Verfahrensgang
LG Bad Kreuznach (Urteil vom 07.03.2002) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach vom 7. März 2002 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt; von den Vorwürfen zweier weiterer Vergewaltigungen hat es ihn freigesprochen. Seine gegen diese Verurteilung eingelegte Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält, soweit sie die Glaubhaftigkeit der den Angeklagten belastenden Aussagen der Nebenklägerin betrifft, rechtlicher Überprüfung im Ergebnis nicht stand.
a) Das Landgericht hat zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der belastenden Aussagen der Nebenklägerin ausgeführt, die Kammer verkenne nicht, daß in den verschiedenen Aussagen – bei zweimaligen Vernehmungen durch die Polizei, bei der Exploration durch die Psychologin M.-B. und in der Hauptverhandlung – „Abweichungen vorhanden sind, welche die zeitliche Einordnung, die Reihenfolge und auch die Anzahl der Taten sowie einzelne Details der Tatumstände betreffen” (UA S. 32); die „Erinnerungslücken” beruhen jedoch nach Ansicht des Landgerichts auf dem psychologisch bekannten Phänomen der Verdrängung traumatischer Erlebnisse (UA S. 33). Diese Erwägungen sind nicht frei von Rechtsfehlern. Die Abweichungen in den im Urteil wiedergegebenen Aussagen der Nebenklägerin betreffen nicht nur Details der Tatumstände, sondern das Kerngeschehen. Ihre Kennzeichnung als „Erinnerungslücken” ist nicht zutreffend, denn die Nebenklägerin hat jeweils durchaus detaillierte Aussagen gemacht, die zahlreiche individualisierende Einzelheiten enthielten; es handelte sich daher, worauf die Revision zutreffend hinweist, im wesentlichen nicht um lückenhafte, sondern um einander widersprechende Schilderungen.
So hat die Nebenklägerin etwa in ihrer polizeilichen Aussage berichtet, sie habe bei einer Gelegenheit in der Küche der Wohnung auf ihre Freundin gewartet, während der Angeklagte im Wohnzimmer schlief. Durch ein von ihr verursachtes Geräusch sei er erwacht; er habe sie ins Wohnzimmer gezogen und auf der dort stehenden Couch vergewaltigt. In der Hauptverhandlung hat die Nebenklägerin ausgesagt, sie selbst habe sich ins Wohnzimmer begeben, um dort einen Stuhl zu holen. Hierbei habe sie ein Geräusch verursacht, durch das der Angeklagte erwacht sei. Er habe sie in die Küche gebracht und dort gezwungen, ihn manuell zu befriedigen. Ähnliche Abweichungen zeigt die Wiedergabe anderer Vorfälle, von welchen die Nebenklägerin teilweise deutlich voneinander abweichende, aber jeweils detaillierte Schilderungen, namentlich der Nötigungshandlungen, gegeben hat. Der Vergleich der im Urteil wiedergegebenen Aussagen trägt die Würdigung des Landgerichts nicht, diese seien „im Kern konstant” (UA S. 32).
Daher erscheint auch die hieran anknüpfende Erwägung nicht rechtsfehlerfrei, die „Erinnerungslücken” der Nebenklägerin beruhten auf dem „psychologisch bekannten Phänomen” der Verdrängung traumatischer Erlebnisse (UA S. 33). Es mag dahinstehen, ob dieser Würdigung der von der Revision angegriffene Zirkelschluß zugrunde liegt. Voraussetzung für die grundsätzlich zulässige Erwägung, daß im Hinblick auf mögliche psychische Verdrängungsmechanismen Lücken der Erinnerung der Glaubhaftigkeit einer Aussage nicht entgegenstehen müssen, wäre jedenfalls, daß sich gerade in der Aussage dieser Zeugin tragfähige Anhaltspunkte für das Vorliegen solcher Verdrängungen fanden. Dies kann aber nicht schon daraus geschlossen werden, daß die Zeugin sich widersprechende detaillierte Angaben gemacht hat. So hat sie etwa die Vergewaltigung in dem Gartenhaus des Angeklagten bei allen Befragungen – wenngleich zeitlich und im Ablauf abweichend – detailliert und mit Einzelheiten auch zum Randgeschehen beschrieben. Zumindest bei der Exploration durch die Sachverständige hat sie, gleichfalls in Einzelheiten, von einer zweiten Vergewaltigung in dem Gartenhaus berichtet, an welche sie sich aber in der Hauptverhandlung nicht erinnerte (UA S. 29). Aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht, aus welchen Gründen das vom Landgericht angenommene Verdrängungs-Phänomen gerade bezüglich dieser zweiten Tat, hinsichtlich derer das Landgericht den Angeklagten freigesprochen hat, wirksam geworden ist, ohne die detaillierte Erinnerung an die erste, dem Schuldspruch zugrundegelegte Tat zu berühren.
