Verfahrensgang
OLG Hamburg (Beschluss vom 18.09.1997) |
LG Hamburg (Beschluss vom 13.05.1997) |
Tenor
Auf die weitere sofortige Beschwerde des Beklagten wird der Beschluß des 3. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 18. September 1997 aufgehoben.
Auf die sofortige Beschwerde des Beklagten wird der Beschluß der 12. Zivilkammer des Landgerichts Hamburg vom 13. Mai 1997 abgeändert.
Es wird festgestellt, daß zur Entscheidung über das Klagebegehren die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig sind.
Die Sache wird an das Sozialgericht Hamburg verwiesen.
Die Klägerin hat die Kosten der Beschwerdeverfahren zu tragen.
Der Beschwerdewert wird auf 100.000,– DM festgesetzt.
Tatbestand
Die klagende Techniker Krankenkasse, eine Ersatzkasse, wendet sich mit ihrer Unterlassungsklage gegen verschiedene Äußerungen des beklagten AOK-Bundesverbandes, die sie als unlauteren Eingriff in ihren Wettbewerb mit den Allgemeinen Ortskrankenkassen bei der Werbung von Mitgliedern ansieht.
Die Klägerin hat beantragt, dem Beklagten gegen Androhung näher bezeichneter Ordnungsmittel zu untersagen, im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken zu verbreiten,
I. die in der Broschüre des Beklagten mit dem Titel „AOK-Bundesverband zu aktuellen Themen. Jahrgang 1996. Standpunkt. Risikostrukturausgleich” enthaltene Grafik mit dem Titel
„Was einige ohne Risikoausgleich sparen wollen, zahlen die anderen! Risikoausgleich sichert solidarische Krankenversicherung.”
II. die nachfolgenden Aussagen
1. In dieser Situation befinden sie sich jedoch nur, weil sie jahrelang „Rosinenpicker-Politik” betreiben konnten. … Jungen, gesunden, alleinstehenden Versicherten mit hohem Einkommen galt ihre Aufmerksamkeit. Gleichzeitig zogen sie einen tiefen Graben um ihre Krankenkassen-Burgen, der verhinderte, daß sozial schwache, kinderreiche und krankheitsanfällige Versicherte, also die, die der Solidarität bedürfen, die „heiligen Ersatzkassenhallen” betreten.
2. Auf den Fahnen der Ersatzkassen steht nach wie vor das Wort von der solidarischen Krankenversicherung: … Doch dies sind nur Lippenbekenntnisse.
3. Konnten sie sich bislang ungestört im „Rosinenpicker-Schlaraffenland” tummeln, indem sie ihre Versichertenklientel auswählen konnten, so sitzen sie jetzt im gemeinsamen Boot mit den Kassen, die diese Chance nie hatten.
4. Die Ausgrenzung einzelner Gruppen mit erhöhten Krankheitsausgaben entspricht scheinbar dem Wunschdenken einzelner Kassen.
5. Erst der Strukturausgleich zwingt auch unsere Mitbewerber dazu, ein effizientes Kosten- und Leistungsmanagement zu betreiben, anstatt sich auf den durch gezielte Risikoselektion gewonnenen Versichertenstrukturen mit vielen jungen, gut verdienenden Mitgliedern auszuruhen.
6. Gegen die risikoäquivalente Aufteilung des Beitragsaufkommens laufen die Ersatzkassen Sturm. … Als finanzstarke Kassen zahlen sie mehr in den Ausgleich hinein, als sie wieder herausbekommen. In dieser Situation befinden sie sich jedoch nur, weil sie jahrelang „Rosinenpicker-Politik” betrieben haben.
Der Beklagte ist dem Klagebegehren in der Sache entgegengetreten und hat zudem unter Hinweis auf die Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 10. Juli 1989 (BGHZ 108, 284 – AOK-Mitgliederwerbung) die Auffassung vertreten, für die Entscheidung des Rechtsstreits seien gemäß § 51 Abs. 1 SGG die Sozialgerichte zuständig.
