Leitsatz (amtlich)
Beweisfragen zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht kommen als Gegenstand eines selbständigen Beweisverfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO in Betracht (Festhaltung Senat, Beschl. v. 19.5.2020 - VI ZB 51/19, juris).
Normenkette
ZPO § 485 Abs. 2
Verfahrensgang
OLG Karlsruhe in Freiburg (Beschluss vom 05.04.2019; Aktenzeichen 13 W 17/19) |
LG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 21.02.2019; Aktenzeichen 6 OH 21/16) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des 13. Zivilsenats des OLG Karlsruhe vom 5.4.2019 in der Form des Ergänzungsbeschlusses vom 5.6.2019 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hinsichtlich der Beweisfragen 8b und 8d zurückgewiesen wurde. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: bis 320.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Antragstellerin begehrt vom Antragsgegner Schadensersatz wegen angeblich fehlender Aufklärung und behaupteter Behandlungsfehler im Zusammenhang mit der arthroskopischen Versorgung einer Rotatorenmanschettenruptur im Bereich der Supraspinatussehne vom 18.9.2014 einschließlich der Vor- und Nachbehandlung. Sie hat beantragt, im selbständigen Beweisverfahren ein schriftliches Sachverständigengutachten zu einer Reihe von Beweisfragen einzuholen, darunter folgende für das Rechtsbeschwerdeverfahren relevante Fragen 8b und 8d:
8b) Ob und inwieweit hätte nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen über die in Beweisfrage 8a) genannten Risiken sowie über die bei der Antragstellerin aufgrund der streitgegenständlichen Behandlung sonstigen eingetretenen Risiken/Komplikationen/Gesundheitsfolgen (vgl. Beweisfrage Ziff. 1) aus medizinischer Sicht aufgeklärt werden müssen? Das Gericht möge nach eigenem Ermessen folgende Erläuterung für den Sachverständigen (zur Beweisfrage 8b) hinzufügen: "Die Risikoaufklärung muss dem Patienten einen Überblick über die mit dem Eingriff verbundenen Gefahren verschaffen. Damit sind dauerhafte oder vorübergehende nachteilige Folgen eines Eingriffs gemeint, die sich auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht mit Gewissheit ausschließen lassen. Ferner ist der Patient mit Art und Schwere des Eingriffs vertraut zu machen. Dabei genügt es, wenn dem Patienten ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des konkreten Risikospektrums und ihm die "Stoßrichtung" der möglichen Risiken vermittelt wird [...]. Dabei hat der Arzt den Patienten auch über seltene, sogar äußerst seltene Risiken mit einer Komplikationsdichte von weniger als 1 %, ja sogar bei weniger als 0,1 % aufzuklären, wenn deren Realisierung die Lebensführung des Patienten schwer belasten würde und das entsprechende Risiko trotz der Sicherheit für den Eingriff spezifisch, für den Laien aber überraschend ist [...]." 8d) Ob und inwieweit stellen - nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen - aus medizinischer Sicht die in Beweisfrage 8c) aufgeführten Behandlungsmöglichkeiten sog. "echte Behandlungsalternativen" dar, über die die Patientenseite (Antragstellerin) hier hätte aufgeklärt werden müssen? Das Gericht möge nach eigenem Ermessen folgende Erläuterung für den Sachverständigen zu Beweisfrage 8d) hinzufügen: "Bei der Frage, ob eine sog. echte Behandlungsalternative vorliegt, ist von folgenden rechtlichen Grundsätzen auszugehen: Die Wahl der Behandlungsmethode ist primär Sache des Arztes. Er muss dem Patienten daher im allgemeinen nicht ungefragt erläutern, welche Behandlungsmethoden theoretisch in Betracht kommen und was für und gegen die eine oder andere dieser Methoden spricht, solange er eine Therapie anwendet, die dem medizinischen Standard genügt. Wählt der Arzt eine medizinisch indizierte, standardgemäße Behandlungsmethode bedarf es der Aufklärung über eine anderweitige, gleichfalls medizinisch indizierte, übliche Methode dann nicht, wenn die gewählte standardgemäße Therapie hinsichtlich ihrer Heilungsaussichten einerseits und ihrer Belastungen und Risiken für den Patienten andererseits der Behandlungsalternative gleichwertig oder vorzuziehen ist. Eine Aufklärung kann aber dann erforderlich werden, wenn die Behandlungsalternativen zu jeweils wesentlich unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder wesentlich unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten. Es muss sich dabei um einen Unterschied von Gewicht handeln, nicht nur um eine geringfügig niedrigere Komplikationsrate [...]. Demgegenüber soll über einzelne Behandlungsschritte und Behandlungstechniken eine Aufklärung nicht erforderlich sein [...]."
