Verfahrensgang
LG Berlin I (Entscheidung vom 07.06.2024; Aktenzeichen 516 KLs 2/24) |
Tenor
Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Berlin I vom 7. Juni 2024 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat weitgehend Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 2
1. Das Landgericht hat insbesondere ausgeführt:
Rz. 3
a) Der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 54 Jahre alte, seit dem Kindesalter in Deutschland wohnhafte und bislang nicht vorbestrafte Beschuldigte leidet seit etwa seinem 20. Lebensjahr an einer paranoiden Schizophrenie. Seit dem Ausbruch der Krankheit befand er sich vielfach in stationärer psychiatrischer Behandlung, wobei er sich in Krisensituationen oft freiwillig ins Krankenhaus begab, mitunter aber auch aufgrund der Annahme von Fremd- und Eigengefährdung betreuungsrechtlich untergebracht wurde. Häufig brach er stationäre Behandlungen aber bereits nach wenigen Tagen gegen ärztlichen Rat wieder ab; insbesondere war er regelmäßig nicht mit der Einnahme von Medikamenten einverstanden und setzte diese eigenmächtig ab. Ab 2021 wurde mehrfach eine Zwangsmedikation gerichtlich genehmigt, ohne dass hierdurch ein durchschlagender Behandlungserfolg erreicht werden konnte. Seit der Trennung von seiner Ehefrau im Jahr 2009 war der Beschuldigte obdachlos und lebte, soweit er sich nicht in stationärer Behandlung befand, phasenweise in Unterkünften oder bei seinem Bruder.
Rz. 4
Am 15. September 2023 griff der Beschuldigte seinen Bruder, der ihn in seiner Wohnung aufgenommen hatte, unvermittelt von hinten an, brachte ihn zu Boden und drückte diesem sodann jeweils mit zwei Fingern nacheinander kräftig über und unter beide Augen, so dass der Geschädigte, bevor er sich befreien und aus der Wohnung fliehen konnte, blutende Hautverletzungen an den Ober- und Unterlidern der Augen erlitt und zwei Tage lang nur verschwommen sehen konnte. Dem Beschuldigten kam es darauf an, seinen Bruder zu verletzen, jedoch konnte die Strafkammer nicht feststellen, dass er aber erkannte oder gar wollte, dass dieser durch die Handlung sein Augenlicht verlieren könnte.
Rz. 5
b) Seine Feststellungen zur psychiatrischen Erkrankung des Beschuldigten und deren Auswirkungen hat die Strafkammer auf die Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen gestützt, wonach der Beschuldigte sich zur Tatzeit im Zustand einer akuten psychotischen Exazerbation seiner Grunderkrankung mit Wahn und Bedrohungserleben befunden habe. Er habe die Wahrnehmung entwickelt, dass unter anderem sein Bruder ihm feindlich gesonnen sei. Der gewalttätige Übergriff sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ im Rahmen einer psychotischen Verkennung der Situation bei sicher aufgehobener Einsichtsfähigkeit als Reaktion auf eine so wahrgenommene Bedrohung erfolgt.
Rz. 6
c) Das Landgericht ist im Rahmen seiner Gefährlichkeitsprognose davon ausgegangen, dass der Beschuldigte über keine ausreichende Krankheitseinsicht und keine hinreichend gefestigte Bereitschaft verfüge, regelmäßig Medikamente einzunehmen. Von ihm seien in diesem Zustand mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades der Anlasstat vergleichbare Gewalt- und Aggressionsdelikte zu erwarten, da er krankheitsbedingt den infolge seines paranoid-wahnhaften Erlebens auftretenden Impuls, zur - aus seiner Sicht - Gegenwehr zu schreiten, „nicht ausreichend steuern“ könne.