Das Landgericht hat den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für zulässig erachtet. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ist erfolglos geblieben.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beklagte mit seiner zugelassenen weiteren sofortigen Beschwerde, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt.
Entscheidungsgründe
II. Die (zulässige) weitere sofortige Beschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Verweisung des Rechtsstreits in den Rechtsweg der Sozialgerichtsbarkeit.
1. Das Beschwerdegericht hat entschieden, daß für den Rechtsstreit der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet ist. Dazu hat es ausgeführt: Der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes habe zwar durch Beschluß vom 10. Juli 1989 (BGHZ 108, 284 – AOK-Mitgliederwerbung) entschieden, daß für Rechtsstreitigkeiten zwischen einer Ersatzkasse und einer Allgemeinen Ortskrankenkasse über die Zulässigkeit von Maßnahmen auf dem Gebiet der Mitgliederwerbung der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben sei; die Rechtslage habe sich aber danach durch die Neufassung der §§ 173 bis 177 SGB V dadurch entscheidend geändert, daß nunmehr jeder Versicherungspflichtige und jeder Versicherungsberechtigte die freie Wahl habe, ob er Mitglied einer Ersatzkasse werden wolle oder nicht. Zwischen den Allgemeinen Ortskrankenkassen und den Ersatzkassen bestehe dadurch ein freier Wettbewerb um Mitglieder. Das rechtfertige es, bei Streitigkeiten zwischen ihnen über die Rechtswidrigkeit einer Mitgliederwerbung nunmehr den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten in gleicher Weise für zulässig zu halten wie bei entsprechenden Streitigkeiten zwischen einer gesetzlichen Krankenkasse und einem privaten Krankenversicherer.
2. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Bei den von der Klägerin verfolgten Unterlassungsansprüchen handelt es sich um Streitigkeiten, für die nach § 51 Abs. 1 SGG der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist.
Die Beurteilung, ob eine Streitigkeit öffentlich- oder bürgerlich-rechtlich ist, richtet sich, wenn – wie hier – eine ausdrückliche Rechtswegzuweisung des Gesetzgebers fehlt, nach der Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird. Maßgeblich für die Abgrenzung ist die wahre Natur des Anspruchs, wie er sich nach dem Sachvortrag des Klägers darstellt, nicht dagegen der Umstand, daß sich der Kläger auf eine zivilrechtliche oder öffentlich-rechtliche Anspruchsgrundlage beruft (vgl. GmS-OGB BGHZ 97, 312, 313 f. – Orthopädische Hilfsmittel; 102, 280, 283 – Rollstühle; 108, 284, 286 – AOK – Mitgliederwerbung; BGHZ 119, 93, 95 – Selbstzahler; 130, 13, 14 – Remailing I; BGH, Beschl, v. 5.6.1997 – I ZB 3/96, GRUR 1998, 174 = WRP 1998, 55 – Fachhochschuljurist). Danach ist im Streitfall für die gegenüber dem Beklagten geltend gemachten Unterlassungsansprüche die Zuständigkeit der Sozialgerichte begründet.
a) Nach der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 10. Juli 1989 (BGHZ 108, 284 – AOK-Mitgliederwerbung) ist für Rechtsstreitigkeiten zwischen einer Ersatzkasse und einer Allgemeinen Ortskrankenkasse über die Zulässigkeit von Maßnahmen der Mitgliederwerbung gemäß § 51 Abs. 1 SGG der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben. Das Konkurrenzverhältnis zwischen den gesetzlichen Krankenkassen einschließlich der Ersatzkassen werde auch bei der Mitgliederwerbung von … sozialversicherungsrechtlichen Normen beherrscht, die den Interessen der Allgemeinheit dienten. Alle Krankenkassen hätten ihren Mitgliedern die in § 11 SGB V bestimmten Leistungen zu erbringen und könnten darüber hinaus nur im Rahmen von § 194 Abs. 1 Nr. 3 SGB V Art und Umfang ihrer Leistungen durch Satzung bestimmen. Auch würden die Beziehungen der Krankenkassen untereinander durch öffentlich-rechtliche Normen bestimmt. Der Anspruch einer Krankenkasse gegen eine andere auf Unterlassung von Maßnahmen der Mitgliederwerbung finde seine Grundlage insbesondere in der öffentlich-rechtlichen Pflicht der Träger der Sozialleistung zur engen Zusammenarbeit (§ 86 SGB X).
