Angeklagte in den Fällen II. 1 bis II. 3 der Urteilsgründe verurteilt worden ist, wird er freigesprochen. Insoweit hat die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
3. Im Übrigen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und festgestellt, dass als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer sechs Monate dieser Strafe als vollstreckt gelten. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung und Freisprechung in drei Fällen, in einem Fall zur Zurückverweisung.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der 1935 geborene Angeklagte bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1994 33 Jahre lang als Werkmeister in der Schreinerei der P.-Werkstätten in F. beschäftigt, einer Einrichtung, in der überwiegend geistig Behinderte unter fachlicher Anleitung tätig sind. Der Geschädigte, ein 57 Jahre alter Mann, ist seit früher Kindheit „mittelschwer geistig behindert”, kann weder lesen noch rechnen und spricht in kurzen, grammatikalisch fehlerhaften Sätzen. Er hat einen besonderen Hang zu Zahlen und Daten, die er sich gut merken und gut zuordnen kann. Sein Hobby ist das Basteln an Radios. Nach dem Tod seiner Mutter ist der inzwischen 80 Jahre alte Vater des Geschädigten als dessen Betreuer bestellt.
Rz. 3
Der Angeklagte kümmerte sich schon während seiner Tätigkeit in den P.-Werkstätten um den Geschädigten. Nach Eintritt in den Ruhestand hielt er den Kontakt zu den Werkstätten, insbesondere aber auch zu dem Geschädigten aufrecht. Er holte ihn etwa alle vier bis sechs Wochen ab und unternahm mit ihm Wander-Ausflüge in den Taunus. Der Geschädigte, der sonst keine Gelegenheiten zu solchen Unternehmungen hatte, freute sich über diese Ausflüge sehr; sein Vater, der dem Angeklagten in besonderem Maß vertraute, war über die Kontakte informiert und stimmte ihnen ausdrücklich zu.
Rz. 4
Schon seit 1990, später auch im Rahmen der Ausflüge kam es zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten, von denen der Verurteilung vier zugrunde liegen: In den Fällen II. 1 bis II. 3 forderte der Angeklagte im November 1999, Juli und August 2003 den Geschädigten jeweils auf, sich vollständig nackt auszuziehen und sich vor ihm hinzulegen. Der Angeklagte fotografierte und filmte den Geschädigten jeweils; die Aufnahmen löschte er wieder. Im Fall II. 4 begab sich der Angeklagte im November 2003 mit dem Geschädigten in den Keller seiner Wohnung. Nachdem sich der Geschädigte auf Geheiß des Angeklagten wiederum entkleidet hatte, führte dieser ein bleistiftartiges Stück Holz, das er zuvor mit Öl beträufelt hatte, in den Anus des Geschädigten ein.
Rz. 5
Das Landgericht hat den Geschädigten als widerstandsunfähig angesehen. Hierzu hat es festgestellt, dem Geschädigten sei das Geschehen jeweils unangenehm und peinlich gewesen. Er habe aber nicht gewagt, sich dem Angeklagten zu widersetzen, den er als Vertrauens- und Autoritätsperson ansah. Die Ausflüge mit ihm seien für den Geschädigten die einzige Abwechslung gewesen; dieser sei überdies irrtümlich davon ausgegangen, der Angeklagte habe die Macht, einen Umzug aus dem relativ streng behüteten Elternhaus in eine Einrichtung des betreuten Wohnens zu veranlassen, von dem er sich mehr Freiheit erhoffte.
Rz. 6
Nach der Anzeigeerstattung im November 2003 hat sich der Geschädigte mehrfach bei der Polizei nach dem Fortgang des Verfahrens erkundigt.
Rz. 7
2. In den Fällen II. 1 bis II. 3 war, wie der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat, der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person gemäß § 179 Abs. 1 Nr. 1 (a.F.) StGB schon deshalb nicht gegeben, weil der Angeklagte jeweils weder eine sexuelle Handlung an dem Geschädigten vorgenommen noch diesen dazu veranlasst hat, sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen. Der Tatbestand des § 179 Abs. 1 StGB setzt Körperkontakt zwischen Täter und Tatopfer voraus; daran fehlt es hier. Da weitergehende Feststellungen insoweit nicht zu erwarten sind, war der Angeklagte in diesen Fällen freizusprechen.
Rz. 8
Im Fall II. 4 wird der Schuldspruch wegen (schwerem) sexuellem Missbrauch eines Widerstandsunfähigen gemäß § 179 Abs. 4 Nr. 1 a.F. StGB von den Feststellungen nicht getragen, weil ein Zustand der Widerstandsunfähigkeit des Geschädigten nicht rechtsfehlerfrei festgestellt ist.