b) Bedenken begegnet im Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe auch die Erwägung des Landgerichts, eine Falschbelastung sei auszuschließen, weil die Nebenklägerin „eine offene und ehrliche Persönlichkeit” sei (UA S. 31 f.). Einer solchen allgemeinen Charakterisierung eines Zeugen muß, wie das Landgericht grundsätzlich zutreffend gesehen hat, der Umstand nicht entgegenstehen, daß er in einzelnen Punkten die Unwahrheit gesagt hat. Soweit sich als erwiesen angesehene Unwahrheiten auf tatnahe oder auf solche Umstände beziehen, welche in engem Zusammenhang mit als glaubhaft angesehenen Bekundungen des Zeugen stehen, bedarf freilich die Annahme, daß sie die Glaubhaftigkeit anderer Bekundungen nicht in Frage stellen, einer in sich widerspruchsfreien sorgfältigen Begründung.
Das Landgericht hat festgestellt, daß die Nebenklägerin mehrfach zu Unrecht ihren früheren Freund P. beschuldigt hat, sie vergewaltigt zu haben. Das Landgericht hält diese Beschuldigungen für ebenso unwahr wie frühere Schilderungen der Nebenklägerin gegenüber Freundinnen, mit P. überhaupt (freiwillig) geschlechtlich verkehrt zu haben. Die Urteilsgründe führen aus, die Nebenklägerin habe gegenüber dem Arzt und dem Sozialarbeiter ihrer Schule den Zeugen P. fälschlich als Täter einer Vergewaltigung bezeichnet, weil sie aus Angst und Scham den Angeklagten nicht nennen wollte und sich „bewußt war, daß sowohl der Sozialarbeiter als auch der Arzt zur Verschwiegenheit verpflichtet waren, so daß die Gefahr einer Strafverfolgung des (Zeugen P.) nicht bestand” (UA S. 31). Diese Erwägung bleibt unklar, denn die Verschwiegenheitspflicht des Arztes betraf sowohl den P. als auch den Angeklagten; der Sozialarbeiter hatte andererseits in keinem von beiden Fällen eine Schweigepflicht, derer sich die Nebenklägerin hätte bewußt sein können. Ob die genannte Begründung auf einer (hypothetischen) Schlußfolgerung des Landgerichts oder auf Ergebnissen der Hauptverhandlung beruht, ergibt sich wiederum aus den Urteilsgründen nicht.
Hinsichtlich früheren Geschlechtsverkehrs mit dem Zeugen P. hat die Nebenklägerin ausgesagt, sie habe dies nur erfunden und Schwangerschaftstests allein deshalb durchgeführt, um gegenüber ihren Freundinnen auf sexuelle Erlebnisse verweisen zu können. Das Landgericht sieht dies bestätigt durch die Aussage des Zeugen P., der sich in der Hauptverhandlung nicht zu erinnern vermochte, ob er jemals mit der – damals 13-jährigen – Nebenklägerin Geschlechtsverkehr hatte, jedoch bestätigte, im Oktober 2000 bei der Polizei ausgesagt zu haben, er habe mit der Nebenklägerin nicht geschlechtlich verkehrt, weil diese noch zu jung gewesen sei. Welchen Anlaß die Nebenklägerin hatte, aus dem von ihr angegebenen Motiv Schwangerschaftstests zu erwerben, und ob beim Aussageverhalten des Zeugen P. die Kenntnis der Strafvorschrift des § 176 StGB eine Rolle gespielt haben könnte, ist im Urteil nicht erörtert.
Beide Erwägungen des Landgerichts zeigen daher jedenfalls Lücken; die Würdigung, die Unwahrheit der früheren Belastung des Zeugen P. durch die Nebenklägerin stehe der Glaubhaftigkeit ihrer späteren Belastung des Angeklagten nicht entgegen, wird durch sie nicht getragen.