b) Die Klägerin leitet die gegen den Beklagten, den Bundesverband der Allgemeinen Ortskrankenkassen, gerichteten Unterlassungsansprüche vor allem daraus her, daß dieser sie mit unwahren und herabsetzenden Aussagen im Wettbewerb mit den Allgemeinen Ortskrankenkassen um Mitglieder beeinträchtigt habe. Ein derartiger Sachverhalt unterliegt nach den tragenden Erwägungen der genannten Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes auch nach der gegenwärtigen Gesetzeslage dem speziellen Recht der gesetzlichen Krankenversicherung mit der Folge, daß der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet ist.
Auch wenn den Versicherungspflichtigen und -berechtigten nach der Neufassung der §§ 173 bis 177 SGB V durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I, S. 2266) eine weitgehende Freiheit bei der Wahl der Krankenkasse zusteht, so liegt das Schwergewicht des Rechtsstreits doch im Bereich des Sozialrechts (vgl. dazu bereits – zu einer vergleichbaren Fallgestaltung – BGH, Beschl. v. 15.1.1998 – I ZB 20/97, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, daß die Klägerin ihr Begehren auf wettbewerbsrechtliche Anspruchsgrundlagen, insbesondere §§ 1, 3 UWG, gestützt hat. Denn nach § 17 Abs. 2 GVG entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtsweges den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten. Das bedeutet, daß das für eine Anspruchsgrundlage zuständige Gericht auch über solche Anspruchsgrundlagen zu befinden hat, die für sich allein die Zuständigkeit einer anderen Gerichtsbarkeit begründen würden (vgl. BGH, Beschl. v. 5.6.1997 – I ZB 26/96, WRP 1997, 1199, 1201 – Hilfsmittellieferungsvertrag; BSG NSZ 1995, 142, 144 = NJW 1995, 1575, 1576).
Die Allgemeinen Ortskrankenkassen und die Ersatzkassen stehen einander bei der Mitgliederwerbung unverändert im Gleichordnungsverhältnis gegenüber. Trotz einiger gesetzlicher Änderungen in der Wahlfreiheit unter den Kassen ist dieses Gleichordnungsverhältnis der Kassen zueinander nach wie vor durch öffentlich-rechtliche Regelungen geprägt. Die Kassen sind ihren Mitgliedern, anders als dies bei privatwirtschaftlichen Unternehmen der Fall wäre, weiterhin unverändert zur Erbringung gesetzlich festgelegter Leistungen (§§ 11, 194 Abs. 2 Satz 2 SGB V) verpflichtet. Ebenso sind die Pflichten zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Information (§ 201 Abs. 2 und 3 SGB V, §§ 13 bis 15 SGB I) sowie die Verpflichtung zur vorläufigen Leistungserbringung (§ 43 SGB I) unverändert bestehengeblieben. Auch die vom Gemeinsamen Senat als Grundlage für den Anspruch einer Krankenkasse gegen eine andere auf Unterlassung von Maßnahmen der Mitgliederwerbung herangezogene öffentlich-rechtliche Pflicht der Träger der Sozialleistungen zur engen Zusammenarbeit (§ 86 SGB X), die das Gebot der Rücksichtnahme auf widerstreitende Interessen eines anderem Trägers der Sozialversicherung umfaßt (BGHZ 108, 284, 289), hat sich nicht geändert.
