Tenor
Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Danach findet § 66b Abs. 3 StGB in den Fällen grundsätzlich keine Anwendung, in denen nach Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch eine zugleich mit deren Anordnung verhängte Freiheitsstrafe weiter zu vollstrecken ist.
Gründe
Rz. 1
Der 4. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden:
„Der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB steht nicht entgegen, dass der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist.”
Rz. 2
Da dies dem Senatsurteil vom 28. August 2007 – 1 StR 268/07 (= NJW 2008, 240) widerspricht, hat er gemäß § 132 Abs. 3 GVG angefragt, ob hieran festgehalten wird (Beschl. vom 5. Februar 2008 – 4 StR 314/07 und 4 StR 391/07).
Rz. 3
Der Senat hält trotz der im Anfragebeschluss aufgeführten gewichtigen Argumente an seiner Rechtsauffassung fest. Zusammenfassend und ergänzend bemerkt er:
Rz. 4
Der Senat teilt im Grundsatz die Ansicht des 4. Strafsenats, dass die in den Gesetzesmaterialien zu § 66b Abs. 3 StGB niedergelegten Vorstellungen im Gesetzeswortlaut keinen – eindeutig erkennbaren – Niederschlag gefunden haben; allerdings dürfte die Wendung „und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der Maßregel” in § 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB als Hinweis auf diese Vorstellungen zu verstehen sein (nachfolgend 1). Der Senat erachtet die Materialien im Hinblick auf die zu beurteilende Rechtsfrage weiterhin als eindeutig (nachfolgend 2) und als hier für die Auslegung ausschlaggebend (nachfolgend 3). Er stimmt der Auffassung zu, dass die Sperrwirkung der Absätze 1 und 2 von § 66b StGB gegenüber Absatz 3 zu Lücken im System der nachträglichen Sicherungsverwahrung führen kann. Diese sind jedoch vom Gesetzgeber in Kauf genommen worden (nachfolgend 4) und aufgrund der fragmentarischen Natur des Strafrechts und des Ultima-ratio-Charakters der – zumal nachträglichen – Sicherungsverwahrung hinzunehmen (nachfolgend 5).
Rz. 5
1. Im Gesetzeswortlaut finden sich keine zweifelsfreien unmittelbaren Anhaltspunkte dafür, dass § 66b Abs. 3 StGB dann nicht gelten soll, wenn nach der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch eine zugleich mit deren Anordnung verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Im Hinblick auf die Erwägungen im Anfragebeschluss zu der bei einer Entscheidung nach § 66b Abs. 3 StGB gebotenen Berücksichtigung von Erkenntnissen, die im Anschluss an den Maßregelvollzug im Strafvollzug angefallen sind (Rdn. 20), bemerkt der Senat in diesem Zusammenhang:
Rz. 6
§ 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB, wonach im Rahmen der für die Gefährlichkeitsprognose erforderlichen Gesamtwürdigung „ergänzend … (die) Entwicklung (des Verurteilten) während des Vollzugs der Maßregel” heranzuziehen ist, dürfte auf den gesetzgeberischen Willen hinweisen. Dieser ist dahin zu verstehen, dass § 66b Abs. 3 StGB nur dann Anwendung findet, wenn nach Erledigung der Maßregel (§ 67d Abs. 6 Satz 1 StGB) keine – zugleich mit deren Anordnung verhängte – Restfreiheitsstrafe mehr zu vollstrecken ist und somit der Verurteilte andernfalls in dieser Sache in die Freiheit entlassen werden müsste. § 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB nimmt im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose Bezug auf die Entwicklung während des Maßregelvollzugs, nicht dagegen auf eine mögliche anschließende Entwicklung während des Strafvollzugs. Es liegt aber nicht nahe, dass der Gesetzgeber einerseits zwar meint, eine Strafverbüßung nach Erledigung der Maßregel stehe der Anwendbarkeit von § 66b Abs. 3 StGB nicht entgegen, dass er andererseits jedoch Erkenntnisse, die im Anschluss an den Maßregelvollzug im Strafvollzug anfallen, nicht als – weitere – Grundlage der gebotenen Gesamtwürdigung für erwähnenswert hält. Dies gilt umso mehr, als § 66b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB im Hinblick auf die zu prognostizierende Gefährlichkeit des Verurteilten bestimmt, dass „ergänzend seine(…) Entwicklung während des Strafvollzugs” zu würdigen ist.