2. Die Erörterung des Gutachtens der Sachverständigen M.-B. ist unzureichend. Insoweit fehlt schon eine Wiedergabe des wesentlichen Gutachtensinhalts, welche dem Senat eine Nachprüfung ermöglichen würde. Die Urteilsgründe beschränken sich auf eine sieben Zeilen umfassende Wiedergabe eines von der Sachverständigen dargelegten allgemeinen „Persönlichkeitsbilds” (UA S. 30) sowie auf die Mitteilung, die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Nebenklägerin durch die Kammer stehe „in Einklang mit den Darlegungen der Sachverständigen” (UA S. 39). Insoweit sind einige „Hypothesen” aufgezählt, welche die Sachverständige geprüft habe, u.a. die Hypothese, die Nebenklägerin sei von dem Zeugen P. vergewaltigt worden, sowie die Hypothese, die Nebenklägerin könne tatsächlich stattgefundene Mißbrauchs-Taten des Angeklagten nachträglich als Vergewaltigungen dargestellt haben. Die Aufzählung dieser Hypothesen mündet in die Feststellung, daß „alle Hypothesen (…) aus den bereits dargelegten Gründen, die von der Sachverständigen gleichfalls vertreten werden, keine Bestätigung (finden)” (UA S. 39).
Hieraus ergibt sich weder, ob und inwieweit sich die Sachverständige bei ihren Darlegungen im Rahmen des zulässigen Gutachtensauftrags gehalten hat, noch, ob das Landgericht selbst diese Grenzen zutreffend erkannt hat. Die „dargelegten Gründe”, auf welche das Landgericht verweist, bestehen überwiegend aus der Wiedergabe und Würdigung der Aussagen anderer Beweispersonen; darauf, ob die Sachverständige diese Würdigungen „vertreten hat”, kann es daher nicht ankommen. Mit welchen Mitteln die Sachverständige die (hypothetische) Möglichkeit abweichender Geschehensabläufe „geprüft” und aufgrund welcher ihrem Fachgebiet eigenen Methoden sie festgestellt haben könnte, daß diese Möglichkeiten auszuschließen sind, ergibt sich aus dem Urteil nicht. Dies betrifft insbesondere auch die Abgrenzung zwischen denkbaren Mißbrauchs-Taten nach § 182 StGB und sexuellen Nötigungen nach § 177 StGB. Gerade im Hinblick auf die festgestellten Nötigungshandlungen weisen die im Urteil wiedergegebenen verschiedenen Aussagen der Nebenklägerin deutliche Abweichungen auf; es wäre daher eine Darlegung im einzelnen erforderlich gewesen, aufgrund welcher Erwägungen die Sachverständige und dieser folgend das Landgericht jeweils zur Feststellung bestimmter Nötigungsmittel gelangt ist, zumal die Sachverständige die Möglichkeit, es könne sich bei allen oder einzelnen der abgeurteilten Taten (nur) um Mißbrauchshandlungen gehandelt haben, ausdrücklich geprüft hat.
Eine psychologische Glaubwürdigkeitsbegutachtung vermag im übrigen die Beweiswürdigung durch den Tatrichter nicht zu ersetzen. Widersprüche oder Unklarheiten des Beweisergebnisses können umgekehrt nicht mit kursorischen Hinweisen auf vom Sachverständigen bekundete allgemeine psychologische Grunderkenntnisse beiseite geschoben werden, welche ebensogut für ein anderes Ergebnis zitiert werden könnten. So ist namentlich ein allgemeiner Hinweis auf das – außerordentlich vielgestaltige und in der Fachliteratur intensiv diskutierte – Phänomen der „Verdrängung” in der Regel nicht geeignet, bestimmte Beweisergebnisse zu tragen; die Zitierung eher alltagspsychologischer Erkenntnisse bedarf, wenn sie nicht die Gefahr praktisch beliebiger Ergebnisse nach sich ziehen soll, einer sorgfältigen Überprüfung im Einzelfall. Hieran fehlt es im angefochtenen Urteil. Der allgemeine Hinweis der Sachverständigen auf ein „nicht selten erlebtes Verdrängungsphänomen” (UA S. 39) erklärt weder, ob noch warum dieses Phänomen hier in der vom Landgericht angenommenen ausschnittartigen Wirkung vorgelegen hat.
Der im Urteil wiedergegebene Inhalt des Gutachtens erweist sich daher schon aus sachlich-rechtlichen Gründen als rechtsfehlerhaft. Daher kann die Begründetheit der Verfahrensrüge, mit welcher sich die Revision gegen die Zurückweisung eines Antrags auf Vernehmung eines anderen Sachverständigen im Hinblick auf Mängel des Gutachtens wendet, hier dahinstehen. Der neue Tatrichter wird die Frage zu prüfen haben, ob die Beiziehung eines anderen Sachverständigen geboten ist.
Unterschriften
Rissing-van Saan, Detter, Otten, Rothfuß, Fischer
Fundstellen
Haufe-Index 2559586 |
NStZ 2003, 276 |
NStZ-RR 2003, 16 |
StV 2003, 656 |