Mit Recht hat das Beschwerdegericht darauf hingewiesen, daß das besondere öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen den gesetzlichen Krankenkassen auch durch die Regelungen über den Risikostrukturausgleich (§§ 266 f. SGB V) unterstrichen wird, den es in einem privatrechtlich ausgestalteten Wettbewerbsverhältnis gerade nicht gibt.
c) Der Auffassung der Klägerin, die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gemeinsamen Senats bestehende Rechtslage habe sich durch die Neufassung der §§ 173 bis 177 SGB V derart grundlegend geändert, daß auf dem Gebiet der Mitgliederwerbung an die Stelle des öffentlich-rechtlich geprägten Verhältnisses der Sozialversicherungsträger zueinander nunmehr ein rein privatrechtliches Verhältnis trete, kann nicht beigetreten werden.
Es trifft zwar zu, daß es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Zuweisungskassen mehr gibt. Die für die Versicherungspflichtigen und -berechtigten seit 1. Januar 1996 bestehende Wahlfreiheit in bezug auf die Krankenkasse mag den Wettbewerb um die Mitgliedschaft auch verschärft haben. Dadurch ist gegenüber dem früheren Rechtszustand jedoch keine qualitative, sondern lediglich eine quantitative Veränderung eingetreten. Bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gemeinsamen Senats bestand für – nicht mehr von der Familienversicherung erfaßte versicherungspflichtige – Studenten eine völlige Wahlfreiheit zwischen der Mitgliedschaft in einer Allgemeinen Ortskrankenkasse oder in einer Ersatzkasse für Angestellte (vgl. § 184 Abs. 2 SGB V a.F.).
Die seit 1. Januar 1996 erweiterten Wahlmöglichkeiten haben zwar einer erheblich größeren Zahl, früher an die Allgemeinen Ortskrankenkassen gebundener Personen die Möglichkeit des Kassenwechsels eröffnet. Eine für die gesetzlichen Krankenkassen und Ersatzkassen auf dem Gebiet der Mitgliederwerbung völlig neue Situation ist dadurch jedoch nicht geschaffen worden, zumal es – wie ausgeführt – auch schon vor 1996 ein Konkurrenzverhältnis zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und Ersatzkassen gab. Überdies mußten die Ersatzkassen seit jeher bestrebt sein, diejenigen Versicherungspflichtigen und -berechtigten, die ihre Satzungsbestimmungen erfüllten, an sich zu binden, um ihren Bestand auf Dauer zu sichern. Die nunmehr erweiterten Wahlmöglichkeiten rechtfertigen keine Abweichung von der Entscheidung des Gemeinsamen Senats vom 10. Juli 1989.
d) Der Umstand, daß die Aufsichtsbehörden der gesetzlichen Krankenversicherung am 3. November 1994 gemeinsame Wettbewerbsgrundsätze für ihre Mitgliedskörperschaften beschlossen haben (WRP 1997, 420 ff.), die von der entsprechenden Geltung der Vorschriften des UWG ausgehen, rechtfertigt ebenfalls keine andere Beurteilung. Derartige Leitlinien in Form von Wettbewerbsregeln waren bereits im Jahre 1937 zum früheren § 516 Abs. 2 RVO ergangen (vgl. den Abdruck bei Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 1985, § 516 RVO Anm. 7). Im Vergleich zu den heute bestehenden Werbemöglichkeiten waren diese Werberichtlinien zwar erheblich restriktiver; sie machen aber deutlich, daß die Problematik eines Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung seit Jahrzehnten im Raum steht und nicht erst durch das Gesundheitsstrukturgesetz geschaffen worden ist.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Erdmann, v. Ungern-Sternberg, Ullmann, Bornkamm, Pokrant
Fundstellen
Haufe-Index 1398918 |
NZS 1998, 375 |
SGb 1999, 28 |
SozSi 1999, 37 |