Tenor
1. Der Beschluß des Landgerichts Dortmund vom 9. Dezember 1998, mit dem die Revision des Beschuldigten gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 27. Juli 1998 als unzulässig verworfen worden ist, wird aufgehoben.
2. Die Revision des Beschuldigten gegen das vorbezeichnete Urteil und seine Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand werden als unzulässig verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten der Revision zu tragen.
Gründe
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nach Verkündung des Urteils und Belehrung über das Rechtsmittel der Revision hat der Beschuldigte auf dieses Rechtsmittel verzichtet, „nach Schluß der mündlichen Verhandlung” jedoch erklärt, den Verzicht „irrtümlich abgegeben” zu haben. Sein Verteidiger hat für ihn Revision eingelegt und vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, das Rechtsmittel aber zunächst nicht begründet. Gegen den Beschluß des Landgerichts vom 9. Dezember 1998, mit dem die Revision als unzulässig verworfen worden ist, beantragt der Beschwerdeführer die Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 346 Abs. 2 StPO und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Revisionsbegründungsfrist.
1. Der Beschluß des Landgerichts vom 9. Dezember 1998 nach § 346 Abs. 1 StPO ist aufzuheben. Wegen des Rechtsmittelverzichts fehlt es an der Zuständigkeit des Tatgerichts für die Verwerfung der Revision (BGH NJW 1984, 1974, 1975; NStZ-RR 1997, 173; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 346 Rdn. 2).
2. Die Revision des Beschuldigten ist jedoch vom Revisionsgericht als unzulässig zu verwerfen, weil er nach Urteilsverkündung wirksam auf dieses Rechtsmittel verzichtet hat (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO).
a) Wie sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergibt, hat der Beschuldigte erklärt, er nehme das Urteil an und verzichte auf das Rechtsmittel der Revision. Diese Erklärung nimmt an der Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO teil, da sie gemäß § 273 Abs. 3 StPO vorgelesen und genehmigt wurde (st. Rspr.; vgl. BGHSt 18, 257, 258; BGH NJW 1997, 2691; BGH, Beschluß vom 12. Januar 1999 - 4 StR 649/98; s. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 274 Rdn. 11 m.w.N.). Die Ausführungen des Verteidigers im Schriftsatz vom 21./22. April 1999 geben dem Senat keinen Anlaß, von diesem Rechtsstandpunkt abzuweichen. Die vom Verteidiger im Zusammenhang mit der formellen Beweiskraft angesprochene Genehmigung einer Protokolländerung betrifft ersichtlich die Niederschrift über die Verhandlung vom 27. Juli 1998. Ein nicht verbeschiedener Antrag auf Protokollberichtigung liegt entgegen einer Bemerkung in seinem vorbezeichneten Schriftsatz nicht vor; auf seinen Antrag vom 27. Juli 1998, das Protokoll nach seinen Ausführungen „abzufassen”, ist er nach Einsicht in das fertiggestellte Protokoll nicht zurückgekommen. Dem Revisionsvortrag, der Beschuldigte habe nur einen Teil der protokollierten Verzichtserklärung abgegeben und die beurkundete Erklärung (insgesamt) nicht genehmigt, steht daher die Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls entgegen.
