Verfahrensgang
LG Aachen (Entscheidung vom 15.05.2023; Aktenzeichen 60 KLs 5/21) |
Nachgehend
Tenor
1. Dem Angeklagten K. wird nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 15. Mai 2023 auf seinen Antrag und auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
2. Auf die Revision des Angeklagten K. wird das vorbezeichnete Urteil, soweit es ihn betrifft und er verurteilt ist,
a) im Schuldspruch im Fall II. 4. der Urteilsgründe dahin geändert, dass er des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Cannabis schuldig ist, und
b) mit der Maßgabe aufgehoben, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe, die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen nach den §§ 460, 462 StPO zu treffen ist.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „gemeinschaftlicher“ gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 18. Dezember 2018 zu einer (ersten) Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten und wegen „unerlaubten“ Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 9. November 2020 und unter Auflösung der durch Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 21. September 2021 gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Darüber hinaus hat es festgestellt, dass es zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gekommen ist.
Rz. 2
Gegen dieses Urteil richtet sich die mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision des Angeklagten; zugleich beantragt er die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Revisionsbegründungsfrist. Das Rechtsmittel hat - nach Gewährung der Wiedereinsetzung - den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet.
Rz. 3
1. Die auf die Revision des Angeklagten veranlasste Nachprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch im Fall II. 1. der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben. Hingegen führt sie aufgrund des Inkrafttretens des Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 27. März 2024 (BGBl. I Nr. 109) zur Neufassung des Schuldspruchs im Fall II. 4. der Urteilsgründe.
Rz. 4
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts im Fall II. 4. der Urteilsgründe bewahrte der Angeklagte am 16. Juli 2020 neben 10 Ecstasy-Tabletten in einer Stahlkassette 110,98 Gramm Amphetaminpaste mit einer Wirkstoffmenge von 29,9 Gramm Amphetaminbase im Kühlschrank seiner Wohnung auf. In der Wohnung seiner Lebensgefährtin verfügte er über 22,66 Gramm Marihuana mit einer Wirkstoffmenge von 3,99 Gramm THC. Die Betäubungsmittel und das Marihuana waren zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt.
Rz. 5
b) Mit Blick darauf, dass der Angeklagte neben Marihuana auch mit Amphetaminbase in nicht geringer Menge Handel trieb, bleibt der Tatvorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge bestehen. Soweit der Angeklagte darüber hinaus auch Marihuana zum Gewinn bringenden Weiterverkauf aufbewahrte, tritt der Tatbestand des nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG verbotenen Handeltreibens mit Cannabis (§ 1 Nr. 4, § 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG) tateinheitlich hinzu (§ 2 Abs. 3 StGB). Denn der geringere Schuldgehalt von Taten nach dem Konsumcannabisgesetz lässt grundsätzlich Raum für eine geringere Bestrafung. § 265 StPO steht der Schuldspruchänderung nicht entgegen, da sich der Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.
Rz. 6
c) Der Strafausspruch im Fall II. 4. der Urteilsgründe kann bestehen bleiben. Es ist auszuschließen, dass das Landgericht bei Berücksichtigung der gesetzlichen Neuregelung eine für den Angeklagten günstigere Einzelfreiheitsstrafe verhängt hätte. Das Landgericht hat die Strafe für diesen Fall § 29a Abs. 2 BtMG entnommen. Sowohl bei der Prüfung des Vorliegens eines minder schweren Falls nach § 29a Abs. 2 BtMG als auch bei der konkreten Strafzumessung hat die Strafkammer explizit berücksichtigt, dass es sich bei dem sichergestellten Marihuana „nicht um eine harte Droge“ handelt. Darüber hinaus überschritt allein die Handelsmenge an Amphetaminbase die nicht geringe Menge um etwa das Dreifache.
Rz. 7
2. Die beiden von der Strafkammer verhängten Gesamtstrafen halten indes der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift u.a. ausgeführt:
„Anhand der Urteilsgründe lässt sich […] nicht nachvollziehen, welchen der (zahlreichen) gegen den Angeklagten ergangenen Vorverurteilungen gesamtstrafenrechtlich Zäsurwirkung zukommt. Im Einzelnen:
a) Die erste Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten hat das Landgericht durch Einbeziehung „der Freiheitsstrafe“ aus dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 18. Dezember 2018 […] gebildet. Dabei hat es bereits übersehen, dass es sich bei der vom Amtsgericht verhängten Strafe um eine Gesamtstrafe handelt […], die die Strafkammer hätte auflösen müssen.
Vor allem hätte es jedoch näherer Feststellungen zum Vollstreckungsstand der bereits zuvor im Strafbefehl des Amtsgerichts Aachen vom 7. August 2018 […] verhängten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 5,00 Euro bedurft […]. In dem - unwahrscheinlichen - Fall, dass diese Strafe zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch nicht im Sinne des § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB erledigt war, hätte der Strafbefehl Zäsurwirkung entfaltet. In die dann zu bildende Gesamtstrafe hätte das Landgericht allerdings weiterhin die im Urteil vom 18. Dezember 2018 verhängten Einzelfreiheitsstrafen einbeziehen müssen, weil die betreffenden Taten allesamt vor dem 7. August 2018 begangen wurden […].