Rz. 7
2. Die Unterbringungsentscheidung hält rechtlicher Prüfung nicht stand, weil ihre gesetzlichen Voraussetzungen im Urteil unzureichend belegt sind. Insoweit gilt:
Rz. 8
Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat schuldunfähig oder erheblich vermindert schuldfähig war, und die Tatbegehung hierauf beruht. Dabei muss es sich um einen länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekt handeln, der zumindest eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet. Das Tatgericht hat die der Unterbringungsanordnung zugrunde liegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen. Schließt sich das Gericht bei Beurteilung der Schuldfähigkeit - wie hier - den Ausführungen des Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist. Die Urteilsgründe müssen zudem die notwendige Differenzierung zwischen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit und eine eindeutige Bewertung des psychischen Zustands des Beschuldigten erkennen lassen. Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose hat auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu erfolgen. Als prognoseungünstig herangezogene tatsächliche Umstände aus dem Vorleben des Täters müssen dabei rechtsfehlerfrei festgestellt und belegt sein (vgl. nur BGH, Urteil vom 1. März 2023 - 5 StR 500/22, NStZ-RR 2023, 150; Beschluss vom 11. Mai 2022 - 5 StR 125/22, StV 2023, 217).
Rz. 9
a) Schon die Prüfung der verminderten Schuldfähigkeit des Beschuldigten begegnet rechtlichen Bedenken.
Rz. 10
So hat das Landgericht zwar das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB bejaht, sich dabei aber darauf gestützt, dass der gewalttätige Übergriff des Beschuldigten „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ im Rahmen einer psychotischen Verkennung der Situation geschehen sei. Dies lässt offen, ob sich das Landgericht insoweit eine sichere Überzeugung verschafft hat.
Rz. 11
Nachdem das Landgericht einerseits von einer sicher aufgehobenen Einsichtsfähigkeit ausgegangen ist, andererseits im Rahmen seiner Gefahrenprognose von paranoid-wahnhaft bedingten Impulsen ausgegangen ist, welche der Beschuldigte „nicht ausreichend steuern“ könne, erscheint zudem fraglich, ob in der gebotenen Weise zwischen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit differenziert wurde. Nachdem die Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 20 StGB an eine vorhandene Unrechtseinsicht anknüpft, kann sie grundsätzlich erst geprüft werden, wenn der Täter in der konkreten Tatsituation einsichtsfähig war (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 11. Mai 2022 - 5 StR 125/22, StV 2023, 217; vom 19. September 2023 - 3 StR 229/23, StV 2024, 234).
Rz. 12
b) Jedenfalls hat die Strafkammer ihre Gefährlichkeitsprognose auf eine unvollständige Gesamtwürdigung gestützt. Denn sie hat nicht erkennbar in den Blick genommen, dass es trotz eines offenbar gravierenden Krankheitsverlaufs bislang zu keiner strafrechtlichen Verurteilung gekommen ist, obwohl der Beschuldigte seit über drei Jahrzehnten an einer paranoiden Schizophrenie leidet. Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehenden Defekts über einen längeren Zeitraum hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, ist jedoch ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20, StV 2021, 245; vom 19. September 2023 - 3 StR 229/23, StV 2024, 234). Gewicht kommt dem vorliegend auch insofern zu, als die Feststellungen nicht erkennen lassen, dass in den Lebensverhältnissen des Beschuldigten zum Zeitpunkt der Anlasstat Veränderungen gegenüber früheren Jahrzehnten aufgetreten wären (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 2020 - 4 StR 12/20 mwN).
Rz. 13
Dies war hier auch nicht deshalb entbehrlich, weil das Landgericht in den Urteilsgründen aggressive Verhaltensweisen des Beschuldigten in der Vergangenheit bei der Schilderung der Krankheitsgeschichte erwähnt hat. Denn insoweit erschöpfen sich diese Ausführungen in allgemeinen Schilderungen, die vage bleiben und zudem nicht beweiswürdigend unterlegt sind. Konkrete tatsächliche Feststellungen zu diesen Geschehen hat das Landgericht nicht getroffen (vgl. zu einem solchen Versäumnis schon BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20, StV 2021, 245) und dies dementsprechend in die Gefährlichkeitsprognose nicht eingestellt (zur Bedeutung von Vortaten für die Gefährlichkeitsprognose vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 26. Mai 2020 - 2 StR 54/20; vom 7. Mai 2024 - 4 StR 82/24, NStZ-RR 2024, 319).
Rz. 14
3. Die Anordnung der Maßregel kann daher nicht bestehen bleiben. Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.
Cirener Mosbacher Köhler
von Häfen Werner
Fundstellen
Dokument-Index HI16683727 |