Entscheidungsstichwort (Thema)
Geiselnahme
Tenor
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 13. Juli 2001 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen „gemeinschaftlicher Geiselnahme” zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Rechtsmittel haben mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Mit Recht beanstanden alle Angeklagten (wobei die entsprechende Rüge des Angeklagten C. dem Gesamtzusammenhang der Ausführungen unter Ziffer III. auf den letzten vier Seiten der Revisionsrechtfertigung zu entnehmen ist), daß das Landgericht ihren Beweisantrag auf Vernehmung der Zeugin M. mit rechtsfehlerhafter Begründung zurückgewiesen hat. Dem liegt folgendes zugrunde:
Das Landgericht hat die Verurteilung der Angeklagten auf die Feststellung gestützt, diese hätten den Zeugen R. vom 1. bis 5. November 2000 in einer Wohnung in Belgien gefangen gehalten, um ungestört die Einnahmen aus einer Veranstaltung vom 4./5. November in der Diskothek „…” in P. an sich bringen zu können, die der Zeuge R. zusammen mit dem Angeklagten B. betrieb. Seine Überzeugung, daß die entsprechende Aussage des Zeugen R. der Wahrheit entsprach, hat das Landgericht unter anderem darauf gestützt, daß der Zeuge vor seiner Fahrt nach Belgien am 31. Oktober 2000 seinen Hund zu seiner Bekannten M. gebracht habe mit der Ankündigung, er werde das Tier im Laufe des Abends oder spätestens am nächsten Tag abholen (UA S. 24), sich dann aber bis zu seiner Rückkehr nach P. am späten Abend des 5. November 2000 nicht um das Tier gekümmert habe. Dem liegt eine entsprechende Aussage der Mutter des Zeugen R. zugrunde (UA S. 71).
Die Angeklagten haben demgegenüber behauptet, der Zeuge R. habe sich während des gesamten genannten Zeitraums freiwillig in Belgien aufgehalten, um sich dort vor Privatgläubigern verborgen zu halten, die angekündigt hätten, am 4./5. November 2000 in die Diskothek zu kommen und dort ihr Geld abzuholen. Im Hauptverhandlungstermin vom 9. Juli 2001 hat der Verteidiger des Angeklagten C. beantragt, die M. als Zeugin zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, daß ihr der Zeuge R. vor seiner Reise nach Belgien seinen Hund brachte und dabei erklärte, daß er einige Tage in Belgien bleiben wolle. Diesem Antrag haben sich die Verteidiger der anderen Angeklagten angeschlossen. Das Landgericht hat den Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, es handele sich um einen „Beweisermittlungsantrag ins Blaue hinein”. Denn die Beweisaufnahme habe insbesondere auch durch die Vernehmung des Zeugen K. ergeben, daß die Zeugin M. als eine der ersten irritiert nach dem Verbleib des Zeugen R. geforscht habe, wozu sie keinen Anlaß gehabt hätte, wenn er sich bei ihr für mehrere Tage abgemeldet hätte.
Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Zwar trifft es zu, daß einem in die Form eines Beweisantrags gekleideten Beweisbegehren ausnahmsweise nicht oder allenfalls nach Maßgabe der Aufklärungspflicht nachgegangen werden muß, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung aufs Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellt wurde, so daß es sich in Wahrheit nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt (BGH NStZ 1993, 143, 144; NJW 1997, 2762, 2764 jew. m.w.N.). Dies ist jedoch nicht schon dann der Fall, wenn die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Beweisbehauptung ergeben hat (BGH NJW 1983, 126, 127). Vielmehr kann hiervon etwa erst dann ausgegangen werden, wenn das bisherige Beweisergebnis, die Akten und der Antrag keinerlei Verknüpfung des Beweisthemas mit dem benannten Beweismittel erkennen lassen, so daß jeder Anhalt dafür fehlt, daß das Beweismittel überhaupt etwas zur Klärung der Beweisbehauptung beitragen kann (BGH NStZ 1993, 143, 144; zur fehlenden Konnexität vgl. auch BGHSt 43, 321, 329 ff.), oder wenn beispielsweise eine Mehrzahl neutraler Zeugen eine Tatsache übereinstimmend bekundet hat und, ohne Beleg für entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte, das Gegenteil in das Wissen eines weiteren, völlig neu benannten Zeugen gestellt wird, dessen Zuverlässigkeit offensichtlichen Zweifeln begegnet (BGH NJW 1997, 2762, 2764).
