Leitsatz (amtlich)
Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Zweifel i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich um eine zweite - wenn auch eingeschränkte - Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls besteht (Anschluss an BGH, Beschl. v. 21.3.2018 - VII ZR 170/17, BauR 2018, 1162 = NZBau 2018, 349; Beschl. v. 11.10.2016 - VIII ZR 300/15, NJW-RR 2017, 75; Urt. v. 29.6.2016 - VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015).
Normenkette
ZPO § 286 Abs. 1, § 529 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 13.02.2017; Aktenzeichen 13 U 3187/16) |
LG München I (Urteil vom 01.07.2016; Aktenzeichen 41 O 18959/14) |
Tenor
Der Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision wird stattgegeben.
Der Beschluss des 13. Zivilsenats des OLG München vom 13.2.2017 wird gem. § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 128.316 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die Klägerin macht als Versicherer der V. GmbH & Co. KG aus übergeleitetem Recht gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen eines Wasserschadens in einer Werkshalle geltend, der durch die mangelhafte Verlegung eines Kühlwasserschlauches einer Maschine entstanden sein soll.
Rz. 2
Unter dem 4.11.2010 beauftragte die V. GmbH & Co. KG die Beklagte mit HLS-Arbeiten in ihrer Werkshalle zu einer Vergütung von netto 127.690,45 EUR. Im Zuge dieser Arbeiten führte die Beklagte den Anschluss eines Kühlwasservorlaufschlauchs an das Temperier-Gerät der RTM-Presse aus.
Rz. 3
Am 3.4.2013 kam es zu einem Leitungswasserschaden in der Werkshalle. Der Kühlwasservorlaufschlauch des an der RTM-Presse befindlichen Temperier-Geräts hatte sich gelöst. Durch die Ablösung des Kühlwasserschlauchs traten erhebliche Mengen Leitungswasser aus, was zu einer Überschwemmung des Bodens in den Fertigungsbereichen führte und die RTM-Presse beschädigte. Auf dieser Grundlage begehrt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von 128.316 EUR nebst Zinsen.
Rz. 4
Das LG hat ein schriftliches Sachverständigengutachten zu der Frage der Ursächlichkeit der Ablösung des Kühlwasserschlauches eingeholt und den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört. Auf dieser Grundlage hat das LG die Klage abgewiesen, da die Klägerin eine mangelhafte Leistung der Beklagten beim Anschluss des Kühlwasserschlauchs an das Temperier-Gerät der RTM-Presse nicht habe beweisen können.
Rz. 5
Die gegen das landgerichtliche Urteil von der Klägerin eingelegte Berufung hat das Berufungsgericht mit Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde, mit der sie nach Zulassung der Revision die antragsgemäße Verurteilung der Beklagten erreichen möchte.
II.
Rz. 6
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision führt gem. § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Rz. 7
1. Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt: Die Berufungsinstanz diene primär der Rechtsfehlerkontrolle. Sei die Tatsachenfeststellung bzw. die Beweiswürdigung der ersten Instanz als solche rechts-fehlerfrei, könne diese in der Berufungsinstanz grundsätzlich nicht mit Erfolg angegriffen werden. Die Klägerin ersetze in der Berufungsbegründung im Wesentlichen nur die landgerichtliche Überzeugungsbildung durch ihre eigene. Das begründe aber keinen Rechtsfehler. Der bloße Wunsch der Klägerin, das Berufungsgericht möge die Beweise und den Sachvortrag der Parteien anders würdigen, begründe keinen Rechtsfehler, der vom Berufungsgericht zu korrigieren wäre.
Rz. 8
2. Mit dieser Begründung hat das Berufungsgericht, wie die Beschwerde zu Recht rügt, den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt, da es die Ausführungen der Klägerin in der Berufungsbegründung zur Beweiswürdigung des LG nur eingeschränkt in die Bewertung der Erfolgsaussichten der Berufung einbezogen hat.
Rz. 9
a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Berücksichtigt das Berufungsgericht den Vortrag in der Berufungsbegründung aus rechtlichen Erwägungen nur eingeschränkt, verstößt dies gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn die rechtlichen Überlegungen des Berufungsgerichtes im Prozessrecht keine Stütze finden.
Rz. 10
b) So liegt es hier. Die Klägerin hat mit ihrer Berufungsbegründung dargelegt, welche Umstände die Beweiswürdigung des LG in Frage stellen und deshalb beantragt, das landgerichtliche Urteil abzuändern und der Klage stattzugeben. Diesen Vortrag hat das Berufungsgericht tragend nur unter dem Gesichtspunkt in seine Erwägungen einbezogen, ob damit Rechtsfehler in der Beweiswürdigung des LG zutreffend gerügt sind. Damit hat das Berufungsgericht den Prüfungsmaßstab von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundlegend verkannt und die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung unter Einbeziehung der Argumente der Berufungsbegründung unterlassen.
Rz. 11
aa) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO). Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Derartige konkrete Anhaltspunkte können sich u.a. aus dem Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften auch aus dem Vortrag der Parteien in der Berufungsinstanz ergeben. Zweifel i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt (BGH, Beschl. v. 21.3.2018 - VII ZR 170/17 Rz. 15 m.w.N., BauR 2018, 1162 = NZBau 2018, 349). Bei der Berufungsinstanz handelt es sich daher um eine zweite - wenn auch eingeschränkte - Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls besteht (BGH, Urt. v. 29.6.2016 - VIII ZR 191/15 Rz. 26 NJW 2016, 3015). Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen (BGH, Beschl. v. 11.10.2016 - VIII ZR 300/15 Rz. 24 NJW-RR 2017, 75).
Rz. 12
bb) Diesen Prüfungsmaßstab hat das Berufungsgericht grundlegend verkannt. Das Berufungsgericht hat in seinem die Berufung zurückweisenden Beschluss vom 13.2.2017 die mit der Berufungsbegründung von der Klägerin gegen die Beweiswürdigung vorgetragenen Erwägungen tragend nur unter dem Ansatz geprüft, ob dem LG Rechtsfehler unterlaufen sind. Das Berufungsgericht hat mehrfach ausgeführt, die Berufungsbegründung "ersetze ... nur die gerichtliche Überzeugungsbildung durch ihre eigene". Das könne aber einen Rechtsfehler nicht begründen. Zwar hat das Berufungsgericht im Beschluss über die Zurückweisung der Berufung auf Seite 3 unten ausgeführt, die Argumentation der Klägerin überzeuge nicht. Auf Seite 4 des Beschlusses über die Zurückweisung der Berufung führt das Berufungsgericht aber sodann aus, es sei jedenfalls "nicht rechtsfehlerhaft", wenn das LG gleichwohl zu dem Ergebnis seiner Beweiswürdigung gekommen sei.
Rz. 13
c) Auf diesem Verfahrensverstoß beruht die angefochtene Entscheidung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei Anwendung des zutreffenden Maßstabes von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
III.
Rz. 14
Die Zurückverweisung und neue Verhandlung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, die nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebotene Prüfung der Beweiswürdigung des landgerichtlichen Urteils nachzuholen und ggf. die für die Beurteilung der Verjährungseinrede der Beklagten notwendigen Feststellungen zu treffen.
Fundstellen