Verfahrensgang
LG Magdeburg (Urteil vom 01.04.2014) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 1. April 2014 wird
- das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall II. 1. der Urteilsgründe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,
- das vorgenannte Urteil im Übrigen mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Von sechs weiteren Tatvorwürfen zum Nachteil desselben Tatopfers und 17 Tatvorwürfen zum Nachteil von dessen Schwester hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die Revision des Angeklagten führt in einem Fall zur Einstellung des Verfahrens und hat im Übrigen mit der Sachrüge Erfolg.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde die Nebenklägerin an einem Tag vor Weihnachten 2008 von ihrer Mutter in die elterliche Wohnung geschickt, um einen Schlüssel zu holen. Der Angeklagte, ihr Stiefvater, verbot ihr, die Wohnung wieder zu verlassen und schickte sie ins Bett. Er trat dann an ihr Bett, streichelte sie und berührte sie unter der Kleidung an den Brüsten und der Vagina (Fall II. 1. der Urteilsgründe). An einem Tag nach dem 21. Mai 2009 bis kurz nach ihrem 14. Geburtstag am 29. August 2009 betrat der Angeklagte nachts nackt ihr Zimmer und streichelte die Nebenklägerin am gesamten unbekleideten Körper. Er legte sich auf sie und vollzog den Geschlechtsverkehr. Plötzlich öffnete die Mitangeklagte – die Mutter der Nebenklägerin – die Kinderzimmertür, sah den Angeklagten mit ihrer Tochter und fragte sinngemäß: „Hat es Spaß gemacht?”, drehte sich um und schloss die Tür (Fall II. 2. der Urteilsgründe). Die Nebenklägerin war enttäuscht, dass ihre Mutter nichts unternahm.
Rz. 3
Von dem Vorwurf, die Nebenklägerin in der zweiten Nacht, die sie in der Ehewohnung in der I.straße in S. verbracht habe, am ganzen Körper gestreichelt zu haben (Fall 18 der Anklage), vom Vorwurf, in vier weiteren Fällen mit ihr den Geschlechtsverkehr ausgeübt zu haben (Fälle 20, 21, 23 und 24 der Anklage) und von dem Vorwurf, sie in der Wohnung ihrer Großmutter in Sc. gestreichelt und ihre Hand an seinen Penis geführt zu haben (Fall 25 der Anklage), hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen, weil „die Angaben der Nebenklägerin sehr knapp und ohne jeweilige Geschehensstruktur” gewesen seien und auch die von der Polizei protokollierten Angaben nicht hätten bestätigt werden können. Die Strafkammer habe nicht feststellen können, ob bekundete Details Teil der ausgeurteilten Taten waren oder nur mehrfach berichtet wurden oder bei einer weiteren Tat vorlagen.
Rz. 4
2. Hinsichtlich der unter II. 1. der Urteilsgründe abgeurteilten Straftat fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung der Anklageerhebung.
Rz. 5
Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage vom 11. Januar 2012 wurde dem Angeklagten unter Ziffer 19 vorgeworfen, im Januar 2008 die Nebenklägerin (erneut) in ihrem Kinderzimmer aufgesucht und am gesamten Körper gestreichelt zu haben, insbesondere an der Brust und am Geschlechtsteil. Darüber hinaus habe der Angeklagte verlangt, dass die Nebenklägerin ihn ebenfalls, insbesondere am Geschlechtsteil streichele, was sie auch getan habe.
Rz. 6
Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 264 Rn. 2 mwN). Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens, das die Anklage umschreibt, so kommt es darauf an, ob die „Nämlichkeit der Tat” trotz der Abweichungen noch gewahrt ist. Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann der Fall, wenn bestimmte individuelle Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 2010 – 3 StR 559/09 Rn. 6 mwN).
Rz. 7
Nach diesem Maßstab ist die Tat II. 1. der Urteilsgründe nicht Gegenstand der Anklage. Die vom Landgericht ausgeurteilte Tat ist durch besondere Umstände – Schlüssel holen – gekennzeichnet, die in der Anklageschrift nicht aufgeführt sind. Nach den Urteilsfeststellungen soll es sich bei der ausgeurteilten Tat auch um den ersten Übergriff gegen die Nebenklägerin gehandelt haben, mit dem die Tatserie des Angeklagten zu ihrem Nachteil begonnen habe, während es sich bei der in der Anklage geschilderten Tat um einen zweiten, gleichförmigen Vorfall gehandelt haben soll. Das Landgericht stellt hierzu fest, dass die Nebenklägerin „die unter II. 1. festgestellte Tat” bei ihrer ersten polizeilichen Vernehmung am 2. Juni 2011 nicht geschildert habe, aber im Nachhinein beim Sachverständigen und auch in der Hauptverhandlung (UA 16). Die Exploration durch den Sachverständigen, bei der die Nebenklägerin die ausgeurteilte Tat danach erstmals geschildert hat, fand am 5. September 2012 statt, also fast neun Monate nach der Anklageerhebung, die auf der ersten polizeilichen Aussage der Nebenklägerin basiert (UA 8). Mithin war die ausgeurteilte Tat von der Anklage nicht umfasst. Eine die Tat einbeziehende Nachtragsanklage ist nicht erhoben worden. Das Verfahren ist insoweit wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen.