Danach durfte der Antrag auf Vernehmung der Zeugin M. nicht mit der vom Landgericht gegebenen Begründung zurückgewiesen werden. Es ist offensichtlich, daß die Zeugin M. am verläßlichsten dazu Auskunft geben konnte, was ihr der Zeuge R. bei Übergabe seines Hundes über die Dauer seines bevorstehenden Aufenthalts in Belgien erklärte. Demgegenüber konnte der Zeuge K. (wie auch sonstige zu diesem Punkt gehörte Zeugen) nur über Wahrnehmungen berichten, aus denen lediglich mittelbar Schlüsse darauf gezogen werden konnten, für welche Zeitspanne der Zeuge R. der Zeugin M. seinen Hund in Obhut gegeben hatte. Das Landgericht durfte daher nicht allein deswegen von der Beweiserhebung durch das sachnähere Beweismittel – die Zeugin M. – absehen, weil das Ergebnis bereits erhobener sachfernerer Beweise für die Unrichtigkeit der in das Wissen der Zeugin M. gestellten Beweisbehauptung sprach. Dabei war auch zu beachten, daß es den Angeklagten nicht verwehrt war, mit dem Mittel des Beweisantrags auch solche Tatsachen unter Beweis zu stellen, die sie nur für möglich hielten (BGH NStZ 1993, 143, 144 m.w.N.).
Das angefochtene Urteil beruht auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrages. Das Landgericht hat dem Umstand, daß der Zeuge R. seinen Hund der Zeugin M. für allenfalls einen Tag übergab, maßgebliche Indizwirkung für die Richtigkeit der Aussage des Zeugen R. beigemessen, er sei gegen seinen Willen mehrere Tage in Belgien festgehalten worden. Der Senat kann daher nicht ausschließen, daß das Landgericht zu einer abweichenden Überzeugungsbildung gelangt wäre, wenn es den beantragten Beweis erhoben und sich dabei die Beweisbehauptung bestätigt hätte.
Da die Rechtsmittel schon aus diesem Grunde Erfolg haben, bedarf es keines näheren Eingehens auf die Verfahrensrügen, die beanstanden, das Landgericht habe auch die Anträge auf Vernehmung der Zeugen T., Ö. und Ki. rechtsfehlerhaft abgelehnt. Jedoch weist der Senat darauf hin, daß auch hier das Verfahren des Landgerichts rechtlichen Bedenken unterliegt. Soweit es die Anträge als „ins Blaue gestellte” Beweisermittlungsanträge behandelt hat, gelten obige Ausführungen entsprechend. Soweit es die Ablehnung der Anträge (auch) darauf stützt, daß die Beweiserhebung aus tatsächlichen Gründen für die Entscheidung ohne Bedeutung sei, begründet es dies teils gar nicht, teils wird die Begründung den bestehenden Anforderungen nicht gerecht (vgl. hierzu Herdegen in KK 4. Aufl. § 244 Rdn. 75 m.w.N.). Zu der Rüge des Angeklagten B., das Landgericht habe es unterlassen, hinsichtlich des Zeugen Cl. eine audiovisuelle Vernehmung nach § 247 a Satz 1 Halbs. 2, § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO zu erwägen, wird auf die Entscheidungen BGHSt 45, 188 und BGH NStZ 2000, 385 hingewiesen.
Im übrigen gibt die Urteilsformel Anlaß zu dem Hinweis, daß sich die Kennzeichnung der Tat als „gemeinschaftlich” im Tenor erübrigt (BGHSt 27, 287, 289).
Sollte die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer die gleichen Feststellungen treffen wie das angefochtene Urteil, wird sie eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubes (§ 239 a StGB) in Betracht zu ziehen haben.
Unterschriften
VRiBGH Tolksdorf ist urlaubsbedingt ortsabwesend und deshalb an der Unterschrift gehindert. Rissing-van Saan, Miebach, Rissing-van Saan, von Lienen, Becker
Fundstellen
Haufe-Index 707048 |
NStZ 2002, 383 |
ZAP 2002, 385 |
DAR 2003, 301 |
StV 2002, 233 |