Rz. 9
Die Feststellung, der Geschädigte sei „mittelschwer geistig behindert” (UA S. 4), reicht insoweit nicht aus; erst recht nicht der Umstand, dass er nicht lesen oder rechnen kann (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 172 f.; 2005, 232, 233; BGHR StGB § 179 Abs. 1 Widerstandsunfähigkeit 9; Fischer StGB 55. Aufl. § 179 Rdn. 9, 11 a m.w.N.). Zwar hat das Landgericht sich der Bewertung der Sachverständigen angeschlossen, die vorgetragen hat, der Geschädigte habe „keine Handlungsalternative gehabt, da seine Persönlichkeit es nicht zulasse, dass er sich gegen den Angeklagten zur Wehr setze” (UA S. 27). Dieser Hinweis könnte für das Vorliegen der Voraussetzungen von Widerstandsunfähigkeit sprechen (vgl. dazu etwa BGHSt 32, 183, 185; 36, 145, 147; Lenckner/Perron/Eisele in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl. § 179 Rdn. 5; Renzikowski in MüKo-StGB § 179 Rdn. 25 f.; Fischer aaO Rdn. 11 ff.; jeweils m.w.N.). Dem steht aber die nachfolgende Erläuterung wieder entgegen, der Angeklagte sei für den Geschädigten „eine absolute Autoritätsperson gewesen, die ihm zu Ausflügen aus dem Alltag verholfen habe, zumal sich der Geschädigte vom Angeklagten auch Einfluss hinsichtlich eines möglichen Umzugs in eine Einrichtung des betreuten Wohnens versprochen habe. Vor diesem Hintergrund habe der Geschädigte die Handlungen des Angeklagten über sich ergehen lassen, ohne eine Wahl gehabt zu haben” (UA S. 27). Diese Erwägungen weisen gerade darauf hin, dass der Geschädigte jedenfalls subjektiv „eine Wahl” hatte, denn andernfalls wären Abwägungen über Vor- und Nachteile nicht verständlich.
Rz. 10
Die Feststellung der Widerstandsunfähigkeit im Sinne von § 179 Abs. 1 StGB ist im Übrigen eine normative Entscheidung, hinsichtlich derer sich der Tatrichter nicht ohne eigene Würdigung einem Sachverständigen anschließen darf (Renzikowski aaO Rdn. 25; vgl. auch Fischer aaO Rdn. 13). An einer solchen fehlt es hier. Grundlage hierfür wären auch nähere Feststellungen zu den konkreten, rechtsgutbezogenen Auswirkungen der Behinderung des Geschädigten gewesen; allgemeine Diagnosen oder zusammenfassende, schlagwortartige Beschreibungen reichen nicht aus. So wird durch den neuen Tatrichter gegebenenfalls auch das Maß lebenspraktischer Fähigkeiten des Geschädigten näher aufzuklären und zu würdigen sein, das sich etwa in seinen sonstigen sozialen Kontakten, seinem Hobby oder sonstigen Freizeitbeschäftigungen sowie seiner mehrfachen Nachfrage bei der Polizei nach dem Verfahrensstand widerspiegeln könnte. Insoweit sind umfassende neue Feststellungen erforderlich. Da auch die Feststellungen zum äußeren Sachverhalt im Fall II. 4 hiervon beeinflusst sein könnten, hat der Senat davon abgesehen, diese an sich rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen aufrecht zu erhalten.
Rz. 11
3. Wenn der neue Tatrichter erneut zur Annahme von Widerstandsunfähigkeit des Geschädigten gelangen und zu einem Fall des § 179 Abs. 4 Nr. 1 a.F. StGB gelangen sollte, wäre diese Qualifikation im Schuldspruch, entsprechend der ständigen Rechtsprechung zu § 177 StGB, als schwerer sexueller Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person zu kennzeichnen.
Rz. 12
4. Lässt sich Widerstandsunfähigkeit des Geschädigten zum Zeitpunkt der Tat nicht feststellen, wird der neue Tatrichter die Voraussetzungen des § 174 c Abs. 1 StGB zu prüfen haben.
Rz. 13
Die Annahme eines Betreuungsverhältnisses liegt hier im Hinblick auf die besondere Vertrauensbeziehung zwischen dem Vater des Geschädigten als dessen Betreuer, dem Geschädigten selbst und dem Angeklagten nahe; auf die Dauer eines solchen Verhältnisses sowie darauf, dass der Geschädigte dem Angeklagten nur außerhalb einer Wohn-, Arbeits- oder Therapieeinrichtung und nur für die Dauer der jeweiligen Ausflüge anvertraut war, käme es nicht an (vgl. Renzikowski aaO § 174 c Rdn. 22; Fischer aaO § 174 c Rdn. 7 f.; Laufhütte/Roggenbuck in LK 11. Aufl. Nachtrag § 174 c Rdn. 6 f.).
Unterschriften
Fischer, Rothfuß, Roggenbuck, Cierniak, Schmitt
Fundstellen
Haufe-Index 2564457 |
NStZ-RR 2009, 14 |
NStZ-RR 2009, 365 |
StraFo 2009, 32 |