Rz. 8
3. Die Verurteilung im Fall II. 2. der Urteilsgründe hat keinen Bestand. Die Beweiswürdigung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 9
Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tathergang und der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten im Wesentlichen auf die Aussage der Nebenklägerin gestützt, die es bezüglich weiterer Fälle allerdings als nicht ausreichend für eine Verurteilung bewertet hat. Es ist zudem von der Einschätzung des aussagepsychologischen Sachverständigen abgewichen, der die Erlebnisbezogenheit der Angaben der Nebenklägerin insgesamt in Frage gestellt hat. Die Urteilsgründe genügen den besonderen, an diese Beweiskonstellation zu stellenden Anforderungen nicht (vgl. BGH, Urteil vom 27. März 2003 – 1 StR 524/02, StV 2003, 486; Urteil vom 1. April 2009 – 2 StR 601/08, NStZ 2009, 571; Beschluss vom 24. Februar 2011 – 4 StR 488/10; Beschluss vom 22. Mai 2012 – 5 StR 15/12, NStZ-RR 2012, 287, 288).
Rz. 10
a) Zwar ist das Tatgericht nicht gehalten, einem Sachverständigen zu folgen. Kommt es aber zu einem anderen Ergebnis, so muss es sich konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen, dass es über das bessere Fachwissen verfügt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 2012 – 5 StR 181/12, NStZ 2013, 55, 56 mwN). Der Sachverständige hat hier die Unwahrhypothese nicht sicher widerlegen können, weil die Geschädigte nicht ausschließbar ein „Hassgefühl” gegen den Angeklagten entwickelt habe bzw. der Bestrafungswunsch bei ihr so groß gewesen sei, dass eine Trennung der Familie aus ihrer Sicht nicht ausreichend gewesen sei. Es könne sich eine „Autosuggestion” eingestellt haben, dass sich der Angeklagte trotz des Auszugs der Mutter wiederum überwiegend bei dieser aufhalten werde. Sie könne deshalb das Gefühl gehabt haben, dem durch die Angaben vorbeugen zu müssen. Dieses Falschbelastungsmotiv hat die Strafkammer nicht ausgeräumt. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb es zum Erreichen einer wahrheitswidrigen Bestrafung ausgereicht hätte, wenn „M. ihre[n] Darstellungen bei der Anzeigenerstattung, während des Verfahrens und bei ihrer Vernehmung vom 20.3.2013… Taten hinzugefügt oder bereits geschildert[e] ausgeschmückt hätte”. Diese Würdigung setzt inzident voraus, dass Taten tatsächlich stattgefunden haben. Damit ist die Frage, ob die Nebenklägerin bei der Anzeigenerstattung insgesamt wahrheitswidrige Angaben gemacht, Taten hinzugefügt oder ausgeschmückt hat, nicht beantwortet. Dass die Geschädigte bei der Vernehmung in der Hauptverhandlung nur noch äußerst wenige Taten wiedergegeben hat, kann nicht nur, wie die Strafkammer annimmt, auf einem fehlenden Falschbelastungsmotiv beruhen, sondern auch auf ihren festgestellten eingeschränkten geistigen Fähigkeiten. Soweit die Strafkammer damit argumentiert, dass M. gegenüber ihrer Mutter trotz deren Nichteinschreitens nicht von Hassgefühlen beherrscht werde, setzt dieses Argument voraus, dass sich die unter II. 2. festgestellte Tat so zugetragen hat, wie von der Nebenklägerin geschildert.
Rz. 11
b) Die Aussage der Nebenklägerin weist nach der Einschätzung des Sachverständigen erhebliche Mängel auf. Ihre intellektuellen Leistungsvoraussetzungen liegen im Grenzbereich zwischen Lernbehinderung und leichter geistiger Behinderung. Auch zeigt sie Symptome einer Störung des Sozialverhaltens. Der Tatrichter hätte unter diesen Umständen in den Urteilsgründen näher darlegen müssen, was die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung und bei früheren Vernehmungen ausgesagt hat, um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Beweiswürdigung, insbesondere der Aussagekonstanz, zu ermöglichen. Darüber hinaus verhält sich das Urteil nicht zur Erinnerungsfähigkeit der Nebenklägerin. Insbesondere fällt auf, dass diese etwa zweieinhalb Jahre nach den Taten bei der Polizei acht Vorfälle geschildert hat – dabei nicht den unter II. 1. ausgeurteilten –, bei der Exploration durch den Sachverständigen ein Jahr später und in der Hauptverhandlung aber keine Abgrenzung zwischen den einzelnen Tatvorwürfen mehr vornehmen konnte.
Rz. 12
c) Schließlich fehlt auch jede Auseinandersetzung mit der Frage, warum die Mitangeklagte – ihre Mutter – die Nebenklägerin bereits zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung für eine „Lügnerin” hielt (UA 16). Da die Mitangeklagte den sexuellen Missbrauch nach den Feststellungen mit eigenen Augen gesehen hat, hätte es hierfür einer Erklärung bedurft.
Rz. 13
d) Angesichts der schwierigen Beweissituation hätte der Tatrichter nicht offen lassen dürfen, ob die Nebenklägerin und ihre Schwester bereits früher einmal einen Jungen zu Unrecht einer Vergewaltigung beschuldigt haben, wie es der Zeuge H. bekundet hat. Die Strafkammer hätte aufklären müssen, ob tatsächlich aufgrund der Angaben der beiden Mädchen ein Junge aus dem Kinderheim in die Psychiatrie gekommen ist und ob sich gegebenenfalls die Beschuldigung als zutreffend erwiesen hat.
Rz. 14
4. Die Sache bedarf daher im Umfang der von der Verfahrenseinstellung nicht erfassten Verurteilung der Verhandlung und Entscheidung durch einen neuen Tatrichter.
Unterschriften
Sost-Scheible, Roggenbuck, Cierniak, Franke, Mutzbauer
Fundstellen
Haufe-Index 7566233 |
NStZ-RR 2015, 82 |
NStZ-RR 2016, 334 |
StV 2015, 675 |