Normenkette
StPO § 246a Abs. 1 S. 2; StGB § 64
Verfahrensgang
LG Mannheim (Entscheidung vom 23.07.2021; Aktenzeichen 5 KLs 804 Js 1644/21) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 23. Juli 2021 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben; die Einziehungsentscheidung bleibt jedoch bestehen.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt sowie sichergestelltes Marihuana und den Wert von Taterträgen in Höhe von 300 Euro eingezogen. Die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat es abgelehnt. Die mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Rz. 2
1. Nach den Urteilsfeststellungen erwarb der Angeklagte etwa eine Woche vor dem 1. Februar 2021 zweieinhalb Kilogramm Marihuana mit einem Mindestwirkstoffgehalt von 14,9 % THC zum Teil auf Kommission zu einem Kaufpreis von 12.500 Euro. Hiervon wollte der Angeklagte etwa 363,5 Gramm zusammen mit seinen Freunden konsumieren, den Rest des Marihuanas wollte er gewinnbringend weiterverkaufen, um seinen Lebensunterhalt aufzubessern und seinen Eigenkonsum zu finanzieren. Zum Zeitpunkt seiner Festnahme am 1. Februar 2021 hatte er bereits 150 Gramm verkauft und weitere 50 Gramm zusammen mit seinen Freunden verbraucht.
Rz. 3
2. Zum Betäubungsmittelkonsum des zur Tatzeit 29-jährigen, vielfach vorbestraften, wegen Betäubungsmitteldelikten mehrfach, jedoch lediglich wegen Besitzes kleiner Mengen Marihuana zu Geldstrafen verurteilten Angeklagten stellte das Landgericht fest, dass er im Alter von 17 Jahren hin und wieder Marihuana, daneben auch Amphetamin und Crack sowie vereinzelt Kokain nasal konsumiert habe. Nach seiner Haftentlassung im Jahr 2016 habe er wieder begonnen, Marihuana zu konsumieren, zuletzt zusammen mit seinen Freunden fünf bis zehn Gramm täglich. Allerdings habe der Angeklagte auch regelmäßig gearbeitet, ohne dass sein Konsum aufgefallen wäre. In der Untersuchungshaft habe er nicht unter „nennenswerten“ Entzugserscheinungen gelitten. Im Jahr 2012 sei er wegen einer Beschaffungstat zu einer Jugendstrafe verurteilt worden, bei der die Vollstreckung der Strafe zunächst zurückgestellt worden sei. Zwei Versuche, eine Drogenentwöhnungsbehandlung zu durchlaufen, seien jedoch gescheitert, so dass die Zurückstellung der Strafvollstreckung wegen fehlender Rehabilitationsfähigkeit des Angeklagten widerrufen wurde.
Rz. 4
3. Das Landgericht geht - ohne einen Sachverständigen hinzuzuziehen - davon aus, dass beim Angeklagten „wohl“ ein Hang vorliege, Betäubungsmittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Es seien jedoch keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass er aufgrund einer psychischen Abhängigkeit von Marihuana sozial gefährdet oder gefährlich sei, weil eine Beeinträchtigung seiner Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit nicht festzustellen sei. Seine Betäubungsmittelgeschäfte habe er „engagiert, umsichtig, vorausschauend und zuverlässig“ abgewickelt. Darüber hinaus bestehe keine hinreichend konkrete Therapieaussicht, weil von einer fehlenden „Rehabilitationsfähigkeit“ des Angeklagten auszugehen sei. Das Scheitern zweier Therapiemaßnahmen nach §§ 35, 36 BtMG mache deutlich, dass er sich nicht tiefergehend mit seinem Drogenkonsum und seiner Abhängigkeitsentwicklung auseinandersetzen wolle. Unabhängig hiervon sei nunmehr eine bestandskräftige Ausweisungsverfügung gegen ihn ergangen.
II.
Rz. 5
Die Nichtanordnung der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 6
1. Die Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass es rechtsfehlerhaft von einem zu engen Verständnis eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist.
Rz. 7
a) Für einen Hang ist - wie auch das Landgericht nicht verkennt - nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende aufgrund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. Juli 2019 - 2 StR 93/19 Rn. 9 und vom 14. Oktober 2015 - 1 StR 415/15 Rn. 7; Urteil vom 15. Mai 2014 - 3 StR 386/13 Rn. 10). Eine soziale Gefährdung oder eine Gefährlichkeit kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Betreffende Rauschmittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt werden, sondern insbesondere auch in Fällen der Beschaffungskriminalität (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. Juli 2019 - 2 StR 93/19 Rn. 9; vom 20. September 2017 - 1 StR 348/17 und vom 20. Dezember 2011 - 3 StR 421/11 Rn. 9). Auch stehen das Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz der Annahme eines Hangs nicht entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Mai 2018 - 3 StR 166/18 Rn. 12).