Rz. 7
2. Der Senat hält die im Senatsurteil vom 28. August 2007 – 1 StR 268/07 zitierte Passage in der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung (BTDrucks. 15/2887 S. 14) nicht für „unklar und damit ihrerseits auslegungsbedürftig” (Anfragebeschl. Rdn 16). Insbesondere ergibt sich dies nicht aus den Worten „zunächst” und „gegebenenfalls”. Denn diese lassen sich nach Auffassung des Senats nur dahin verstehen, dass sie ein abgestuftes Entscheidungsprogramm beschreiben: Ein Bedürfnis für nachträgliche Sicherungsverwahrung – hier nach § 66b Abs. 3 StGB – besteht daher „zunächst” nicht, wenn die Sicherung der Allgemeinheit dadurch gewährleistet ist, dass der Verurteilte nach der Erledigung der Maßregel nicht in die Freiheit, sondern in den Strafvollzug kommt. Erst wenn diese Fallgestaltung vorliegt, kann „gegebenenfalls”, nämlich wenn der Betroffene weiterhin in besonderem Maße gefährlich ist, vor Ende des Vollzugs – jetzt nach Maßgabe von § 66b Abs. 1 oder § 66b Abs. 2 StGB – nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet werden. Wollten die Gesetzesmaterialien dagegen zum Ausdruck bringen, dass die drei dort bezeichneten Fallgruppen (Schuldunfähigkeit sowie erheblich verminderte Schuldfähigkeit mit und ohne anschließende Reststrafenvollstreckung) unterschiedslos von § 66b Abs. 3 StGB erfasst sein sollten, hätten die zugleich gemachten differenzierten Ausführungen zu unterschiedlichen Vollstreckungskonstellationen keinen erkennbaren Sinn. Hinzu kommt, dass es auch schon zu Beginn der Ausführungen zu § 66b Abs. 3 StGB heißt, die Bestimmung sei für Fälle konzipiert, in denen besonders gefährliche Personen ohne die Möglichkeit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung – infolge der Erledigung – „in die Freiheit entlassen” werden müssten (aaO S. 13 f.).
Rz. 8
Die in Rede stehenden Gesetzesmaterialien beziehen sich auf sämtliche Absätze des – nicht nach und nach, sondern einheitlich – neu geschaffenen § 66b StGB. Deshalb teilt der Senat auch nicht die Sorge, bei den Ausführungen zu § 66b Abs. 3 StGB könnten die in derselben Drucksache kurz zuvor (aaO S. 11 ff.) eingehend behandelten – im Vergleich mit § 66b Abs. 3 StGB teilweise strengeren – Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 und 2 StGB „nicht im Blick” (Anfragebeschl. Rdn. 16) gewesen sein.
Rz. 9
3. Der Senat hält daran fest, dass es für die Auslegung des § 66b Abs. 3 StGB im Hinblick auf die zu beurteilende Rechtsfrage entscheidend auf die Gesetzesmaterialien ankommt.
Rz. 10
Die Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus der im weiteren Gesetzgebungsverfahren im Ergebnis nicht in Frage gestellten Begründung des Regierungsentwurfs ergibt, ist eine mit anderen gleichrangige Auslegungsmethode (vgl. hierzu Vogel, Juristische Methodik S. 129; Wank, Die Auslegung von Gesetzen 3. Aufl. S. 49 f.). Ein Auslegungskanon mit einer feststehenden Rangfolge der Auslegungsmethoden wird in der juristischen Methodenlehre heute ganz überwiegend nicht mehr vertreten (vgl. Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens S. 375 ff.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung S. 192 ff.). Vielmehr sind die Auslegungsmethoden für jede auszulegende Gesetzesnorm einerseits nach ihrer Nähe zum Normtext, andererseits nach der Stichhaltigkeit der konkreten einzelnen Argumente zu gewichten (vgl. Christensen/Kudlich aaO S. 377 ff.).
