Leitsatz (amtlich)
Unterbleibt die Belehrung eines Betroffenen nach dem Konsularvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien vom 30.7.1956 bzw. nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. b WÜK bei der Inhaftierung, leidet die Anordnung der Freiheitsentziehung an einem Verfahrensmangel, der zu ihrer Rechtswidrigkeit führt.
Normenkette
FamFG § 415
Verfahrensgang
LG Meiningen (Beschluss vom 27.11.2009; Aktenzeichen 2 T 298/09 (3)) |
AG Suhl (Beschluss vom 17.11.2009; Aktenzeichen XIV 12/09) |
Tenor
Dem Betroffenen wird für die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 2. Zivilkammer des LG Meiningen vom 27.11.2009 Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt R. beigeordnet.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass die Anordnung der Haft des Betroffenen durch den Beschluss des AG Pößneck vom 5.11.2009, soweit sie für einen längeren Zeitraum als bis zum 13.11.2009 erfolgt ist, und die Anordnung der Haft durch den Beschluss des AG Suhl vom 17.11.2009 insgesamt rechtswidrig waren.
Von den gerichtlichen Kosten des Verfahrens vor dem AG Pößneck trägt der Betroffene 9/14 mit der Maßgabe, dass von der Erhebung von Dolmetscherkosten abzusehen ist. Weitere gerichtliche Kosten werden nicht erhoben. Der Landkreis Saale-Orla trägt die 5/14 der durch das Verfahren vor dem AG Pößneck und die weiteren dem Betroffenen entstandenen außergerichtlichen Kosten.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 3.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene ist Staatsangehöriger von Sierra Leone. Er reiste 2002 illegal nach Deutschland ein. Ein von ihm bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellter Asylantrag wurde bestandskräftig abgelehnt. Der Betroffene wurde unter Androhung der Abschiebung aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb eines Monats zu verlassen.
Rz. 2
Am 30.10.2009 beantragte der Beteiligte zu 2) bei dem AG Pößneck, den Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung für den Zeitraum vom 5. bis zum 13.11.2009 in Haft zu nehmen. Das AG hat den Betroffenen angehört und dem Antrag dahin stattgegeben, dass es mit Beschluss vom 5.11.2009 Sicherungshaft des Betroffen für die Dauer von längstens zwei Wochen und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet hat. Der Betroffene wurde inhaftiert und in die Vollzugsanstalt G. verbracht. Seine für den 13.11. geplante Abschiebung wurde wegen eines am 12.11.2009 von dem Betroffenen gestellten weiteren Asylantrag nicht vollzogen.
Rz. 3
Am 17.11.2009 ersuchte der Beteiligte zu 2) das AG Pößneck um Abgabe des Verfahrens an das AG Suhl, weil eine Verlängerung der Haft beantragt werden solle und aufgrund der Inhaftierung des Betroffenen in G. das AG Suhl zuständig geworden sei. Daraufhin beschloss das AG Pößneck am 17.11.2009, die Sache an das AG Suhl abgegeben.
Rz. 4
Mit am 17.11.2009 bei dem AG Suhl eingegangenem Antrag hat der Beteilige zu 2) die Anordnung von Sicherungshaft des Betroffenen für die Dauer vom 19.11.2009 bis zum 19.2.2010 beantragt. Der Betroffene ist wiederum angehört worden. Mit Beschluss vom 17.11.2009 hat das AG Suhl die Haft des Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von längstens drei Monaten beginnend mit dem Ende anderer richterlich angeordneter Haftarten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet.
Rz. 5
Das LG Meiningen, zu dessen Bezirk das AG Suhl gehört, hat die Beschwerde des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Haft spätestens mit Ablauf des 20.12.2009 ende. Auf Antrag der Beteiligten zu 2) wurde die Haftanordnung vom 17.11.2009 am 14.12.2009 aufgehoben und der Betroffene aus der Abschiebehaft entlassen.
Rz. 6
Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene, die Rechtswidrigkeit der Anordnung seiner Haft für den Zeitraum seit dem 14.11.2009 festzustellen.
II.
Rz. 7
Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Ein Selbstmordversuch des Betroffenen und die Begründung seines Asylfolgeantrags, sich im Falle der Abschiebung in Sierra Leone umbringen zu wollen, zeigten, dass er sich der Abschiebung entziehen wolle. Die Haftanordnung sei indessen zu beschränken, weil die Abschiebung für den 15.12.2009 beabsichtigt sei und es an einer schlüssigen Begründung für eine längere Inhaftierung fehle.
III.
Rz. 8
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, zulässig und begründet.
Rz. 9
1. Das Rechtsmittel ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Rechtsbeschwerde eines Betroffenen auch dann ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft, wenn sich die Hauptsache durch den Ablauf der für die Haft angeordneten Dauer oder die Entlassung des Betroffenen aus der Haft erledigt hat und mit dem Rechtsmittel allein das Ziel verfolgt wird, die Verletzung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG festzustellen (Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, juris Rz. 9 ff.).
Rz. 10
2. Die Rechtsbeschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Einer Entscheidung in der Sache steht nicht entgegen, dass die Beschwerde des Betroffenen am Montag, dem 7.12.2009, bei dem AG Pößneck eingegangen und erst am 9.12.2009 von dort an das AG Suhl weitergegeben worden ist.
