Verfahrensgang
LG Nürnberg-Fürth (Urteil vom 07.06.2019) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 7. Juni 2019 im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in neun Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und in weiteren sieben Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, darunter in einem Fall in weiterer Tateinheit mit Herstellen kinderpornographischer Schriften, wegen Herstellens kinderpornographischer Schriften in zwei Fällen und wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie Einziehungsentscheidungen getroffen. Zudem hat es die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt, erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Der Ausspruch über den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung (§ 66a Abs. 1 StGB) hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Denn das Landgericht hat rechtsfehlerhaft die formellen Voraussetzungen für die Anordnung dieser Maßregel nach § 66a Abs. 1 Nr. 2, § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB auf eine Vorstrafe gestützt, die es tatsächlich nicht hätte heranziehen dürfen (dazu unter a). Dies wirkt sich auf die erforderliche tatrichterliche Gesamtwürdigung zum wahrscheinlichen Vorliegen eines Hangs aus. Das Beruhen des Maßregelausspruchs auf dem Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO) ist nicht dadurch auszuschließen, dass die formellen Voraussetzungen nach § 66a Abs. 1 Nr. 2, § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB von den Feststellungen getragen werden. Denn zu einer darauf fußenden eigenen Gesamtwürdigung ist der Senat nicht befugt (dazu unter b). Im Einzelnen:
Rz. 3
a) Das Landgericht hat zur Begründung der formellen Voraussetzungen gemäß § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB auf eine Vorverurteilung vom 15. August 1995 abgestellt, mit welcher der Angeklagte wegen Raubes, wegen räuberischer Erpressung in vier Fällen, wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit sexueller Nötigung (§ 178 StGB aF), wegen Körperverletzung und wegen Nötigung unter Einbeziehung einer anderweitig verhängten Jugendstrafe zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt worden war. Dabei lag dem Sexualdelikt ein am 9. März 1995 erzwungener Analverkehr zu Lasten eines 17jährigen zugrunde.
Rz. 4
Eine Einheitsjugendstrafe unterfällt jedoch nur dann dem Tatbestandsmerkmal „schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist”, wenn zu erkennen ist, dass wegen der Katalogtat eine Jugendstrafe von drei Jahren verhängt worden wäre, sofern sie als Einzeltat abgeurteilt worden wäre, oder wenn die Jugendstrafe nur Katalogtaten zum Gegenstand hat (BGH, Urteil vom 25. November 2005 – 2 StR 272/05 Rn. 30, BGHSt 50, 284, 293 f.; Beschluss vom 3. November 2015 – 4 StR 309/15; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 66 Rn. 35a; BeckOK StGB/Ziegler, 44. Ed., § 66 Rn. 24; SSW-StGB/Harrendorf, 4. Aufl., § 66 Rn. 42; vgl. auch BGH, Urteil vom 25. April 2019 – 4 StR 478/18 Rn. 22 [zu § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB]). Feststellungen zu den Strafzumessungserwägungen der Vorverurteilung hat das Landgericht nicht getroffen (vgl. dazu BGH, Urteile vom 25. April 2019 – 4 StR 478/18 Rn. 22 und vom 24. November 2011 – 4 StR 331/11 Rn. 8). Dass der Richter des Vorverfahrens den geahndeten Vergehen als Nichtkatalogtaten bei Bildung der Jugendstrafe von genau drei Jahren überhaupt kein Gewicht beigemessen hatte, ist nicht ersichtlich.
Rz. 5
b) Zwar sind – worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat – die formellen Voraussetzungen für die Anordnung des Vorbehalts der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1, § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB gegeben: Der Angeklagte ist wegen zweier der verfahrensgegenständlichen Taten, nämlich wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (insbesondere Oralverkehr zu Lasten seines drei- bis siebenjährigen Sohnes; § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB), jeweils zu einer Einzelfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden.
Rz. 6
Indes erfordern andere formelle Voraussetzungen hier eine neue tatrichterliche Gesamtwürdigung zum wahrscheinlichen Vorliegen eines Hangs. Ob ein Hang im Sinne eines eingeschliffenen inneren Zustands festzustellen ist, der den Täter immer wieder neue Straften begehen lässt, bedarf einer umfassenden, alle bedeutsamen, für und gegen eine wahrscheinliche Hangtäterschaft sprechende Umstände einbeziehenden Vergangenheitsbetrachtung durch das Tatgericht (BGH, Beschlüsse vom 22. Mai 2019 – 4 StR 34/19 Rn. 7 und vom 19. Juli 2017 – 4 StR 245/17, BGHR StGB § 66a Abs. 1 Nr. 3 nF Voraussetzung 1 Rn. 7; Urteil vom 31. Juli 2019 – 2 StR 132/19 Rn. 13). Dass diese Wertung nach Austausch der formellen Voraussetzungen nicht in der Revisionsinstanz ersetzt werden kann, ergibt sich in der hier vorliegenden Konstellation insbesondere aus zwei Gründen:
Rz. 7
aa) Die Würdigung, ob der Täter dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist, aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, oder willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag, bedarf u.a. in den Fällen des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB besonderer Sorgfalt, weil Vortaten und Vorverbüßungen fehlen (BGH, Urteile vom 29. November 2018 – 3 StR 300/18 Rn. 6 und vom 15. Februar 2011 – 1 StR 645/10 Rn. 7; Beschlüsse vom 2. August 2011 – 3 StR 208/11 Rn. 5 und vom 30. März 2010 – 3 StR 69/10 Rn. 6). Diesen Anforderungen kann die bisherige Wertung nicht genügen. Freilich sind die Taten, die der Vorverurteilung vom 15. August 1995 zugrunde liegen, in die umfassende Vergangenheitsbetrachtung einzustellen. Da ihnen aber, wie ausgeführt, nicht die Qualität von vor den hier verfahrensgegenständlichen Anlasstaten begangenen Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB zukommt, können sie nicht das ihnen vom Landgericht zugemessene Gewicht haben. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es die Anlasstaten ohne eine der Vorschrift des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB unterfallende Vorstrafe hätte würdigen müssen.
Rz. 8
bb) Zudem zeigt gerade der Umstand, dass das Landgericht einen Hang nicht sicher feststellen konnte (§ 261 StPO), dass seine Gesamtwürdigung mit Unwägbarkeiten behaftet ist. Auch auf die Annahme einer diesbezüglichen Wahrscheinlichkeit kann sich das Zugrundelegen anderer formeller Voraussetzungen mithin auswirken.
Rz. 9
2. Darüber hinaus ist die Begründung des Hangs (UA S. 53) und der Gefahrenprognose (UA S. 55) mit der hier pauschal verwendeten Bezeichnung „Analverkehr” in Bezug auf die hier verfahrensgegenständlichen Taten auch deswegen nicht frei von Bedenken, weil ein Eindringen nicht festgestellt ist. Der Senat besorgt, dass das Landgericht seine eigene Relativierung (UA S. 53 f.: „ein Eindringen nicht zu vollen Überzeugung feststellen konnte”) aus dem Blick verloren haben könnte.
Rz. 10
3. Es ist nicht auszuschließen, dass die Feststellungen zur Persönlichkeit des Angeklagten von den Wertungsfehlern betroffen sind; sie sind daher mitaufzuheben (§ 353 Abs. 2 StPO). Der gegenwärtige Zustand des Angeklagten bedarf nach alledem der umfassenden neuen tatrichterlichen Aufklärung und Bewertung.
Unterschriften
Jäger, Bellay, Bär, Leplow, Pernice
Fundstellen
Haufe-Index 13626726 |
NStZ-RR 2020, 74 |
StV 2020, 663 |