Leitsatz (amtlich)
Zur Unerreichbarkeit eines Zeugen im Falle mehrmonatiger ergebnisloser Fahndung auf Grund eines (internationalen) Haftbefehls.
Normenkette
StPO § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 5
Verfahrensgang
LG Hannover (Entscheidung vom 14.12.2021; Aktenzeichen 96 KLs 12/21) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 14. Dezember 2021 wird als unbegründet verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und zehn Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 2
Lediglich ergänzend bemerkt der Senat: Die auf eine Verletzung des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 5 StPO gestützte Verfahrensrüge, das Landgericht habe fehlerhaft einen von der Verteidigung benannten Zeugen als unerreichbar behandelt, ist unbegründet.
Rz. 3
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Rz. 4
Dem Angeklagten werden Betäubungsmittelgeschäfte zur Last gelegt, bei denen er unter Einsatz des Encro-Chat-Accounts „o. “ unter anderem vom gesondert Verfolgten S. 20 kg bzw. 30 kg Marihuana und 2 kg Kokain (Fälle 3, 4 und 6) erworben haben soll. Das Marihuana soll S. als „Großhändler“ teilweise „im dreistelligen Kilogrammbereich“ (UA S. 6) zuvor aus Spanien nach Deutschland eingeführt haben.
Rz. 5
Am neunten und letzten Hauptverhandlungstag beantragte die Verteidigung zum Beweis der Tatsache, dass „nicht der Angeklagte, sondern ein anderer, nicht aus Griechenland stammender Mensch den Encro-Chat-Account ‚o. ‘ genutzt hat“, den gesondert verfolgten S. zu vernehmen. Diesem sei der Nutzer des Accounts „o. “ persönlich bekannt, was namentlich Chatprotokolle belegten. Zwar sei der Zeuge derzeit nicht unter seiner Meldeanschrift anzutreffen. Sein „anwaltlicher Vertreter“, Rechtsanwalt A. in Hannover, sei aber mit einer „Vollmacht ausgestattet worden“, von der auch die Entgegennahme von Ladungen umfasst sei. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft erklärte hierzu, dass sich der Zeuge vor den Ermittlungsbehörden verborgen halte; nach ihm werde mit einem internationalen Haftbefehl - bislang ergebnislos - gesucht.
Rz. 6
Die Strafkammer lehnte den Antrag wegen Unerreichbarkeit des Zeugen ab und führte aus: Der Zeuge wird „mit internationalem Haftbefehl gesucht und ist untergetaucht.“ Aus der vorgetragenen Vollmacht ergebe sich nichts anderes, denn „derartige Vollmachten beziehen sich grundsätzlich auf bestimmte Verfahren“ und eine „konkrete Vollmacht für eine Zeugenladung in diesem Verfahren ist ebenso wenig ersichtlich oder vorgetragen wie ein tatsächlich andauernder Kontakt“ des benannten „anwaltlichen Vertreters“ zum Zeugen.
Rz. 7
2. Der Verfahrensrüge bleibt in der Sache der Erfolg versagt.
Rz. 8
a) Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei dem Beweisbegehren überhaupt um einen Beweisantrag im Rechtssinne gehandelt hat (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO), der eine Bescheidung nach § 244 Abs. 3 Satz 3 StPO ermöglicht hat. Grundsätzlich ist der Zeuge als Beweismittel im Antrag mit vollständigem Namen und genauer Anschrift zu benennen; nur wenn der Antragsteller dazu nicht in der Lage ist, genügt es, im Einzelnen den Weg zu beschreiben, auf dem dies zuverlässig ermittelt werden kann (vgl. BGH, Urteile vom 8. Dezember 1993 - 3 StR 446/93, BGHSt 40, 3, 7; vom 17. Juli 2014 - 4 StR 78/14; KK-StPO/Krehl, 9. Aufl., § 244 Rn. 79, jeweils mwN). Zweifelhaft erscheint indes, ob den Formerfordernissen eines Beweisantrags bei einem an seiner früheren Meldeadresse nicht mehr zu ladenden Zeugen der pauschale Hinweis auf eine nicht näher beschriebene Ladungsvollmacht als hinreichender Ansatz für gerichtliche Nachforschungen genügt. Ohne näheren Vortrag, etwa zum Umfang der Vollmacht, dem Zeitpunkt ihrer Erteilung und zum Kontakt des Vollmachtnehmers zum Zeugen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 - 1 StR 620/09, NStZ 2010, 403; Basdorf, FS Widmaier, 2008, S. 51, 61), dürfte dem Tatgericht eine sinnvolle Prüfung des Ablehnungsgrundes der Unerreichbarkeit regelmäßig verschlossen sein.
Rz. 9
b) Die Strafkammer ist ohne Rechtsfehler von einer Unerreichbarkeit des Zeugen ausgegangen (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 5 StPO).