Rz. 11
a) Die uneingeschränkte Abgabe des Verfahrens hat zur Folge, dass die Sache so anzusehen ist, als wäre das abgegebene Verfahren von Anfang an bei dem annehmenden Gericht anhängig gewesen, an das das Verfahren abgegeben worden ist (OLG München FGPrax 2009, 239; OLG Oldenburg, Beschl. v. 19.8.2009 - 13 W 31/09, juris, Rz. 20). Folge hiervon ist, dass das für das annehmende AG zuständige LG auch für das gegen eine Entscheidung des abgebenden AG gerichtete Rechtsmittel zuständig ist (BayObLGZ 1982, 261; 1985, 296; BayObLG FamRZ 2004, 1899; OLG München, a.a.O.; OLG Oldenburg, a.a.O.). Damit aber ist die bei dem AG Suhl am 9.12.2009 eingegangene Beschwerde verspätet, soweit sie gegen den Beschluss des AG Pößneck vom 5.11.2009 gerichtet ist.
Rz. 12
b) Die Beschwerdefrist ist jedoch dadurch gewahrt, dass der Betroffene nicht nur schriftlich durch seinen Verfahrensbevollmächtigten, sondern ausweislich des Protokolls seiner Anhörung durch das AG Suhl am 17.11.2009 auch selbst Beschwerde gegen seine Inhaftierung eingelegt hat. Die Beschwerde ist nicht nur gegen den unmittelbar zuvor bekannt gegebenen Beschluss von diesem Tag gerichtet, sondern nach den Einlassungen des Betroffenen im Rahmen seiner Anhörung dahin auszulegen, dass sie gegen die Inhaftierung des Betroffenen im Allgemeinen und damit auch gegen den Beschluss des AG Pößneck vom 5.11.2009 gerichtet ist.
Rz. 13
3. Gegenstand des Fortsetzungsfeststellungsantrags sind die Anordnung der Haft des Betroffenen durch den Beschluss des AG Pößneck, soweit sie für einen längeren Zeitraum als bis zum 13.11.2009 erfolgt ist, und die Anordnung der Haft durch das AG Suhl. Eine solche Antragstellung ist im Fortsetzungsfeststellungsverfahren zulässig, weil in diesem die Rechtmäßigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung der Haftanordnung zu prüfen ist (vgl. Senat, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 184/09, juris Rz. 14).
Rz. 14
4. Die Anordnung der Haft des Betroffenen durch das AG Pößneck für den Zeitraum vom 14. bis zum 19.11.2009 ist schon deshalb rechtswidrig, weil es an einem hierher gehenden Antrag des Beteiligten zu 2) fehlt.
Rz. 15
Nach § 417 Abs. 1 FamFG darf das Gericht die Freiheitsentziehung nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen. Der Antrag muss die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung angeben, § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG. Die Anordnung einer über den Antrag der Behörde hinausgehenden Dauer der Freiheitsentziehung ist unzulässig.
Rz. 16
5. Das Verfahren ggü. dem Betroffenen leidet zudem daran, dass er zu keinem Zeitpunkt über sein Recht belehrt worden ist, die konsularische Vertretung seines Heimatlands von seiner Inhaftierung zu unterrichten.
Rz. 17
Dieses Recht ergibt sich entgegen der Meinung der Rechtsbeschwerde zwar nicht aus Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 2 WÜK, weil Sierra Leone dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen nicht beigetreten ist. Im Verhältnis zu Sierra Leone gilt jedoch der Konsularvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland vom 30.7.1956 (BGBl. II 1957, 285) weiter (Fundstellennachweis zum Bundesgesetzblatt B, S. 162). Art. 17 dieses Abkommens entspricht Art. 36 WÜK. Nach Art. 17 Abs. 3 des Abkommens hat jeder Angehörige eines Staates, für den das Abkommen gilt, "das Recht, jederzeit mit dem zuständigen Konsul in Verbindung zu treten", ohne dass eine Pflicht zur Belehrung hierüber ausdrücklich vereinbart ist. Sie ergibt sich jedoch ohne Weiteres daraus, dass das Recht auf konsularische Hilfe ohne eine solche Pflicht im Fall der Inhaftierung und damit im wichtigsten Fall des Rechts im Ergebnis leer läuft. Konsularische Hilfe kann nur gewährt werden, wenn der Konsul von der Situation Kenntnis hat, in der sein Tätigwerden von einem Betroffenen möglicherweise gesucht wird.
Rz. 18
Die Belehrung ist unerlässlicher Bestandteil eines rechtsstaatlichen fairen Verfahrens (vgl. BVerfG NJW 2007, 499, 500). Unterbleibt die Belehrung bei der Inhaftierung, leidet die Anordnung der Freiheitsentziehung an einem grundlegenden Verfahrensmangel, der zu ihrer Rechtswidrigkeit führt. So verhält sich hier.
IV.
Rz. 19
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, 83 Abs. 2 FamFG, 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, den Beteiligten zu 2) zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Anlagen des Betroffen zu verpflichten. Von der Erhebung von Dolmetscherkosten ist in Abschiebungshaftsachen abzusehen (Senat, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, Rz. 20, juris).
Rz. 20
Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO.
Fundstellen