b) Der Rechtsmittelverzicht kann als Prozeßhandlung nicht widerrufen, wegen Irrtums angefochten oder sonst zurückgenommen werden (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ 1999, 258, 259). Er wird sofort, nicht erst mit Fertigstellung des Protokolls, wirksam (Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 302 Rdn. 19). Der vom Beschuldigten nach Schluß der Hauptverhandlung behauptete Irrtum ist daher als solcher unbeachtlich (vgl. BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 1, 3 und 4; BGH, Beschluß vom 9. September 1997 - 4 StR 422/97). Die Rechtsprechung erkennt allerdings an, daß in besonderen Fällen schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts oder die Art und Weise seines Zustandekommens dazu führen können, daß eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist (BGHSt 17, 14, 18 f.; BGH NStZ-RR 1997, 173). Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben:
aa) Anhaltspunkte dafür, daß das Landgericht dem Beschuldigten einen Rechtsmittelverzicht ohne vorherige Beratung mit seinem Verteidiger abverlangt oder ihm jedenfalls vor der Verzichtserklärung keine Gelegenheit gegeben hätte, sich mit seinem Verteidiger zu beraten (vgl. BGHSt 18, 257, 259 f.; 19, 101, 103 ff.; BGH, Urteil vom 21. April 1999 - 5 StR 714/98, zum Abdruck in BGHSt bestimmt; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 9; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 302 Rdn. 25 m.w.N.), liegen nicht vor. Von einem abverlangten Rechtsmittelverzicht kann schon deshalb nicht gesprochen werden, weil der Vorsitzende den Beschuldigten in einer auf seine Person und seine Bedürfnisse zugeschnittenen Art und Weise mit den sich ihm bietenden Möglichkeiten, das Urteil mit der Revision anzufechten oder aber mit Blick auf die von ihm angestrebte Therapie anzunehmen, in Gegenwart seines Verteidigers vertraut gemacht und ihm zugleich angeboten hat, „ihn weiter über das Rechtsmittel im einzelnen (zu) belehren”.
Der Beschwerdeführer hatte ferner vor dem – endgültigen – Zustandekommen seines Rechtsmittelverzichts Gelegenheit, sich mit seinem Verteidiger zu beraten. Zwar erfaßt die sich aus § 274 StPO ergebende Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls nicht das in der Niederschrift vermerkte „ausdrückliche Einverständnis” des Verteidigers (BGH NStZ 1996, 297). Nach dem Vortrag der Revision selbst hat sich der Beschuldigte nach der Urteilsverkündung rechtzeitig mit seinem Verteidiger beraten. Sie trägt nämlich selbst vor, der Beschuldigte habe unmittelbar nach Abgabe seiner mündlichen Verzichtserklärung, während der Vorsitzende diese in das Protokoll aufnahm und sodann ihre Verlesung veranlaßte, den Verzicht mit seinem Verteidiger erörtert. Weder der Beschuldigte noch sein Verteidiger gaben jedoch dem Vorsitzenden oder der Urkundsbeamtin gegenüber – wie der Senat dem Revisionsvortrag und dem Vermerk des Vorsitzenden (Bd. III Bl. 96) entnimmt – zu erkennen, daß sie die Frage eines Rechtsmittelverzichts noch erörtern wollten oder gar Bedenken gegen seine Abgabe entstanden waren (vgl. BGHSt 18, 257, 260 f.; Ruß in KK/StPO 4. Aufl. § 302 Rdn. 12). Vielmehr genehmigte der Beschwerdeführer nach dem Gespräch mit seinem Verteidiger die von ihm abgegebene Verzichtserklärung. Da sich die Form des Rechtsmittelverzichts aber nach der Form für die Rechtsmitteleinlegung richtet (BGHSt 18, 257, 260; 31, 109, 111; BGH NJW 1984, 1974; Hanack in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 302 Rdn. 15) und ein richterliches Hauptverhandlungsprotokoll die Niederschrift der Geschäftsstelle ersetzt (BGHSt 31, 109, 113), kam bei der hier gewählten Beurkundung nach § 273 Abs. 3 StPO ein formwirksamer – endgültiger – Verzicht erst mit der Beurkundung der förmlichen Genehmigung durch den Beschuldigten zustande (vgl. auch Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 273 Rdn. 47).
bb) Mit Blick auf die anwaltliche Beratung des Beschuldigten hat der Senat keinen Zweifel, daß die beurkundete Verzichtserklärung im Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens dem wirklich Gewollten entsprach (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 302 Rdn. 20, 24; Ruß aaO § 302 Rdn. 11).
