Verfahrensgang
LG Lüneburg (Urteil vom 10.06.2009) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten S. wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 10. Juni 2009, soweit es ihn betrifft, im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision des Angeklagten S. und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten S. und die Revision des Angeklagten N. werden verworfen.
3. Der Angeklagte N. hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat die Angeklagten des Mordes schuldig gesprochen. Gegen den Angeklagten S. hat es eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt und die Sicherungsverwahrung angeordnet; den Angeklagten N. hat es zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel des Angeklagten S. führt auf die Sachrüge zur Aufhebung des Maßregelausspruchs; im Übrigen ist es ebenso wie die Revision des Angeklagten N. unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 2
1. Die vom Landgericht auf § 66 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 StGB gestützte Unterbringung des Angeklagten S. in der Sicherungsverwahrung kann keinen Bestand haben; denn den Urteilsgründen sind die jeweils erforderlichen formellen Voraussetzungen der Maßregel nicht zu entnehmen.
Rz. 3
a) Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB setzt u. a. voraus, dass der Täter die neue Tat nach zwei vorangegangenen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von jeweils mindestens einem Jahr begangen hat (§ 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. In diese Frist der „Rückfallverjährung” wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist (§ 66 Abs. 4 Satz 3, 4 StGB).
Rz. 4
Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte u. a. wegen einer am 20. Juli 1999 begangenen Tat am 10. August 2001 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten und wegen einer Tat, die er am 21. September 2006 verübte, am 8. Februar 2007 zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, verurteilt wurde. Unter Berücksichtigung der im Strafvollzug verbrachten Zeit habe zwischen diesen beiden Taten ein Zeitraum von vier Jahren, elf Monaten und einem Tag und damit weniger als fünf Jahren gelegen; „Rückfallverjährung” nach § 66 Abs. 4 Satz 3, 4 StGB sei somit nicht eingetreten.
Rz. 5
Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand; denn bei der Berechnung des von Verwahrung freien Zeitraums nach § 66 Abs. 4 Satz 3 StGB kommt es auf den Zeitraum zwischen den einzelnen nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB relevanten, das heißt den zur Begründung der formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung in Betracht kommenden Vortaten, für die Einzelfreiheitsstrafen von mindestens einem Jahr verhängt worden sind, sowie auf die Frist zwischen der letzten relevanten Vortat und der abzuurteilenden neuen Straftat an (BGHSt 25, 106, 107; BGHR StGB § 66 Abs. 3 Satz 3 Fristberechnung 1; BGH, Beschl. vom 3. September 2008 – 5 StR 281/08; Fischer, StGB 57. Aufl. § 66 Rdn. 20; Sinn in SK-StGB § 66 Rdn. 9). Danach musste hier die Verurteilung vom 8. Februar 2007 außer Betracht bleiben. In dieser wurde eine Freiheitsstrafe von acht Monaten und damit weniger als einem Jahr verhängt; sie ist deshalb nicht geeignet, die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu erfüllen. Nach den bisherigen Feststellungen hätte das Landgericht vielmehr prüfen müssen, ob zwischen der Tat vom 20. Juli 1999 als letzter nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB relevanter Vortat und der neuen, am 1. April 2008 begangenen Straftat ein Zeitraum von fünf Jahren liegt, in welchem der Angeklagte sich nicht in behördlicher Verwahrung befand.
Rz. 6
b) Entsprechendes gilt, soweit die Strafkammer die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung auf § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB gestützt hat. Dies setzt u. a. wenigstens eine Vortat voraus, deretwegen der Angeklagte zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Die Regelungen der „Rückfallverjährung” nach § 66 Abs. 4 StGB gelten hier ebenfalls (Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl. § 66 Rdn. 62). Daraus folgt, dass für die Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren nur die nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB relevanten Vortaten sowie die neu abzuurteilende Tat maßgebend sind. Das Landgericht stellt indes lediglich auf eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen einer am 30. Dezember 1991 begangenen versuchten schweren räuberischen Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung ab und verweist für die Frage der „Rückfallverjährung” pauschal auf seine Ausführungen zu § 66 Abs. 1 StGB. Diesen lässt sich eine weitere, im Rahmen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB relevante Vortat nicht entnehmen. Das Landgericht hätte deshalb bei der Prüfung des § 66 Abs. 4 Satz 3, 4 StGB auf den Zeitraum zwischen der Tat vom 30. Dezember 1991 und der neuen Tat vom 1. April 2008 abstellen müssen.
Rz. 7
2. Die dargelegten Rechtsfehler nötigen zur Aufhebung des Maßregelausspruchs und zur Zurückverweisung der Sache in diesem Umfang. Eine eigene Sachentscheidung des Senats in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO kommt nicht in Betracht. Den allein maßgebenden Urteilsgründen lässt sich weder mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen, dass die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 oder Abs. 3 Satz 1 StGB vorliegen, noch dass dies nicht der Fall ist. Das Landgericht hat bei den Feststellungen zur Person zunächst pauschal mitgeteilt, der Angeklagte sei bereits 22 Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten. Sodann hat es indes lediglich einen geringen Teil der Vorverurteilungen geschildert. Bei seinen rechtlichen Erwägungen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung hat es teilweise auf Straftaten, Verurteilungen und Verbüßungszeiten abgestellt, die durch die bisherigen Feststellungen nicht belegt werden. Zudem wird auch bei Berücksichtigung dieser Ausführungen die angegebene Anzahl von 22 Vorverurteilungen bei weitem nicht erreicht. Insgesamt sind die Urteilsgründe somit lückenhaft und deshalb – auch in ihrem Gesamtzusammenhang – als Grundlage einer abschließenden Sachentscheidung nicht zureichend. Die Sache bedarf deswegen insoweit erneuter tatrichterlicher Überprüfung und Entscheidung.
Unterschriften
Becker, von Lienen, Sost-Scheible, Schäfer, Mayer
Fundstellen
Haufe-Index 2419860 |
NStZ-RR 2010, 308 |
StraFo 2010, 256 |