Verfahrensgang
LG Aachen (Urteil vom 02.12.2014) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 2. Dezember 2014, soweit er verurteilt worden ist, mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an das Landgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt; von dem Vorwurf weiterer vier Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern hat es den Angeklagten freigesprochen.
Rz. 2
Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
I.
Rz. 3
1. Nach den Feststellungen verbrachte die zur Tatzeit sechs Jahre alte Geschädigte jeweils ein Wochenende im April und im Mai 2014 gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder bei dem Angeklagten, ihrem Stiefvater. In jeweils einer Nacht zog der Angeklagte, der mit beiden Kindern auf einem Schlafsofa im Wohnzimmer schlief, der Geschädigten Schlafanzughose und Unterhose aus, streichelte sie zwischen den Beinen im Bereich der Scheide, streckte ihre angewinkelten Beine aus und rieb seinen Penis zwischen den Oberschenkeln des Kindes bis zum Samenerguss.
Rz. 4
2. Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten. Das Landgericht hat seine Überzeugung im Wesentlichen auf die Aussage der Geschädigten gestützt, die es mit Hinweis auf Detailreichtum und aussageübergreifende Konstanz ihrer Angaben für glaubhaft erachtete. Von dem Vorwurf von vier weiteren sexuellen Übergriffen hat es den Angeklagten freigesprochen, weil die Angaben des Kindes zur Häufigkeit der Übergriffe nicht als verlässlich erschienen.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 5
Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Sie ist lückenhaft.
Rz. 6
1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., vgl. Senat, Urteil vom 22. Oktober 2014 – 2 StR 92/14, NStZ-RR 2015, 52).
Rz. 7
Beruht die Überzeugung des Gerichts von der Täterschaft des Angeklagten allein auf der Aussage eines Belastungszeugen, ohne dass weitere belastende Indizien vorliegen, so sind an die Überzeugungsbildung des Tatrichters strenge Anforderungen zu stellen. Die Urteilsgründe müssen in Fallkonstellationen der genannten Art erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159). Insbesondere die Aussage des Zeugen selbst ist einer sorgfältigen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen (vgl. BGH, a.a.O., S. 158). Macht der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung in einem wesentlichen Punkt von früheren Tatschilderungen abweichende Angaben, so muss sich der Tatrichter mit diesem Umstand auseinandersetzen und regelmäßig darlegen, dass und aus welchem Grund insoweit keine bewusst falschen Angaben vorgelegen haben (BGH, Urteil vom 17. November 1998 – 1 StR 450/98, BGHSt 44, 256, 257). Darüber hinaus ist es in Fallkonstellationen, in denen die Angaben des einzigen Belastungszeugen in der Hauptverhandlung in wesentlichen Teilen von seinen früheren Angaben abweichen, geboten, jedenfalls die entscheidenden Teile seiner Aussagen in den Urteilsgründen wiederzugeben, da dem Revisionsgericht ohne Kenntnis des wesentlichen Aussageinhalts ansonsten die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung nach den oben aufgezeigten Maßstäben verwehrt ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2011 – 1 StR 114/11, NStZ 2012, 110, 111; Beschluss vom 24. April 2014 – 5 StR 113/14, NStZ-RR 2014, 219).
Rz. 8
2. Diesen besonderen Darlegungsanforderungen wird das angegriffene Urteil nicht in vollem Umfange gerecht.
Rz. 9
a) Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten im Wesentlichen auf die Angaben der zum Tatzeitpunkt sechs, zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung sieben Jahre alten Zeugin und auf die Annahme der Konstanz ihrer Angaben gestützt. Die Beweiserwägungen zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin sind jedoch in mehrfacher Hinsicht lückenhaft.
Rz. 10
aa) Es fehlt schon an einer aus sich heraus verständlichen, zusammenhängenden Darstellung der Aussage der Zeugin in der Hauptverhandlung, die eine Überprüfung der Aussagequalität und der Aussagekonstanz sowie eine Auseinandersetzung mit den festgestellten, auch das Kerngeschehen betreffenden Abweichungen durch das Revisionsgericht ermöglicht.