Rz. 2
Das LG hat den Antrag auf Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens hinsichtlich der Beweisfragen 8b und 8d zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Antragstellerin blieb ohne Erfolg. Mit der vom Beschwerdegericht insoweit zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Antragstellerin ihren Antrag auf Anordnung des selbständigen Beweisverfahrens hinsichtlich dieser Beweisfragen weiter.
II.
Rz. 3
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht geht übereinstimmend mit dem LG davon aus, dass Fragen zur Aufklärung des Patienten - auch solche zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht - generell nicht Gegenstand eines im selbständigen Beweisverfahren einzuholenden Sachverständigengutachtens sein können.
Rz. 5
Nach § 485 Abs. 2 ZPO könne eine Partei die Begutachtung durch einen Sachverständigen nur dann beantragen, wenn sie ein rechtliches Interesse daran habe, dass entweder der Zustand einer Person oder die Ursache eines Personenschadens festgestellt werde. Die Fragen zur Aufklärung bezögen sich indes nicht hierauf und könnten nach überzeugender Auffassung grundsätzlich kein tauglicher Gegenstand eines selbständigen Beweisverfahrens sein. Bei den zu Aufklärungsfehlern gestellten Beweisfragen gehe es auch nicht um die Klärung der Frage, ob Aufklärungsfehler Ursache eines Personenschadens im i. S. d. § 485 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO gewesen seien, sondern lediglich um eine von der tatsächlichen Aufklärungssituation losgelöste, abstrakte Klärung einer Vorfrage, nämlich welche Anforderungen aus sachverständiger Sicht an die Aufklärung zu stellen seien und ggf. ob die schriftlich dokumentierte Aufklärung dem entspricht. Der Aufklärungsbogen sei aber lediglich ein Indiz für den Inhalt des Aufklärungsgesprächs. Die letztlich maßgebliche Frage, ob das für eine wirksame Einwilligung des Patienten in der Regel erforderliche ärztliche Aufklärungsgespräch und mit welchem Inhalt stattgefunden habe, wofür nicht der Patient, sondern die Behandlerseite die Beweislast trage, werde nicht geklärt. Es werde auch nicht geklärt, ob die tatsächlich erfolgte Aufklärung für die Entscheidung des Patienten, sich dem Eingriff zu unterziehen, tatsächlich ursächlich geworden sei. Diese zur Beurteilung der Wirksamkeit einer Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff elementaren Fragen könnten in der Regel auch nicht durch Sachverständigenbeweis, sondern nur durch weitere Beweiserhebungen im Wege des Urkunden- oder Zeugenbeweises und durch Anhörung der Parteien tatrichterlich geklärt werden. Es könne damit nicht davon ausgegangen werden, dass die gutachterliche Klärung einer abstrakten Vorfrage, welche Anforderungen aus ärztlicher Sicht an eine Aufklärung zu stellen seien und die die für die Frage eines wirksamen Aufklärungsgesprächs relevanten Umstände vollkommen unberücksichtigt lasse, die Behandlerseite dazu veranlassen könnte, sich vorgerichtlich gütlich zu einigen. Daher könne in der Regel auch nicht davon ausgegangen werden, dass dies der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen könne. Gleiches gelte für die Patientenseite.