Rz. 10
aa) Unerreichbar ist ein Zeuge, wenn das Tatgericht unter Beachtung der ihm obliegenden Sachaufklärungspflicht alle der Bedeutung des Zeugnisses entsprechenden Bemühungen zur Beibringung des Zeugen vergeblich entfaltet hat und keine begründete Aussicht besteht, dass der Zeuge in absehbarer Zeit als Beweismittel herangezogen werden kann (vgl. BGH, Urteile vom 8. März 1968 - 4 StR 615/67, BGHSt 22, 118, 120; vom 24. August 1983 - 3 StR 136/83, BGHSt 32, 68, 73; vom 2. November 2016 - 2 StR 556/15; st. Rspr.). In die tatgerichtliche Bewertung dürfen die Gesamtumstände, die dem Erscheinen und der Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung entgegenstehen, einbezogen werden (vgl. BGH, Urteil vom 26. Oktober 1965 - 5 StR 413/65). Ist das Gericht nach gewissenhafter Prüfung der maßgebenden Umstände davon überzeugt, dass der Zeuge einer Vorladung zur Hauptverhandlung keine Folge leisten werde, so ist es nicht verpflichtet, vor der Ablehnung eines Beweisantrages den aussichts- und zwecklosen Versuch einer Ladung zu unternehmen (vgl. BGH, Urteile vom 22. März 1979 - 4 StR 691/78, NJW 1979, 1788; vom 6. Dezember 1989 - 1 StR 559/89, NJW 1990, 1124, 1125). Dies gilt gleichermaßen, wenn Bemühungen zur Herbeischaffung des Beweismittels von vornherein für aussichtslos gehalten werden dürfen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 1961 - 5 StR 12/61, ROW 1961, 252, 253; Alsberg/Güntge, Der Beweisantrag im Strafprozess, 8. Aufl., Kapitel 5; Rn. 527).
Rz. 11
bb) Das Landgericht ist ohne Rechtsverstoß zu der Überzeugung gelangt, dass der Zeuge als Beweismittel unerreichbar und die Ladung aussichtslos gewesen sei. Die hierfür maßgebenden Erwägungen hat die Strafkammer noch zureichend in ihrem Ablehnungsbeschluss niedergelegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Oktober 1986 - 1 StR 605/86, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Unerreichbarkeit 1; vom 21. Dezember 2010 - 3 StR 462/10, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Unerreichbarkeit 22). Eingedenk der durch die Anklageschrift mitgeteilten Informationen und des Stands der Beweisaufnahme bedurfte hier weder die Bedeutung des Beweismittels noch die Dauer des ergebnislosen Fahndens einer Erwähnung.
Rz. 12
(1) Rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer mit Blick auf die besonderen Umstände des Falles weitere Bemühungen zur Aufenthaltsermittlung als zwecklos angesehen. Mit der mehr als fünfmonatigen ergebnislosen internationalen Fahndung - wegen grenzüberschreitender Betäubungskriminalität im „dreistelligen Kilogrammbereich“ - war das effektivste Mittel, einer sich vor den Ermittlungsbehörden verborgen haltenden Person habhaft zu werden (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 1961 - 5 StR 12/61, ROW 1961, 252, 253), über einen hinreichend aussagekräftigen Zeitraum (vgl. BGH, Urteil vom 16. Februar 1982 - 5 StR 688/81, NStZ 1982, 212) ausgeschöpft (vgl. demgegenüber BGH, Beschluss vom 19. März 1975 - 3 StR 5/75, MDR 1975, 726; RG, Urteil vom 25. Januar 1932 - 2 D 28/32, JW 1932, 1224, 1225; OLG München, NStZ-RR 2007, 50, 51). Weitere Ermittlungsschritte waren daneben nicht geboten. Insbesondere lag es ohne näheren Vortrag außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit, dass sich belastbare Erkenntnisse zum Aufenthaltsort des sich verborgen haltenden Zeugen von dem - einer anwaltlichen Schweigepflicht unterliegenden - „Vertreter“ ergeben würden. Vor diesem Hintergrund waren in der Beschlussbegründung auch weitere Erwägungen, etwa zu rechtshilferechtlichen Fragen oder zu einem sicheren Geleit (vgl. BGH, Urteil vom 16. Februar 1982 - 5 StR 688/81, NStZ 1982, 212), entbehrlich.
Rz. 13
(2) Schließlich hat die Strafkammer auch von einem Ladungsversuch über den im Antrag benannten „anwaltlichen Vertreter“ ohne Rechtsfehler unter Hinweis auf die mehrmonatige internationale Fahndung abgesehen. Eine Durchsetzung der Zeugenpflichten war vor dem Hintergrund des Antragsvorbringens tatsächlich wie rechtlich (§ 51 StPO) aussichtslos. Bei dieser Ungewissheit brauchte das Gericht trotz der Bedeutung der Sache nicht abzuwarten, ob einer späteren Ladung möglicherweise ein - denktheoretischer - Erfolg beschieden sein würde.
Rz. 14
3. Einen Verstoß gegen die gerichtliche Sachaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) lässt das Beschwerdevorbringen aus denselben Gründen nicht erkennen.
Sander |
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Tiemann |
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Wenske |
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Fritsche |
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Arnoldi |
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Fundstellen
Haufe-Index 15568033 |
NJW 2023, 10 |
NJW 2023, 791 |
NStZ 2023, 374 |
wistra 2023, 349 |
NStZ-RR 2023, 5 |
NJW-Spezial 2023, 153 |
StRR 2023, 17 |
StV 2023, 824 |