cc) Auf die vom Verteidiger mehrfach aufgeworfene Frage, ob er sich tatsächlich mit dem Rechtsmittelverzicht einverstanden erklärt hat, kommt es nicht an; der erklärte Wille des Beschuldigten geht stets vor (BGH, Urteil vom 21. April 1999 - 5 StR 714/98, zum Abdruck in BGHSt bestimmt; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 11; OLG Oldenburg NStZ 1982, 520; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 297 Rdn. 3 und § 302 Rdn. 25).
c) Der Verzicht auf Rechtsmittel setzt allerdings Verhandlungsfähigkeit des Erklärenden voraus. Ob er verhandlungsfähig war, ist vom Revisionsgericht im Freibeweisverfahren zu klären (BGH NStZ 1999, 258; NStZ-RR 1999, 109). Die Verhandlungsfähigkeit ist hier indes zu bejahen:
Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß dem Beschuldigten im Hinblick auf seinen geistigen Zustand die genügende Einsichtsfähigkeit für seine Prozeßhandlung und deren Tragweite gefehlt hätte. Zwar hat das Tatgericht bei dem Beschuldigten eine „abhängige” (asthenische) Persönlichkeitsstörung, also eine schwere andere seelische Abartigkeit, festgestellt, die aufgrund einer hochgradigen Erregung zur Tatzeit möglicherweise das Steuerungsvermögen des Beschuldigten gemäß § 20 StGB ausgeschlossen hat. Dadurch wird jedoch die nach anderen Grundsätzen zu beurteilende prozessuale Fähigkeit, sich sachgerecht zu verteidigen und Verfahrenshandlungen in ihrer Wirkung und Bedeutung zu erfassen, nicht in Frage gestellt. Weder aus den Urteilsgründen noch aus dem Protokoll der Hauptverhandlung ergibt sich irgendein Hinweis darauf, daß Bedenken an der Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten bestanden haben. Er hat aktiv an der Verhandlung mitgewirkt, indem er ausführliche Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen und zur Sache gemacht sowie in seinem letzten Wort in verständiger Weise Reue über die Anlaßtat des Verfahrens zum Ausdruck gebracht hat. Wenn während der Verhandlung, die zudem an zwei von vier Tagen in Anwesenheit eines psychiatrischen Sachverständigen stattgefunden hat, das Landgericht – wie der Vorsitzende in seinem Vermerk (Bd. III Bl. 96) ausdrücklich hervorgehoben hat – keine Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten hatte und solche auch von dem Verteidiger nicht geäußert wurden, kann die Verhandlungsfähigkeit grundsätzlich auch vom Revisionsgericht bejaht werden (BGH NStZ 1999, 258, 259). Der Vortrag des Verteidigers, der Beschuldigte habe die Verzichtserklärung impulsiv abgegeben, ohne in der Lage gewesen zu sein, deren Bedeutung einzusehen, und die Behauptungen zu seinem psychischen Zustand nach Urteilsverkündung geben mit Blick auf die erst nach der Beratung mit dem Verteidiger erklärte Genehmigung des Rechtsmittelverzichts keinen Anlaß zu einer abweichenden Beurteilung. Der Senat sieht daher auch unter Berücksichtigung der Erklärung des Beschwerdeführers nach Schluß der Hauptverhandlung und der Ausführungen des angefochtenen Urteils zu seiner möglichen Schuldunfähigkeit keinen Anlaß, auf seinen Antrag ein psychiatrisches Gutachten im Freibeweisverfahren einzuholen.
d) Der nach alledem wirksame Verzicht auf Rechtsmittel hat die Unzulässigkeit der Revision zu Folge. Er schließt zugleich jede Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (BGH NJW 1997, 2691, 2692 m.w.N.), so daß auch die hierauf gerichteten Anträge des Beschuldigten zu verwerfen sind.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Richter am BGH Maatz ist wegen Urlaubs ortsabwesend und daher an der Unterzeichnung verhindert. Meyer-Goßner, Athing, Solin-Stojanovi[cacute], Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 540896 |
NStZ 1999, 526 |