Rz. 8
b) Gemessen daran legt bereits der von der Strafkammer angenommene tägliche Konsum des Angeklagten die Annahme eines beim ihm bestehenden Hanges nahe. Trotz seiner Erwerbstätigkeit in den von seiner Familie betriebenen Friseurläden kann mit Blick auf die verfahrensgegenständliche Tat - das Landgericht geht beim Angeklagten von schwunghaften Rauschgiftgeschäften aus -, die auch der Finanzierung seines Eigenkonsums diente, die Ursächlichkeit des jahrelangen Missbrauchs von Marihuana für die soziale Gefährdung und soziale Gefährlichkeit des Angeklagten nicht verneint werden. Die vom Landgericht nicht näher belegte umsichtige Vorgehensweise des Angeklagten beim Handeltreiben und das Verheimlichen seines Rauschgiftkonsums gegenüber seiner Familie stehen dem nicht entgegen.
Rz. 9
2. Auch die Verneinung einer hinreichend konkreten Aussicht auf einen Therapieerfolg im Sinne von § 64 Satz 2 StGB ist nicht ohne Rechtsfehler.
Rz. 10
Eine Maßregel nach § 64 StGB ist gegen den Angeklagten bislang noch nicht angeordnet worden. Ob eine Therapiebereitschaft beim Angeklagten besteht, wird von der Strafkammer weder geprüft noch erörtert. Soweit das Landgericht auf eine fehlende Rehabilitationsfähigkeit des Angeklagten abstellt, weil dieser im Rahmen der Vollstreckung der am 27. August 2012 verhängten Jugendstrafe zwei Therapiemaßnahmen nach § § 35, 36 BtMG erfolglos durchlief, so besagt dies nichts über die aktuelle Behandlungsbereitschaft des Angeklagten oder deren Weckbarkeit bei ihm.
Rz. 11
3. Darüber hinaus begegnet es bei der hier vorliegenden Fallkonstellation durchgreifenden rechtlichen Bedenken, die Voraussetzungen einer Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB zu verneinen, ohne hierzu einen Sachverständigen hinzuzuziehen und anzuhören (§ 246a StPO). Das Tatgericht ist grundsätzlich verpflichtet, einen Sachverständigen anzuhören, wenn nach den Umständen des Einzelfalls eine Unterbringung des Betreffenden in einer Entziehungsanstalt in Betracht kommt und deshalb eine Anordnung dieser Maßregel konkret zu erwägen ist. Diese muss sich auch auf die Behandlungsaussichten beziehen. Nur wenn das Tatgericht die Maßregelanordnung allein in Ausübung seines Ermessens nicht treffen will und diese Entscheidung von sachverständigen Feststellungen unabhängig ist, ist es von dieser Verpflichtung befreit (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2017 - 3 StR 182/17 Rn. 9 mwN).
Rz. 12
Vorliegend wäre das Landgericht deshalb gehalten gewesen, einen Sachverständigen zur Prüfung der Voraussetzungen des § 64 StGB hinzuziehen, denn es hat eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt in Betracht gezogen. Dieses Verfahrenserfordernis konnte es nicht durch eine eigene Beurteilung der Erfolgsaussicht ersetzen, für die es sich nach der Vorschrift des § 246a Abs. 1 StPO gerade sachverständiger Hilfe bedienen muss (vgl. BGH aaO Rn. 10).
Rz. 13
4. Der Umstand, dass gegen den Angeklagten, der seit seinem fünften Lebensjahr im Bundesgebiet lebt und gegen den seit Dezember 2013 ein Ausweisungsverfahren betrieben wird, nunmehr seit Januar 2021 ein bestandskräftiger Ausweisungsbescheid vorliegt, steht einer Maßregelanordnung grundsätzlich nicht entgegen, zumal die Ausweisung aus tatsächlichen Gründen noch ungewiss ist. Diese Konstellation eröffnet dem Tatgericht vielmehr die Möglichkeit, eine Entscheidung nach § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB zu treffen (vgl. auch § 67 Abs. 3 Satz 2 und 3 StGB).
III.
Rz. 14
Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs, soweit die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist. Damit das neue Tatgericht den Zustand des Angeklagten mit Hilfe eines Sachverständigen umfassend würdigen kann, hebt der Senat auch den Strafausspruch auf. Insbesondere die Einbeziehung eines Sachverständigen kann Umstände erkennbar werden lassen, die auch für die Strafzumessung von Bedeutung sind. Die Einziehungsentscheidung bleibt hiervon jedoch unberührt.
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RiBGH Prof. Dr. Bär ist erkrankt und deshalb an der Unterschriftsleistung gehindert. |
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Fundstellen
Haufe-Index 15127547 |
NStZ-RR 2022, 121 |