Rz. 11
Die Auslegung anhand des aus der Entstehungsgeschichte eines Gesetzes zu erschließenden Willens des Gesetzgebers ist der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht fremd (vgl. BGHZ 46, 74, 80 m. Nachw.; ferner Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht S. 258 ff. m. weit. Nachw. aus der Rspr.). Diese Auslegungsmethode könnte auch angewendet werden, wenn der Gesetzeswortlaut keinen Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers enthält. Insoweit verweist der Senat auf die – ähnlich wie das in Rede stehende Senatsurteil mit der Schwere der Rechtsfolge begründete – Rechtsprechung zur einschränkenden Auslegung von § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB in der Fassung des Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (6. StrRG) vom 26. Januar 1998 (BGBl I 164) im Hinblick auf nach dem äußeren Erscheinungsbild offensichtlich ungefährliche Scheinwaffen (vgl. BGH, Urt. vom 18. Januar 2007 – 4 StR 394/06 = JR 2007, 379 m. insoweit zust. Anm. Kudlich). Diese Entscheidung ist auf einen „Auslegungshinweis” in den Gesetzesmaterialien gestützt, obwohl – wie in jenem Urteil im Einzelnen dargelegt – der aus diesem Hinweis ersichtliche Wille des Gesetzgebers keinen deutlichen Niederschlag im Gesetzeswortlaut gefunden hat und er auch mit dem gesetzlichen System „nur schwervereinbar” ist (BGH aaO).
Rz. 12
Im Rahmen der Auslegung ist dem Willen des Gesetzgebers ein umso größeres Gewicht beizumessen, je jünger die auszulegende Norm ist (vgl. Wank aaO S. 49 f.; im Ergebnis ebenso Eser in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 1 Rdn. 41 ff.; a.A. – ohne Berücksichtigung der Bedeutung eines größeren oder geringeren Zeitablaufs – Zschieschack/Rau in ihrer Anmerkung zum Senatsurt. vom 28. August 2007 – 1 StR 268/07, zur Veröffentlichung in Heft 4/2008 der JR vorgesehen).
Rz. 13
Bei dem Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I 1838) handelt es sich um ein vergleichsweise junges Gesetz, das – auch im Hinblick auf § 67d Abs. 6 und § 66b Abs. 3 StGB – den (vorläufigen) Schlusspunkt einer jahrelang kontrovers geführten rechtspolitischen Diskussion markierte (vgl. Ullenbruch in MünchKomm-StGB § 66b Rdn. 9 ff.). Dementsprechend umfangreich und detailliert ist bereits der Gesetzesentwurf der Bundesregierung (BTDrucks. 15/2887) begründet. Auch die Einschränkung formaler Voraussetzungen für die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist dabei im Gesetzgebungsverfahren bewusst gewählt worden, um – wie es von Verfassungs wegen geboten ist – sicher zu stellen, dass sie auf seltene Einzelfälle begrenzt bleibt (vgl. BGHSt 51, 25, 27 m.w.N.).
Rz. 14
Nach alledem hält der Senat auch nach nochmaliger Überprüfung daran fest, dass die Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers hier ausschlaggebend ist. Hiernach kommt die Fassung, die § 66b Abs. 3 StGB erhalten hat, fast schon einem gesetzgeberischen Redaktionsversehen gleich, das nach Auffassung des Senats nicht Grundlage für eine derart beschwerende Maßnahme wie nachträgliche Sicherungsverwahrung sein kann.
Rz. 15
4. Allerdings kann es dann, wenn die Anwendung von § 66b Abs. 3 StGB wegen im Anschluss an die Erledigung zu vollstreckender Restfreiheitsstrafe ausgeschlossen ist (Sperrwirkung von § 66b Abs. 1 und 2 StGB gegenüber § 66b Abs. 3 StGB), zu Lücken im System der nachträglichen Sicherungsverwahrung kommen. In den Fällen, in denen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf einen Zustand im Sinne von § 21 StGB gestützt war, ist eine Anordnung nach § 66b Abs. 3 StGB zumeist ausgeschlossen (Anfragebeschl. Rdn. 18); dessen Anwendbarkeit könnte von bloßen „Zufälligkeiten” im Vollstreckungsverfahren, etwa Änderungen der Vollstreckungsreihenfolge, abhängig sein (aaO Rdn. 19).