Rz. 6
Im Übrigen seien - so das Beschwerdegericht - die Beweisfragen unzulässig, weil die Antragstellung hinsichtlich der "von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze" in das Ermessen des Gerichts gestellt werde. Inhalt und Grenzen der Beweisaufnahme würden im selbständigen Beweisverfahren aber ausschließlich vom Antragsteller bestimmt. Letztlich komme es hierauf aber im Streitfall nicht mehr an.
Rz. 7
2. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässig. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im von der Rechtsbeschwerde angegriffenen Umfang. Die Erwägungen, mit denen das Beschwerdegericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens im selbständigen Beweisverfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO hinsichtlich der auf die Feststellung des Inhalts und des Umfangs der ärztlichen Aufklärungspflicht im Rahmen der streitgegenständlichen Behandlung der Antragstellerin abzielenden Beweisfragen abgelehnt hat, halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Rz. 8
a) Im - nach der angefochtenen Entscheidung ergangenen - Beschluss vom 19.5.2020 (VI ZB 51/19, Rz. 10 ff. juris) hat sich der erkennende Senat der Auffassung angeschlossen, dass Fragen zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht - wie die hier verfahrensgegenständlichen - im selbständigen Beweisverfahren nicht grundsätzlich unzulässig sind. Bezeichnen sie die Tatsachen, über die Beweis erhoben werden soll, und weisen sie einen hinreichenden Bezug zu dem dem Streitfall zugrunde liegenden Sachverhalt auf, so können auch diese Fragen Gegenstand eines selbständigen Beweisverfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO sein. Der erkennende Senat hält an dieser Auffassung - auch in Anbetracht der Ausführungen der Rechtsbeschwerdeerwiderung - fest.
Rz. 9
Die dargelegten Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Insbesondere zielen die im Rechtsbeschwerdeverfahren streitgegenständlichen Beweisfragen trotz ihrer insoweit möglicherweise missverständlichen Formulierung in der Sache nicht darauf ab, den Sachverständigen um eine - ihm nicht obliegende - juristische Bewertung des Sachverhalts zu bitten, sondern auf die Feststellung, ob die streitgegenständliche Heilbehandlung aus medizinischer Sicht mit bestimmten, näher benannten Risiken verbunden war und die von der Antragstellerin genannten Behandlungsalternativen bestanden. Ein hinreichend konkreter Bezug zum streitgegenständlichen Sachverhalt ergibt sich insb. daraus, dass in den Fragen u. a. auf die bei der Antragstellerin infolge der streitgegenständlichen Behandlung eingetretenen Risiken/Komplikationen/Gesundheitsfolgen abgestellt wird und die aus ihrer Sicht in Betracht kommenden Behandlungsalternativen benannt werden.
Rz. 10
b) In seinem Beschluss vom 19.5.2020 (VI ZB 51/19, Rz. 21, juris) hat der erkennende Senat weiter zum Ausdruck gebracht, dass es dem Antragsteller im selbständigen Beweisverfahren nicht verwehrt ist, es dem Gericht zu überlassen, ob es bestimmte - vom Antragsteller bereits formulierte - Erläuterungen für den Sachverständigen zur Präzisierung der vom Antragsteller gewünschten Feststellungen sowie zur Leitung der Tätigkeit des Sachverständigen (§§ 492 Abs. 1, 404a Abs. 1 ZPO) für erforderlich hält. Auch hieran hält der erkennende Senat fest. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts sind die in der Rechtsbeschwerdeinstanz verfahrensgegenständlichen Fragen also auch nicht deshalb unzulässig, weil die Antragstellerin die Übernahme ihrer Ausführungen zu den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen in das Ermessen des Gerichts gestellt hat.
III.
Rz. 11
Die angefochtene Entscheidung war daher in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben und zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Aufgrund des dem Beschwerdegericht von der Antragstellerin ausdrücklich eingeräumten Ermessens hinsichtlich der Beifügung von Erläuterungen für den Sachverständigen kommt eine Entscheidung des Senats in der Sache selbst gem. § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO nicht in Betracht.
Fundstellen
NJW-RR 2020, 1005 |
JZ 2020, 603 |
MDR 2020, 1122 |
VersR 2020, 1396 |