Der Umstand, dass die Strafkammer dem Strafbefehl vom 7. August 2018 keine Zäsurwirkung beigemessen hat, deutet darauf hin, dass die darin festgesetzte Geldstrafe bereits durch Vollstreckung erledigt war. In diesem Fall hätten die Urteilsgründe jedoch mitteilen müssen, ob der Angeklagte die Strafe bezahlt oder Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB) verbüßt hat. In der letztgenannten Variante könnte ihm durch die unterbliebene Zusammenziehung mit den übrigen Einzel-(Freiheits-)Strafen ein Nachteil erwachsen sein, der ggf. einen Härteausgleich geboten hätte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Juli 2023 - 5 StR 118/23, juris Rn. 4, vom 2. November 2022 - 3 StR 267/22, NStZ-RR 2023, 6). […]
Sollte das Landgericht zutreffend davon ausgegangen sein, dass dem Urteil vom 18. Dezember 2018 Zäsurwirkung zukommt, hätte es […] erörtern müssen, warum es bei der Bildung der ersten Gesamtfreiheitsstrafe nicht auch die Geldstrafe aus dem […] Strafbefehl [des Amtsgerichts Aachen] vom 15. Januar 2019 (70 Tagessätze zu je 10,00 Euro) berücksichtigt hat. Sollte diese Strafe noch nicht vollstreckt worden sein, hätte die Strafkammer sie einbeziehen und die durch Beschluss des Amtsgericht Aachen vom 22. Oktober 2019 […] nachträglich gebildete Gesamtgeldstrafe auflösen müssen. Feststellungen zum Vollstreckungsstand lassen die Urteilsgründe jedoch auch insoweit vermissen.
b) In die zweite Gesamtstrafe von einem Jahr und acht Monaten hat das Landgericht die wegen einer Tat vom 7. Januar 2019 verhängte Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 9. November 2020 […] einbezogen und die nachträgliche Gesamtstrafe aus dem Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 21. September 2021 […] aufgelöst […]. Auch hier hätte es der Erörterung bedurft, ob das Urteil vom 9. November 2020 überhaupt eine gesamtstrafenrechtlich eigenständige Bedeutung entfaltet oder vielmehr auf eine frühere - im Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Verhandlung noch nicht erledigte - Vorverurteilung zurückzuprojizieren ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. August 2023 - 2 StR 200/23, juris Rn. 17; vom 31. August 2022 - 4 StR 372/21, juris Rn. 7; vom 26. Februar 2020 - 4 StR 420/19, juris Rn. 3). In Betracht kommen insoweit der vorgenannte Strafbefehl vom 15. Januar 2019 (soweit dieser nicht seinerseits auf das Urteil vom 18. Dezember 2018 zurückzuprojizieren ist) oder das Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 30. Juli 2019 […].“
Rz. 8
Dem tritt der Senat bei und merkt an, dass sich die Urteilsgründe auch zum Vollstreckungsstand der weiteren durch das Amtsgericht Aachen am 4. Dezember 2020, 7. Mai 2021 und 29. Oktober 2021 festgesetzten Geldstrafen nicht verhalten. Auf den jeweiligen Vollstreckungsstand könnte es indes - wie der Generalbundesanwalt näher ausgeführt hat - im Rahmen weiterer gesamtstrafenrechtlicher Überlegungen ankommen.
Rz. 9
3. Diese Rechtsfehler zwingen nicht zur Zurückverweisung der Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO. Vielmehr kann die neu zu treffende Gesamtstrafenentscheidung gemäß § 354 Abs. 1b Satz 1 StPO dem nachträglichen Beschlussverfahren nach den §§ 460, 462 StPO überlassen werden, weil in jedem Fall zumindest eine nachträgliche Gesamtstrafe zu bilden sein wird. Das nach § 462a Abs. 3 StPO zuständige Gericht wird dabei auch über die - ggf. mehrfache - Gewährung eines Härteausgleichs befinden müssen. Das Nachverfahren gemäß §§ 460, 462 StPO wäre nur dann ausgeschlossen, wenn sämtliche Strafen, die für eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommen, vollständig vollstreckt, verjährt oder erlassen sind, sodass nur noch über den Härteausgleich zu entscheiden wäre (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2014 - 3 StR 245/14, NStZ-RR 2015, 20 Rn. 2, und vom 15. März 2022 - 5 StR 513/21, Rn. 2). Das ist hier jedoch nicht der Fall.
Menges Appl Zeng
Zimmermann Herold
Fundstellen
Dokument-Index HI16676252 |