Verfahrensgang
LG Bielefeld (Urteil vom 28.11.2005) |
Tenor
1. Das Verfahren wird in den Fällen II. 33 bis 47 der Gründe des Urteils des Landgerichts Bielefeld vom 28. November 2005 gemäß § 154 a Abs. 2 StPO auf den Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes und des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen beschränkt.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil
- im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in 16 Fällen, des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in 31 Fällen sowie der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig ist;
- in den Fällen II. 2 sowie 33 bis 48 der Urteilsgründe in den Einzelstrafaussprüchen und im Gesamtstrafenausspruch mit den Feststellungen – ausgenommen diejenigen zur Schuldfähigkeit, die bestehen bleiben – aufgehoben.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
4. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes und sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in 15 Fällen (Fälle II. 33 bis 47 der Urteilsgründe), schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen (Fall II. 2), sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in 31 Fällen (Fälle II. 1, 3 bis 32) und Misshandlung einer Schutzbefohlenen (Fall II. 48) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 2
1. Die Verfahrensbeschwerden dringen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 8. Mai 2006 nicht durch. Lediglich ergänzend bemerkt der Senat zu der Rüge der Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (vgl. Antragsschrift des Generalbundesanwalts zu I. 2.b), dass ausweislich des Protokolls vom dritten Hauptverhandlungstag der Angeklagte bei der Verkündung des Beschlusses über seine Ausschließung gemäß § 247 StPO anwesend war. Denn im Protokoll ist erst im Anschluss daran vermerkt: „Die Anordnung wurde ausgeführt” (Prot.Bd. Bl. 31).
Rz. 3
2. Der Senat nimmt mit Zustimmung des Generalbundesanwalts in den Fällen II. 33 bis 47 der Urteilsgründe den Vorwurf der Vergewaltigung (§ 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB) von der Verfolgung aus und beschränkt insoweit das Verfahren auf den Vorwurf des jeweils verwirklichten schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes (§ 176 a Abs. 1 Nr. 1 a.F. [Fälle II. 33 bis 42] bzw. Abs. 2 Nr. 1 n.F. [Fälle II. 43 bis 47] StGB und des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Der Senat könnte die Verurteilung in diesen Fällen nicht bestätigen, weil die Beweiswürdigung zum Vergewaltigungstatbestand durchgreifenden Bedenken begegnet. Denn das Urteil legt nicht nachvollziehbar dar, dass der Angeklagte in sämtlichen dieser Fälle immer auf dieselbe Weise den Geschlechtsverkehr mit seiner Stieftochter erzwang, indem er ihr dabei jeweils den Mund zuhielt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 177 StGB müssen auch bei einer länger dauernden Serie von Tathandlungen grundsätzlich für jede Tat konkret und individualisiert festgestellt werden (BGHSt 42, 107, 111). Dem genügen nach der Schilderung des ersten Falls des von dem Angeklagten mit seiner Stieftochter vollzogenen Geschlechtsverkehrs (UA 10) die für die weiteren Fälle getroffenen knappen Feststellungen (UA 11 1. Abs. und UA 12 2. Abs.) nicht. Aber auch für den der Verurteilung zu Grunde liegenden ersten Fall des (erzwungenen) Geschlechtsverkehrs (Fall II. 33) ist die Verurteilung wegen Vergewaltigung nicht frei von Bedenken. Denn in Folge der Beschränkung der Verfolgung der mit der zugelassenen Anklage dem Angeklagten zur Last gelegten 432 Fälle des jeweils gleichförmig unter Zuhalten des Mundes der Stieftochter erzwungenen Geschlechtsverkehrs auf die ausgeurteilten 47 Fälle des sexuellen Übergriffs hat sich das Landgericht nicht mehr mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, dass der Angeklagte mit seiner Stieftochter auch bereits vor deren 12. Geburtstag den Geschlechtsverkehr vollzogen hat und deshalb der erste im Urteil festgestellte Fall des Geschlechtsverkehrs (Fall II. 33) bereits Teil einer länger dauernden Serie gleichartiger Übergriffe war, bei denen sich die Verwirklichung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 177 StGB in objektiver und subjektiver Hinsicht in jenem Einzelfall jedenfalls nicht von selbst versteht.
Rz. 4
Bei dieser Sachlage und der gegebenen Beweislage erscheint es dem Senat auch aus Gründen des Opferschutzes sachgerecht, das Verfahren in den Fällen II. 33 bis 47 wie geschehen zu beschränken, um der Geschädigten eine weitere, sie psychisch belastende Aussage in einer neuen Hauptverhandlung zu ersparen.
Rz. 5
Der Senat ändert den Schuldspruch in diesen Fällen deshalb dahin, dass der Vorwurf der (tateinheitlich begangenen) Vergewaltigung entfällt.
Rz. 6
3. Auch der Schuldspruch wegen Misshandlung einer Schutzbefohlenen (§ 225 Abs. 1 2. Alt. StGB; Fall II. 48 der Urteilsgründe) kann nicht bestehen bleiben. Die Feststellungen belegen die von dem Landgericht angenommene Tatbestandsalternative der rohen Misshandlung nicht.
Rz. 7
Nach den hierzu getroffenen Feststellungen handelte es sich bei diesem Fall, bei dem der Angeklagte aus Wut mit Fäusten auf seine Stieftochter einschlug, um einen einmaligen Vorfall, der aus einer Konfliktsituation entstanden war (UA 51 a.E.). Rohes Misshandeln setzt demgegenüber eine gefühllose, fremde Leiden missachtende Gesinnung voraus (vgl. Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl. § 225 Rdn. 9 m.w.N.). Dafür, dass der Angeklagte aus dieser inneren Haltung gegenüber seiner Stieftochter tätlich geworden ist, kann dem Urteil nichts entnommen werden.
Rz. 8
Der Senat ändert deshalb den Schuldspruch dahin, dass der Angeklagte in diesem Fall der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) schuldig ist. § 265 StPO steht der Schuldspruchänderung nicht entgegen, weil sich der Angeklagte hiergegen nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können. Der Generalbundesanwalt hat gegenüber dem Senat das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung (§ 230 Abs. 1 Satz 1 StGB) bejaht.
Rz. 9
4. Die der Beschränkung gemäß § 154 a Abs. 2 StPO folgende Änderung des Schuldspruchs in den Fällen II. 33 bis 47 sowie die Schuldspruchänderung im Fall II. 48 führt zur Aufhebung der in diesen Fällen erkannten Einzelfreiheitsstrafen. Desgleichen hebt der Senat aber auch die Einzelstrafe im Fall II. 2 der Urteilsgründe auf, weil er nicht ausschließen kann, dass die Höhe dieser Strafe von der Festsetzung der gleich hohen Einzelstrafen in den Fällen II. 33 bis 47 beeinflusst ist, und um dem neuen Tatrichter insoweit eine umfassende neue Strafzumessung zu ermöglichen. Die Aufhebung der Einzelstrafen zieht die Aufhebung des – schon für sich gesehen ebenfalls auffallend hohen – Gesamtstrafenausspruchs nach sich.
Rz. 10
Die zur (uneingeschränkten) Schuldfähigkeit des Angeklagten getroffenen Feststellungen sind von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht berührt; sie können deshalb bestehen bleiben.
Rz. 11
5. Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils auf Grund der Sachbeschwerde keinen weiteren Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Unterschriften
Tepperwien, Maatz, Athing, Ernemann, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2555226 |
NStZ-RR 2006, 363 |