Verfahrensgang
LG Chemnitz (Urteil vom 27.10.2016) |
Tenor
Auf die Revision des Betroffenen wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 27. Oktober 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat nachträglich die Unterbringung des Betroffenen in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision beanstandet der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Rz. 2
1. Der bereits zuvor mehrfach wegen Gewaltdelikten vorbestrafte Betroffene war vom Landgericht Chemnitz mit Urteil vom 24. Juni 1993 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit versuchter Nötigung unter Einbeziehung einer Strafe aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden; die Einzelstrafen für die beiden Anknüpfungstaten betrugen drei Jahre sowie drei Jahre und sechs Monate. Die Strafvollstreckung war am 3. Januar 2000 erledigt.
Rz. 3
Mit Urteil vom 18. Januar 2001 verurteilte ihn das Landgericht Chemnitz wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die Maßregel wurde in der Zeit vom 17. April 2001 bis zum 10. Februar 2016 – mehrfach unterbrochen durch die Verbüßung von Freiheitsstrafen aus anderen Verurteilungen – vollstreckt. Mit Beschluss vom 27. Januar 2016 erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Chemnitz die angeordnete Unterbringung des Betroffenen aus dem Urteil vom 18. Januar 2001 gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB für erledigt und stellte fest, dass die zugleich mit der Maßregel erkannte Freiheitsstrafe vollstreckt sei. Nach einer weiteren Vollstreckung von Restfreiheitsstrafen aus anderen Verurteilungen ist der Betroffene seit dem 24. Juli 2016 vorläufig aufgrund eines Unterbringungsbefehls des Landgerichts Chemnitz gemäß § 275a Abs. 6 StPO untergebracht.
Rz. 4
2. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in einem Altfall, wie er hier zur Entscheidung stand, bereits zulässig sei, wenn die Voraussetzungen des § 66b Abs. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl. I S. 1838) gegeben seien. Es hat die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 3 Nr. 1 Var. 2 StGB als erfüllt angesehen und zur Gefährlichkeitsprognose ausgeführt, dass der Betroffene, bei dem eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vorliege, „mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch und körperlich schwer geschädigt werden, § 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB”.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 5
Das Landgericht hat damit seiner Entscheidung einen unzutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt. Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift unter anderem ausgeführt:
Die Strafkammer hat übersehen, dass gemäß § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB diese Anordnung nur zulässig ist, wenn die hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Darüber hinaus ist für die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK Voraussetzung, dass der Betroffene an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert es, hinsichtlich beider Elemente der Gefährlichkeitsprognose – der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung – einen gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengeren Maßstab anzulegen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 2016 – 2 StR 4/16 mwN; vgl. auch BVerfG [Kammer], Beschluss vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2759/12).
Diese gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben hat die Strafkammer nicht (vollständig) beachtet. (…) Die Urteilsbegründung genügt nicht den Anforderungen an die gesteigerten Prognoseerfordernisse.
Der restriktive Begriff der hochgradigen Gefahr dient dazu, eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung zu gewährleisten. Demselben Ziel dient auch die Vorgabe, dass diese Gefahr aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Denn diese Forderung zwingt das Gericht zu einer äußerst sorgfältigen, auf konkrete Tatsachen gestützten Bewertung und Begründung. Entscheidend für die Gesamtwürdigung muss sein, die Wahrscheinlichkeit und die Schwere der drohenden Straftaten so aufeinander zu beziehen, dass die Anordnung oder Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf die prekärsten Fälle begrenzt wird (Jehle/Harrendorf in SSW-StGB, 3. Aufl., § 66b Rdnr. 24 mwN).
Es kann nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass bei einer tatgerichtlichen Beurteilung in Kenntnis des weiter eingeschränkten Maßstabes die Strafkammer bei ihrer Ermessensentscheidung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Rz. 6
Dem schließt sich der Senat an. Er verweist zur Notwendigkeit von Feststellungen zu einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThuG als dem hier heranzuziehenden Prüfungsmaßstab auf die Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 15. September 2011 und 7. Mai 2013 (2 BvR 1516/11 und 2 BvR 1238/12, jeweils zu Fällen einer „dissozialen Persönlichkeitsstörung”; vgl. auch EGMR, Entscheidung vom 28. November 2013 – 7345/12; BGH, Urteil vom 21. Juni 2011 – 5 StR 52/11, BGHSt 56, 254, 261; KG, Beschluss vom 4. März 2015 – 2 Ws 27/15).
Unterschriften
Mutzbauer, Sander, Schneider, Berger, Mosbacher
Fundstellen
Haufe-Index 10682322 |
NStZ 2017, 526 |
NStZ-RR 2017, 6 |
StV 2018, 366 |
RPsych 2017, 524 |