Rz. 16
Es versteht sich aber schon nicht von selbst, dass der Ablauf des Vollstreckungsverfahrens von „Zufälligkeiten” abhängt, da es seinerseits gesetzlichen Regeln folgt. Dem braucht hier aber nicht näher nachgegangen zu werden. Jedenfalls waren die aufgezeigten Lücken dem Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Gesetzes bekannt.
Rz. 17
Er war sich nämlich bewusst, dass in den Fällen, in denen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf einen Zustand im Sinne von § 21 StGB gestützt war, § 66b Abs. 3 StGB – in aller Regel – nur bei „Umkehrung der regelmäßigen Vollstreckungsreihenfolge (§ 67 Abs. 1 und 2 StGB)” anwendbar ist (BTDrucks. 15/2887 S. 14; Unterstreichung hier vorgenommen). Außerdem hatte der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich auf die mögliche Bedeutung von „Zufälligkeiten des Vollstreckungsverfahrens” für § 66b Abs. 3 StGB hingewiesen (BRDrucks. 202/04 [Beschluss] S. 4). Das aufgezeigte Bedenken blieb im Ergebnis ohne Einfluss, nachdem die Bundesregierung auch dieses als durch den dann in Kraft getretenen Gesetzesentwurf – „auf der Basis der vorgeschlagenen Vorschrift nebst ihrer Begründung” – „schlüssig beantwortet” bezeichnet hat (BTDrucks. 15/2945 S. 5; Unterstreichung hier vorgenommen).
Rz. 18
Schließlich mag auch dahinstehen, ob der Auffassung zu folgen ist, ein Wertungswiderspruch bestehe darin, dass Verurteilte, die bei der Anlasstat ohne Schuld gehandelt hätten, schlechter gestellt seien als Verurteilte, die durch die Tat (große) Schuld auf sich geladen hätten (Anfragebeschl. Rdn. 19). Hiergegen könnte sprechen, dass die Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 und 2 StGB gegenüber denjenigen des § 66b Abs. 3 StGB nicht durchgehend strenger sind; so ermöglicht Absatz 2 – anders als Absatz 3 – die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch dann, wenn der Verurteilte nur eine Anlasstat begangen hatte.
Rz. 19
5. Soweit in den in Rede stehenden Fallgestaltungen nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht in Betracht kommt, ist dies nämlich aufgrund der fragmentarischen Natur des Strafrechts (vgl. Roxin, Strafrecht AT I 4. Aufl. S. 45) und insbesondere des Ultima-ratio-Charakters der – zumal nachträglichen – Sicherungsverwahrung (vgl. nur BGH NStZ 2005, 88, 89) hinzunehmen. Die fragmentarische Natur des Strafrechts betrifft nach Auffassung des Senats nicht nur die in den Straftatbeständen kodifizierten Verhaltensnormen, sondern ebenso – an zusätzliche „tatbestandliche” Voraussetzungen anknüpfende – Sanktionsnormen.
Rz. 20
Es entspricht der fragmentarischen Natur des Strafrechts, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nur von einer qualifizierten Gefährlichkeitsprognose allein, sondern darüber hinaus – wie auch in § 66b StGB detailliert geregelt – von vertypten formalen Kriterien abhängig ist. Sind diese vom Gesetzgeber zu bestimmenden – und gegebenenfalls von ihm zu ändernden – Kriterien nicht erfüllt, fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage, um Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen.
Unterschriften
Nack, Wahl, Kolz, Elf, Graf
Fundstellen
Haufe-Index 2564161 |
JR 2008, 255 |
ZAP 2009, 62 |
BewHi 2008, 406 |
StRR 2008, 202 |
R&P 2008, 175 |