Rz. 11
Zwar hat die Strafkammer im Rahmen der von ihr vorgenommenen Glaubhaftigkeitsprüfung dargelegt, dass die Zeugin „sich als ihrem Alter entsprechend aussagetüchtig gezeigt” habe und grundsätzlich fähig sei, Ereignisse adäquat wahrzunehmen, sich daran zu erinnern und darüber zu berichten; Schwächen seien vorhanden, soweit die Häufigkeit von Vorfällen oder deren zeitliche Einordnung in Frage stehe. Deshalb sei dem Umstand, dass die Zeugin ursprünglich abweichende Angaben zur Häufigkeit der Vorfälle gemacht und von einer größeren Zahl von Übergriffen gesprochen habe, als Teil ihrer zeitlichen Einordnungsschwäche anzusehen und daher unbedenklich; gleiches gelte für die unterschiedlichen Angaben zum Ort der Übergriffe, weil die Zeugin die aktuelle Wohnung des Angeklagten „letztlich auch als alleinigen Ort entsprechender Begebenheiten konkretisierte” (UA S. 15).
Rz. 12
Ob diese vom Landgericht angestellte Würdigung der unterschiedlichen Angaben der Zeugin mit der Annahme von Aussagekonstanz vereinbar ist, kann in Ermangelung einer geschlossenen Wiedergabe ihrer wesentlichen Angaben in der Hauptverhandlung nicht überprüft werden.
Rz. 13
bb) Das Landgericht hat nicht übersehen, dass die Zeugin die sexuellen Übergriffe zunächst eher stereotyp dahin umschrieben hatte, dass sie nicht mehr zum Papa wolle, weil der „immer Sex mit ihr mache”, und dass sie zunächst berichtet hatte, der Angeklagte habe sich jeweils auf sie gelegt, „seinen Pipimann unten in sie reingesteckt” und sie habe dabei Schmerzen verspürt. Soweit das Landgericht ihre späteren, hiervon deutlich abweichenden und mit dem Kriterium der Konstanz schwerlich zu vereinbarenden Bekundungen in der Hauptverhandlung, wonach der Angeklagte mit seinem Gesicht ihr zugewandt den „Schenkelverkehr” jeweils bis zum Samenerguss vollzogen habe, mit dem Hinweis darauf zu relativieren suchte, diese unterschiedlichen Darstellungen des Kerngeschehens beruhten auf dem „unterschiedlichen Vernehmungsformat” (UA S. 28) und auf dem erkennbaren Unbehagen der Zeugin, überhaupt über die Geschehnisse zu sprechen, lässt sich auch dies in Ermangelung der zusammenhängenden Wiedergabe ihrer Bekundungen in der Hauptverhandlung und in den früheren Vernehmungen nicht nachvollziehen.
Rz. 14
Gleiches gilt für die Bewertung des Landgerichts, dass die unterschiedlichen Schilderungen unter Berücksichtigung des kindlichen Alters und der fehlenden Sexualkenntnisse der Zeugin ohne Weiteres miteinander vereinbar seien.
Rz. 15
cc) Schließlich erscheinen auch die Feststellungen und Erwägungen zur Aussageentstehung, die für die Bewertung kindlicher Zeugenaussagen von besonderer Bedeutung sind (vgl. BGH, Beschluss vom 24. April 2014 – 5 StR 113/14, NStZ-RR 2014, 219), als lückenhaft. Das Landgericht hat zwar gesehen, dass die Mutter der Zeugin von einer durch die Schwester des leiblichen Vaters der Zeugin im Jahr 2005 erstatteten Strafanzeige gegen den Angeklagten wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs ihrer Tochter wusste, dass sie in Kontakt mit der damaligen Anzeigeerstatterin stand und dass sie die Zeugin nach der erstmaligen Offenbarung der Geschehnisse durch sie zu der Frauenärztin brachte, die auch in dem damaligen Missbrauchsfall involviert war. Das Landgericht hat diesen Besonderheiten jede Beweisbedeutung mit dem Hinweis darauf abgesprochen, dass Anhaltspunkte für eine bewusste Falschbelastung fehlten. Es hat jedoch in diesem Zusammenhang nicht erkennbar erwogen, ob Anhaltspunkte für eine suggestive Beeinflussung des Kindes durch ihre Mutter bestehen, die den Inhalt ihrer Zeugenaussage beeinflusst haben kann.
Rz. 16
3. Das Urteil beruht auf diesen Darlegungsmängeln. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat sieht Anlass zu dem Hinweis, dass der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter in Ansehung der Besonderheiten des Einzelfalls die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens zu erwägen haben wird.
Unterschriften
Eschelbach, Franke, Ott, Zeng, Bartel
Fundstellen
Haufe-Index 8889013 |
NStZ-RR 2016, 329 |
NStZ-RR 2016, 87 |